15. Kapitel
Im Büro des Bürgermeisters
Lilli, Richie und Sandy saßen in dem großen dekorierten Warteraum vor dem Büro des Bürgermeisters von Seattle. In den flauschigen Teppich unter ihren Füßen war das Stadtwappen eingewoben. Es bereitete Lilli ein derartiges Unbehagen, ihre schmutzigen Schuhe auf den teuren Teppich zu stellen, dass sie die Beine hob und sich lieber im Schneidersitz auf den Stuhl setzte. Richie, dem derartige Skrupel unbekannt waren, drehte mit dem Fuß einen Globus auf dem Beistelltisch, während Sandy kerzengerade dasaß, die Knie zusammengepresst, auf dem Schoß das Dämonenhüter-Kompendium.
Um sie herum eilte das Sicherheitspersonal hin und her, und aufgeregte Regierungsangestellte liefen vorbei und sprachen über die unfassbaren Vorfälle in der Stadt.
»Flappy ist eindeutig ein Elementardämon«, sagte Sandy und blätterte durch das Kompendium. »Einer der machtvollsten seiner Art. Die vier Elemente – Feuer, Wasser, Luft und Erde – liegen seit Ewigkeiten im Streit.«
»Im Streit?«, schnaubte Richie. »Mann, Flappy und der Wasserdämon haben sich gehasst.« Er hörte auf, mit dem Turnschuh den Globus zu drehen. »Wasser löscht Feuer, Feuer versengt die Erde, Erde blockiert den Wind, und der Wind peitscht das Wasser auf. Es ist wie Dämonen-Tsching-Tschang-Tschong. «
»Sind das alle Elemente?«, fragte Lilli. »Erde, Feuer, Wasser und Wind?«
»Eigentlich ist es Luft, nicht Wind«, erklärte Sandy.
»Wie auch immer«, entgegnete Lilli. »Sind das alle?«
»Nun, das sind die großen traditionellen Elemente. Ich nehme an, es könnte noch andere Manifestationen von Naturgewalten geben, zum Beispiel…«
Eine wichtig aussehende Frau im gebügelten Kostüm platzte in den Raum. »Bürgermeister Douglas ist gleich für euch da«, blaffte sie. »Aber zuerst möchte ich noch kurz mit euch reden.«
»Wer sind Sie?«, fragte Lilli argwöhnisch.
»Ich bin die Stellvertreterin des Bürgermeisters.«
»Die Stellvertreterin?«, sagte Richie abfällig.
Die Frau musterte ihn finster.
Richie verdrehte die Augen. »Sie haben doch nur was zu melden, falls der Bürgermeister den Löffel abgibt, oder?«
»Richie!«, japste Sandy und blickte entschuldigend zur stellvertretenden Bürgermeisterin auf. »Sehen Sie es ihm nach. Er ist in der achten Klasse von der Schule geflogen.«

»Kein Problem«, sagte die Frau mit zusammengekniffenen Lippen. Sie strich über ihren ohnehin glatten Rock. »Ich möchte euch nur bitten, die vielen Sicherheitsleute zu entschuldigen, die wegen der Krise hier herumlaufen. Und dass ihr es dem Bürgermeister nachseht, dass er in der gegenwärtigen Lage ein paar Kinder herzitiert – obwohl es so viele drängendere Angelegenheiten gibt, um die er sich kümmern muss. Und dass ich euch im Namen von uns allen willkommen heiße.«
Lilli verspürte sofort eine Abneigung gegen die Frau.
»Und es ist wichtig, dass ihr nicht zu viel in das hineininterpretiert, was der Bürgermeister euch gleich erzählen wird«, fuhr sie fort. »Viele seiner Bemerkungen sind figurativ gemeint, nicht wörtlich. Wisst ihr, was das Wort bedeutet?«
Sandy nickte beflissen.
»Hmm«, machte Lilli leise.
