12. Kapitel
Bücherwürmer
Sandy war so erschüttert, dass ihr das Buch aus den Händen fiel.
»Was ist los?«, rief Richie.
Lilli kam herbeigeeilt. »Alles in Ordnung mit dir?«
Die entsetzte Assistenzbibliothekarin deutete auf das Buch am Boden. Lilli ging darum herum, darauf bedacht, den gebundenen Einband nicht zu berühren. Sie stieß ihn mit dem Fuß an.
Richie verdrehte die Augen, schob Lilli beiseite und hob das Buch kurzerhand auf. Lilli zuckte zusammen, als er es aufschlug.
Genervt legte er den Kopf schräg. »Mann, da steht ja gar nix drin.«
»Das ist ja das Problem!«, entgegnete Sandy. »Es ist leer!«
Lilli zog das nächste Buch heraus. Es war ebenfalls leer. Das nächste auch.

»Also … das haben sie gemeint«, stammelte Sandy. »Irgendein Dämon lässt den Text von den Seiten verschwinden. « Sie hielt einen Moment inne, dachte nach, was das bedeutete. »Oh mein Gott! Die legendäre Seattle-Sammlung. Sie befindet sich im zehnten Stock. Dort entlang. Schnell!«
Sie stürmten die Rolltreppe hinauf, Sandy vorneweg. Sobald sie keuchend den neunten Stock erreichten, riss sie das erstbeste Buch aus dem Regal und klappte es auf. Es war unbeschädigt und vollständig bedruckt.
»Wörter!«, rief sie entzückt. »Herrliche schwarze Buchstaben und Satzzeichen. Gott, wie ich euch liebe!«
»Du bist ein echter Freak«, sagte Richie. »Das ist dir doch klar, oder?«
Sandy fuhr herum. »Was für ein Dämon es auch ist, er hat den zehnten Stock noch nicht erreicht. Anscheinend arbeitet er sich systematisch durch das Dewey-Dezimalsystem. Das bedeutet, er ist irgendwo zwischen hier und dem sechsten Stock. Ich gehe zurück und fange unten an, arbeite mich nach oben. Richie, du fängst hier oben an und prüfst auf dem Weg nach unten alle paar Meter die Bücher, damit wir die Stelle finden, wo die gelöschten Texte beginnen. «
Im nächsten Moment war Sandy verschwunden, stürmte die Rolltreppe noch schneller hinunter, als sie sie hinaufgerannt war.
Lilli und Richie sahen sich an. Er warf das Skateboard auf die Rampe. »Es geht abwärts?«, sagte er grinsend, rollte los und nahm Fahrt auf.
Lilli rannte ihm nach.
Richie schoss auf dem geliehenen Skateboard die spiralförmige Rampe hinunter. Im achten Stock stieß er alle paar Meter ein Buch vom Regal. Lilli fing es auf und prüfte die Seiten oder warf nur einen schnellen Blick darauf, wenn ein Buch schon aufgeklappt am Boden lag.
»Das ist in Ordnung!«, rief sie. »Das auch.« Sie vergewisserte sich, dass alle Bücher noch gedruckte Wörter auf den Seiten hatten. »Gut. Gut. Gut. In Ordnung. In Ordnung. In Ordnung.«
Lilli rannte, und Richie skatete, und bald hatten sie entlang der Rampe stichprobenartig zwei Stockwerke mit Büchern überprüft.
Sandy arbeitete sich von unten nach oben. Sie würden sich irgendwo in der Mitte treffen, dachte Lilli. Sie und Richie überprüften die Biografien, Atlanten und Genealogien und fanden nichts außer makellosen Büchern voller Wörter. Richie verlagerte das Gewicht und schoss um die Kurve ins Kunst-, Literatur- und Musikstockwerk. Plötzlich schloss Lilli zu ihm auf, packte ihn an der Schulter und riss ihn vom Skateboard herunter. Er kam taumelnd zum Stehen, während das fahrbare Holzbrett gegen die Wand prallte und mit den Rädern nach oben liegen blieb.
»Was soll das?«, schimpfte Richie. »Du hast mir eine perfekte Abfahrt versaut.«
»Hör mal«, entgegnete Lilli und deutete quer durch den Raum. Sie vernahm ein leises Knirschen, wie das Geräusch, wenn man auf Ameisen tritt. Es war kaum zu hören, und sie war sich sicher, dass kein normaler Mensch es würde hören können, aber sie vernahm es ganz deutlich.
»Ja, da ist was!«, sagte Richie. Er hörte es ebenfalls.
Das Knirschen erstarb, sobald seine Stimme erklang.

