23. Kapitel

Zu Hause

Nate kehrte mit Sandy, Lilli und Richie in sein Haus auf dem Queen-Anne-Hügel zurück. Seltsamerweise waren die Fluten der Elliot Bay kurz vor der Veranda zum Stillstand gekommen, ehe sie wieder zurückgeflossen waren. Unterhalb des Hügels war die gesamte Nachbarschaft überschwemmt worden, und zurückgeblieben waren nur die Betonfundamente und nackten Balkenwerke der Familienhäuser entlang der menschenleeren Straßen. Das alte Fachwerkhaus aber stand unbeschädigt auf der Hügelspitze neben Mr. Neebors Grundstück.

Als die vier die Straße hinauftrotteten, trat Neebor hinter seiner Gummireifenwand hervor und blieb wie immer an der Grenzlinie zwischen den beiden Grundstücken stehen, um nicht in die kniehohen Dornenbüsche in Nates Garten hineinzulaufen.

»Wie ich sehe, kehrt ihr zu Fuß zurück. Ich nehme an, es bedeutet, dass mein Abschleppwagen im Eimer ist?«

»Tut uns leid, Mr. Neebor«, sagte Nate.

Neebor winkte ab. »Ach, halb so schlimm. Die halbe Stadt ist im Eimer. Außerdem wäre der Wagen wegen des vielen Salzwassers, das überall gestanden hat, sowieso schnell verrostet.« Neebor hielt inne und betrachtete seine jungen Nachbarn von Kopf bis Fuß – sie waren pitschnass, zerzaust und völlig erschöpft. Richies Arm steckte in einer Schlinge. Neebor kratzte sich am kahlen Kopf. »Ist alles in Ordnung mit euch?«

»Wir sind am Leben«, sagte Richie.

Neebor nickte. »Ich nehme an, mehr kann man an einem Tag wie diesem nicht verlangen. Ein seltsamer, seltsamer Tag.«

Alle wandten sich um und blickten auf die Stadt hinab.

Noch immer floss Wasser durch die Straßen, und mindestens zwei Wolkenkratzer waren eingestürzt. An der Küste fuhren Dutzende von Booten hin und her, halfen bei den Rettungsaktionen. Das ununterbrochene Sirenengeheul klang wie ein Klagelied für die Toten. Auf der anderen Seite des Stadtzentrums konnte Nate das Glitzern der Sonne auf dem neuen See erkennen.

»Nicht zu glauben«, sagte Neebor. »Ein neuer See mitten in der Stadt. Seit seiner Entstehung muss die neue Bürgermeisterin ständig Interviews dazu geben.«

»Was?«, sagte Sandy und hob die Brauen. »Es gibt eine neue Bürgermeisterin?«

»Ja. Douglas musste zurücktreten. Anscheinend hat er eine Gruppe von Kindern für sich arbeiten lassen. Es hat niemanden gekümmert, solange sie nur bei den Aufräumarbeiten halfen. Aber die stellvertretende Bürgermeisterin hat der Presse verraten, dass Douglas die Kinder ins Safeco-Field-Stadion geschickt hat, wo die Überschwemmungen besonders schlimm waren, und seither hat man von den Kindern nichts mehr gehört.«

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»Eigenartig!«, sagte Nate.

»Ja. Sehr eigenartig«, sagte Neebor.

Lilli seufzte. »Celia Strange hat die Stadt übernommen.«

Richie verzog das Gesicht.

»Sie ist eine Lügnerin«, sagte Nate angewidert. »Douglas hat uns nicht …«

Lilli deutete mit einem Kopfnicken auf Neebor, um Nate daran zu erinnern, dass der alte Mann noch vor ihnen stand. Nate lächelte seinen Nachbarn schnell an.

»Danke für Ihre Hilfe während dieser Krise«, sagte Nate. »Wir wissen es wirklich zu schätzen.« Nate zögerte. Er und seine Freunde waren mit seinem Nachbarn nicht immer gut ausgekommen, aber trotz seiner brummigen Art schien er sie zu mögen. »Sie sind ein guter Mann«, fügte er hinzu.

Anscheinend wusste Neebor nicht, was er darauf entgegnen sollte, und wurde rot. Schließlich hob er einfach die Hand und salutierte vor ihnen. »Hört mal, ich muss los. Ich habe Teewasser aufgesetzt und will nicht, dass es überkocht.« Damit wandte der alte Mann sich um und verschwand hinter seiner Gummireifenbarrikade.