»Ja, hmm«, pflichtete Richie ihr bei. »Nun, äh, was heißt figuradingsda noch mal?«
»Ja, vielen Dank. Wir verstehen, was Sie meinen«, erklärte Sandy und erhob sich höflich, während Lilli und Richie sitzen blieben. »Und darf ich Ihnen sagen, dass es uns eine Ehre ist, hier sein zu dürfen?«
»Ja, du darfst«, murmelte Lilli.
»Als hätten wir eine Wahl gehabt«, sagte Richie leise. »Die Sturmtruppen haben uns ja praktisch in die Stadt zurückgeschleppt. «
Lilli flüsterte ihm ins Ohr: »Du traust der Tussi auch nicht?«
»Nee«, antwortete er.
Die stellvertretende Bürgermeisterin, deren Name, wie sie erfuhren, Celia Strange war, warf ihnen einen scharfen Blick zu. »Ich werde bei dem Gespräch dabei sein, um sicherzustellen, dass ihr nichts falsch versteht.« Dann huschte sie davon.
Sandy konnte nicht anders, sie verneigte sich.
»Oh Gott, Sandy, kam dir die Frau nicht total falsch vor?«, fragte Lilli.
»Falsch? Es ist doch aufregend, hier zu sein. Wir lernen den Bürgermeister kennen!«
Lilli schüttelte den Kopf. »Aber hast du sie nicht gehört, sie kommt mit rein und fungiert als eine Art Babysitter .«
»Vielleicht kriegen wir ja eine Belohnung, weil wir die Fähre gerettet haben«, sagte Richie mit sich aufhellender Miene.
»Kein Wort über das, was wirklich geschehen ist«, warnte Lilli. »Kein einziges Wort.«
Sandy stöhnte auf. »Wir sprechen hier vom Bürgermeister. Wir sollten alle Fragen, die er uns stellt, wahrheitsgemäß beantworten.«
»Ja, genau«, sagte Lilli. »Ich sehe uns schon, wie wir ihm erzählen, dass ein kleiner geflügelter Dämon aus einer Art Zauberwürfel rausgeflogen ist und die leibhaftigen Wasserhände eines anderen Dämons zerschreddert hat, der die Fähre auf den Meeresgrund hinabzerren wollte.«
»Okay«, sagte Sandy. »Die Details können wir ja weglassen. Solange wir ehrlich sind.«
»Ich finde es komisch, im Zusammenhang mit einem Politiker das Wort ›ehrlich‹ zu verwenden«, erwiderte Lilli. »Und was soll das Gerede von ›wir‹? Du warst doch gar nicht dabei.«
Sandy zuckte zusammen und verstummte.

Lilli hatte ein schlechtes Gewissen, sobald sie es gesagt hatte. Die kluge, bebrillte Assistenzbibliothekarin war kein Dämonenhüter. Sie wohnte nicht in dem alten Haus. Sie konnte die Dämonen nicht sehen, solange sie sich nicht freiwillig zeigten. Ihr Freund hatte sie sitzenlassen, um aufs Meer zu fahren. Lilli übernahm nun sogar Sandys Rolle als Richies große Schwester. Sie machte Sandy praktisch an allen Fronten überflüssig, und das hatte sie ihr soeben jäh in Erinnerung gerufen. Das war nicht nett.
Plötzlich kehrte Celia Strange zurück, öffnete wortlos die Tür zum Bürgermeisterbüro und bedeutete ihnen hineinzugehen. Der Bürgermeister saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem riesigen Schreibtisch, wie ein frecher Siebtklässler, dessen Lehrerin gerade das Klassenzimmer verlassen hatte.
»Hallo, Celia«, sagte er lächelnd.
»Sir, das sind die Kinder von der Fähre. Und der Polizeichef kommt auch gleich. Ich habe am Empfang Bescheid gegeben, ihn hereinzuschicken, sobald er eintrifft.«
»Wenn der Polizeichef kommt, dann lassen Sie ihn ruhig warten. Diesen Kindern gilt jetzt meine Priorität. Und würden Sie bitte auch draußen warten, Celia.«
»Ich habe nichts dagegen, mich dazuzusetzen«, sagte die Frau.