Pernikus kratzte mit einem Stock etwas Möwenkacke vom Boden und wollte sie Neebor hinterherwerfen, aber Nate drückte ihm die grüne Hand nach unten, um ihn davon abzuhalten, ihren Nachbarn zu ärgern.

Als Neebor verschwunden war, wandte sich Nate zu den anderen um. »Wir stecken in Schwierigkeiten.«

»Wie meinst du das?«, fragte Richie.

Nate legte seinem Lehrling eine Hand auf die Schulter. »Dies ist der Teil, wo man uns mit Mistgabeln aus der Stadt jagen könnte«, sagte er. »Wir können die neue Bürgermeisterin als Lügnerin bloßstellen. Deshalb könnte sie uns ans Leder wollen.«

»Aber wir haben doch die Stadt gerettet«, entgegnete Richie. »Und die fünf Arbeiter auch.«

Sandy schüttelte den Kopf. »Wir haben sie liegen lassen, als wir sahen, dass Hilfe kommt, und die Arbeiter waren gerade erst dabei aufzuwachen. Keiner kann bezeugen, dass wir sie gerettet haben.«

»Außerdem«, fügte Nate hinzu, »schau dir mal die Zerstörungen dort unten an. Die Stadt sieht nicht so aus, als hätte sie jemand gerettet. Celia Strange hat uns eingeschärft, in der Stadt keine Schäden anzurichten, aber indem ich Kail freiließ, damit er gegen den Plansch kämpft, habe ich das ganze Industriegebiet in einen Swimmingpool verwandelt.«

»Es war aber nicht deine Schuld«, sagte Lilli.

»Das spielt keine Rolle. Falls wir die Wahrheit erzählen, würde man uns als Spinner bezeichnen oder uns die Schuld an allem geben«, sagte Nate. »So ist es in der langen Geschichte der Dämonenhüter immer gewesen.«

»Celia Strange kennt nur unsere Vornamen«, sagte Sandy. »Und sie weiß nicht, wo wir wohnen.«

»Was sollen wir also tun?«, fragte Richie.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Nate. »Vielleicht Seattle verlassen. »Ich weiß sowieso nicht, ob ich noch in dem leeren Haus wohnen möchte, das ich eigenhändig zerstört habe.«

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Nate stieg die Veranda hoch. In der Erwartung, das Haus als Trümmerfeld vorzufinden, öffnete er die behelfsmäßige Tür und ging hinein. Richie, Lilli und Sandy folgten ihm. Nik und Pernikus flitzten ihnen hinterher.

Als Nate die Eingangshalle betrat, blieb er wie angewurzelt stehen und traute seinen Augen nicht.

Die Wände waren frisch verspachtelt und strahlten hellblau. Das reparierte Treppengeländer leuchtete in einem dunklen Rotton, der zum oberen Treppenabsatz hin in Rosa überging. Die Decke glich einen Nachthimmel, der so echt aussah, dass Nate zuerst glaubte, das Dach sei verschwunden. An einer Wand hing ein riesiges Gemälde mit fremdartigen Geschöpfen, das aussah wie ein Zimmer voller Dämonen. Und ein großes, vom Dämonenfresser in die Wand geschlagenes Loch wirkte, als würde sich ein Babydrache hindurchzwängen, als wäre das dunkle Loch eine beim Schlüpfen aufgeplatzte Eierschale.

»Das habt alles ihr gemacht?«

»Klar«, sagte Richie. »Nun, das meiste waren Lilli und Zoot, aber Sandy und ich haben geholfen.«

Nikolai bewunderte die Farben, dann schaute er traurig an seinem verbrannten Fell hinab. Sein blauer Schimmer war verschwunden, die dichte Behaarung zu fransigen, versengten Büscheln reduziert. Er sah aus wie ein zotteliger schwarzer Teddybär, ganz und gar nicht dämonisch.

Lilli betrachtete den kleinen Muskelprotz. Sie machte eine Handbewegung, und Zoot sprang von ihrer Schulter. Nik musterte den kugelrunden Hilfsdämon argwöhnisch. Nach einem ganzen Tag voller böser Überraschungen war er nicht in Stimmung für irgendwelchen Klamauk, und als Zoot seinen Dreizack auf Niks breite Brust richtete, wäre Nik ihm fast an die Gurgel gegangen. Aber sobald der Dreizack sein Fell berührte, fluteten bunte Farben über ihn hinweg. Nik stand reglos da, und Zoot malte ihn an, schwenkte den Dreizack von einer Seite zur anderen. Am Ende schimmerte Niks ramponiertes Fell in einem Dutzend Blautönen, die wie gebatikt ineinander übergingen. Er stapfte zum zersprungenen Wandspiegel, der noch am Eingang hing. Das poppige Muster war nicht sein Stil, aber er nickte zufrieden – es war besser als das rußige Schwarz, und er sah nicht mehr aus wie ein ausgestopftes Kinderspielzeug.