»Ich weiß«, erwiderte der Bürgermeister. »Aber es gibt genügend Notfälle, die Ihrer Aufmerksamkeit bedürfen.«
»Ich bleibe aber gerne hier«, entgegnete Celia.
»Das weiß ich zu schätzen«, sagte der Bürgermeister. »Aber ich kann mich auch ohne Ihre Aufsicht mit den Kindern unterhalten.«
Celia runzelte die Stirn. »Na gut, ich warte draußen«, sagte sie zähneknirschend und marschierte hinaus.
Lilli blickte ihr nach und fragte sich, ob Celia an der Tür lauschen würde.
»So, das wäre erledigt«, sagte der Bürgermeister.
»Ja, endlich«, brummte Richie.
Bürgermeister Douglas rutschte vom Schreibtisch. »Schön, lasst uns zur Sache kommen«, sagte er. »Zunächst einmal möchte ich euch beglückwünschen und euch meinen Dank aussprechen.« Plötzlich machte er einen Satz nach vorn und schüttelte jedem von ihnen die Hand. »Für eure Heldentat auf der Fähre werdet ihr morgen im Blog über die Rettungsaktivitäten in Seattle an oberster Stelle stehen. Kinder retten Kinder. Sehr heroisch.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Sandy.
»Sie war aber gar nicht dabei«, bemerkte Richie.
»Ich meine, ich danke Ihnen im Namen der beiden«, verbesserte sich Sandy.
»Dann habt also ihr beiden mit eurer schnellen Auffassungsgabe, eurer Tatkraft und, wie es scheint, mit einer guten Portion Glück das Leben vieler Menschen gerettet. Die Leute sagen, es sei Zauberei gewesen.«
Sandy trat vor. »Die Ereignisse auf der Fähre lassen sich mit den Naturgesetzen und einer simplen Untersuchung der Wellenaktivität am Bug erklären…«
»Du musst ihre Freundin Sandy sein, richtig?«
»Freundin und Beraterin.«
»Wie ich höre, arbeitest du in der Stadtbibliothek. Mir wurde berichtet, deine Magnetkarte wäre benutzt worden, als die Zerstörung unserer wertvollen Büchersammlung gestoppt wurde. Und der Abschleppwagen, in dem du herumgefahren bist, wurde gesehen, als in Belltown eine geheimnisvolle Graffiti-Reinigungsaktion im Gange war.«

Sandy errötete und nickte. »Ich hatte ein bisschen Hilfe.« Sie deutete auf Lilli und Richie.
»Ein bisschen?«, warf Richie ein. »Wir haben deinen Hintern gerettet, Süße.«
»Und ich musste Tausende von Würmern über mich hinwegkrabbeln lassen wegen deiner blöden Bücher«, grummelte Lilli.
Der Bürgermeister kicherte.
»Verzeihen Sie ihnen«, sagte Sandy schnell. »Die beiden haben nicht viel Taktgefühl und keinerlei Erfahrung im Umgang mit politischen Offiziellen.«
»Oder politischem Unsinn«, sagte Lilli.
»Was sie meint, ist…«, warf Sandy ein.
»Was ich meine, ist, wir trauen der Regierung nicht«, blaffte Lilli.
»Ganz genau«, fügte Richie hinzu. »Ist nicht böse gemeint. «
Sandy wand sich innerlich, aber der Bürgermeister machte das Friedenszeichen.
»Ich verstehe euch«, sagte er. »Als ich in eurem Alter war, habe ich der Regierung auch nicht über den Weg getraut. Ich habe an Protestmärschen teilgenommen und Petitionen unterschrieben. Aber dann wurde ich in ein Komitee berufen. Kurz darauf wurde ich in ein Amt gewählt, und eines Tages bin ich aufgewacht, und mir wurde klar, dass ich nun Teil der Regierung bin.« Er schüttelte den Kopf. »Aber genug von mir. Ich nehme an, ihr möchtet einfach nicht, dass ein Politiker eure bemerkenswerte Rettungsaktion missbraucht, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Ihr habt es getan, weil es das Richtige war, und niemand soll davon profitieren, weder in den Medien noch anderswo. Habe ich recht?«
Lilli nickte beeindruckt – es war, als würde er ihre Gedanken lesen.