Nate schlenderte durchs Haus, bewunderte eine Malerei nach der anderen; hinter jeder Ecke erwartete ihn eine neue Überraschung. Es gab Darstellungen von Lillis Bus und vom Fremont Troll, darüber hinaus zierten die kunstvollsten der Graffiti aus Belltown die Wände. Das Haus war genauso farbenprächtig und lebendig wie in der Zeit vor der Freilassung der Dämonen. Im Speisezimmer bedeckte ein Abbild des verblichenen Klauenfußtisches eine ganze Wand, so dass es aussah, als grenze dort ein Zimmer an.

Und als er ins Arbeitszimmer ging, spürte Nate, wie ihm eine einzelne Träne ins Auge trat.

Dutzende von Dämonen wuselten auf einem mit angeklebten Kaugummis übersäten Bibliothekstisch herum. Es gab zappelige Stühle mit Wasserschaden, drei Lampen, die sich nervös in einer Ecke drängten, eine kleine Gruppe rissiger, mit Pflastern bedeckter Gartenzwerge, die vorsichtig ihre Verletzungen betasteten, vertriebene Quietscher und Seufzer, den verlorenen Geruch des Dachbodens und vieles mehr. Selbst die beiden Masken standen in der Ecke.

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»Hey, guck mal, wer da kommt«, rief die Eisenmaske.

Die Holzmaske verzog das Gesicht. »Nate, ich muss darauf bestehen, dass du uns diesmal in verschiedenen Stockwerken aufhängst. Jetzt ist ja genug Platz.«

Nate wunderte sich über die Vielzahl der Dämonen, die seine Gefährten in seiner Abwesenheit eingefangen hatten.

»So viele sind es gar nicht«, sagte Lilli. »Aber es ist ein Anfang.«

»Und wir sind froh, dass du nicht tot bist«, fügte Richie hinzu und klopfte Nate auf den Rücken.

Nate wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich nickte er. »Ich auch.«

»Willkommen zu Hause, Mann.«

Der Rest der Bande wartete auf seine Reaktion.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Sandy.

»Müde«, sagte Nate. Er konnte nicht verhindern, dass ein Grinsen über seine erschöpften Züge huschte. »Aber ich schätze, in ein paar Tagen werde ich wieder damit beginnen, Dämonen zu fangen.«

Seine drei Freunde stießen einen Jubelschrei aus. Und obwohl die Dämonen nicht wussten, worüber die Menschen sich freuten, begannen sie wild herumzuspringen, Unsinn zu brabbeln und eklige Gerüche zu produzieren.

Nate verließ das chaotische Treiben im Erdgeschoss und ging nach oben in sein Zimmer, das er kunterbunt angemalt vorfand; die Farben sahen chaotisch aus und gleichzeitig perfekt durchdacht. Er zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett.

Nachdem er halb Seattle zerstört, den Zorn des Ozeans überlebt und die Stadt dann doch noch vor dem Untergang bewahrt hatte, war er in der Tat erschöpft. In Südseattle gab es einen neuen, drei Kilometer langen und zweihundert Meter breiten See, von dem niemand wusste, wie tief er war. Der Plansch saß in der Falle, und er selbst konnte sich endlich ausruhen. Nate schaute auf ein Foto von sich und seinen Eltern, lächelte und schloss die Augen.

Das grüne Kissen auf dem Bett zuckte und blähte sich auf, als Pernikus seine normale Koboldgestalt annahm. Auf der anderen Seite des Betts hüpfte Nik auf den Nachttisch, schwankte ein wenig und ließ sich dann neben ihnen auf die Matratze fallen. Eine sanfte Brise wehte ins Schlafzimmer und kreiste mit einem beruhigenden Summen unter der Decke.

Nate öffnete nicht die Augen, sondern drehte sich einfach um, legte einen Arm über seinen giftgrünen Hauskobold und den anderen über seinen pelzigen blauen Gehilfen und spürte die kühle Brise von Flappys Flügelschlägen im Gesicht; kurz darauf schlief er ein.

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