»Perfekt.« Der Bürgermeister lächelte. »Dann hört mir bitte einfach zu. Abgemacht?«
»Abgemacht«, sagte Lilli.
Richie nickte. »Klar doch.«
»Jawohl, Sir«, sagte Sandy.
»Und lassen wir bitte die Formalitäten. Ihr könnt mich Bürgermeister Doug nennen.«
Er bedeutete ihnen, auf dem großen weichen Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich zu ihnen statt an seinen Schreibtisch. «
»Ich glaube, ihr wisst genau, was in unserer Stadt wirklich los ist«, sagte er leise und sah plötzlich sehr ernst aus.
Die drei blickten sich betreten an. Lilli fragte sich, ob er ihnen irgendwie auf die Schliche gekommen war und von den Dämonen wusste.
»Ich kann alles erklären«, erbot sich Sandy.
»Nein!«, rief Lilli und trat Sandy ans Schienbein.
»Aua!«
»Ihr müsst mir nichts verraten«, sagte Bürgermeister Doug. »Ich bin nicht blind. Ich weiß, dass hinter dem Stromausfall, hinter den unerklärlichen Phänomenen und all den gleichzeitigen Katastrophen mehr steckt als das Offensichtliche. Es ist irgendetwas Fundamentales. Die Ordnung bricht zusammen. Die Menschen haben Angst.« Er stand auf und deutete aus dem Fenster. »Die Menschen brauchen Helden.«

»Helden?«, wiederholte Lilli.
»Helden?«, echote Sandy.
Richie grinste. »Wie Batman?«
»Richie, sei still!«, schimpfte Sandy. »Du sprichst mit dem BÜRGERMEISTER. Erzähl nicht so einen Unsinn.«
»Du hast völlig recht, Richie«, sagte Bürgermeister Doug.
»Wie bitte?«, japste Sandy.
»Wir brauchen Taten. Keinen Erlass oder ein neues Gesetz. Ja, was wir brauchen, sind Superkids, die Supertaten vollbringen.«
»Jippiii!«, rief Richie, dann beugte er sich zu Sandy hinüber und flüsterte: »Da hast du’s, Brillenschlange. Spar dir deine Predigt.«
»Die Menschen brauchen Stabilität«, sagte Bürgermeister Doug. »Sie müssen glauben, dass jemand die Ordnung aufrechterhält. Und die Regierung braucht im Moment jede erdenkliche Hilfe, um dies zu tun. An der Stelle kommt ihr ins Spiel. Ich weiß nicht, wie ihr das Heldenstück vollbracht habt, das mehrere Zeugen auf der Fähre beobachtet haben, aber es belegt den Willen der Bürger, die Probleme selbst anzupacken. Falls ihr eure Arbeit also noch eine Weile fortführen könntet…« Er nickte den dreien zu, als erwartete er, dass sie den Satz für ihn zu Ende sprechen würden.
Lilli ergriff das Wort. »Verstehe ich Sie richtig? Sie möchten, dass wir durch die Stadt ziehen und uns in Lebensgefahr begeben, um all die Notfälle zu entschärfen?« Sie redete ein bisschen zu laut.
Bürgermeister Doug wandte sich besorgt um und sprach direkt in Richtung Tür. »Oh, nein. Natürlich nicht«, verkündete er mit lauter Stimme. »Das wäre unangemessen und verantwortungslos. Die Stadtregierung würde so etwas nie gutheißen.« Dann wandte er sich wieder zu den dreien um und flüsterte so leise, dass ihn draußen niemand hören konnte: »Die Wähler verlieren ihr Vertrauen in meine Führungskraft. Könntet ihr mir vielleicht ein bisschen zur Hand gehen?«