»Schhhhh.« Lilli legte einen Finger an die Lippen.
Sie flüsterte Richie zu, ihr zu folgen. Sie schlichen nun langsam zwischen den glänzenden Metallregalen hindurch, prüften im Vorübergehen die Bücher. Bisher keine leeren Seiten. Als sie den Raum halb durchquert hatten, erschien Sandy am anderen Ende der Rampe.
Lilli machte sich winkend bemerkbar, dann signalisierte sie Sandy, sie solle in der Musikabteilung weitermachen und dass sie selbst in der Literaturabteilung seien und sie in der Kunstabteilung treffen würden. Sandy war klug. Sie verstand, nickte und schlich zu den Regalen mit Musikbüchern. Das erste Buch, das sie herauszog, hatte leere Seiten. Sie hielt es hoch, damit die anderen es sahen. Lilli nickte ihr zu. Wer auch immer die Texte verschwinden ließ, er befand sich zwischen der Literatur- und der Musikabteilung.
»Der Dämon ist in der Kunstabteilung«, flüsterte Lilli Richie zu.
»Was für einer wird es wohl sein?«
»Keine Ahnung.«
»Wie lautet der Plan?«
»Hatten wir je einen Plan?«
»Du bist keine Hilfe«, sagte Richie.
Draußen schimmerte das rötliche Licht der untergehenden Sonne auf der Glas- und Stahlfassade der Bibliothek, während drinnen die abendlichen Schatten durch die einzelnen Gänge krochen und von der Fensterwand auf Lilli und Richie zuglitten. Plötzlich kam es ihnen ziemlich einsam vor ohne die Leser, die sich über ihre Bücher beugten, ohne die Studenten, die in ihre Laptops tippten, und ohne die anderen Gäste, die über den Rand ihres Romans hinweg vorbeigehende Leute beobachteten. Lilli spürte sogar die Abwesenheit der wachsamen Bibliothekare. Auch Richie schien mulmig zu werden.
»Das Licht schaltet sich bei Sonnenuntergang nicht automatisch ein?«, fragte er.
»Offenbar nicht«, sagte Lilli. »Die haben das Gebäude komplett abgeschaltet. Wir kriegen höchstens eine Notbeleuchtung. «
Sie hatten den Raum halb durchquert, und die Bücher, die sie und Richie überprüften, waren immer noch vollständig bedruckt. Sandy zog auf ihrer Seite weiterhin leere Bücher heraus, bis nur noch ein einziger Gang zwischen ihnen lag. Lilli und Richie erreichten ihn von der einen Seite, und am anderen Ende trat Sandy um die Ecke. Plötzlich setzte das leise Knirschgeräusch wieder ein. Mit Pantomimensprache übermittelte Lilli ihr die Frage: Hörst du das? Sandy lauschte, dann zuckte sie mit den Schultern.
»Sie hört es nicht«, flüsterte Lilli Richie zu.
»Ja, wir können den Dämon hören«, sagte Richie, »sie nicht. Glaub mir, falls es ein normales Bibliotheksgeräusch wäre, würde sie es hören… sie ist schließlich Bibliothekarin. Einmal hat sie sogar gehört, wie ein Gast einen Kaugummi unterm Tisch angeklebt hat. Das bedeutet, dieses Geräusch stammt von einem Dämon. Und dass es das Geräusch überhaupt gibt, bedeutet, er ist noch hier.«

»Wie auch immer, ich sehe kein Monster mit Reißzähnen«, sagte Lilli, während sie nach dem nächsten Buch griff, einem übergroßen Band mit dem Titel Comic-Zeichnen für jedes Alter. »Deshalb haben wir, glaube ich, nicht viel zu befürchten.« Als sie das Buch anhob, erstarb das knirschende Geräusch erneut. Sie schlug das Buch auf.
Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, aus dem Einband würde eine Flüssigkeit auslaufen und ihr über die Arme strömen. Aber das, was sie über ihre Arme fließen sah, war nicht nass. Es war… schleimig. Es war keine Flüssigkeit, sondern ein wallender Teppich aus …
»Würmer!«, brüllte Richie.
Tausende der kleinen, sich windenden Krabbler kamen als zusammenhängende Masse aus dem Buch herausgeschossen und stürzten sich auf Lilli, krochen ihr, angetrieben von den winzigen Beinchen an ihren Körperseiten, über Haut und Kleidung. Lilli schrie, während die ersten Würmer in ihren Ärmeln verschwanden und ihr über die Schultern krabbelten.
Zoot explodierte aus ihrem Blusenmuster und hieb mit seinem Dreizack auf die schleimigen Heerscharen ein.
Der Hauptklumpen der Würmer sprang von Lillis Schulter, landete auf Richies T-Shirt, verschwand in seiner Hose, krabbelte an seinem Bein hinunter und fiel aus dem Hosenbein zu Boden, während Richie einen wilden Affentanz aufführte, um die Dinger abzuschütteln.
Dann huschten die Würmer unter das Regal und waren verschwunden.
»Was ist da eben passiert?«, fragte Sandy, die gerade rechtzeitig eintraf, um nichts mehr mitzubekommen.
»Ich glaube, wir haben die Übeltäter gefunden«, sagte Richie und sah dann, dass Lilli noch immer wie erstarrt dastand und am ganzen Leib zitterte.
»Geht es dir gut?«, fragte Sandy.
Lilli starrte noch einen Moment lang ins Leere und stützte sich dann mit der Hand am Regal ab.
»Ich glaube, sie hat ’nen richtigen Schock«, sagte Richie. »Kann man ihr nicht verdenken. Du hättest diese Wurmoiden mal sehen sollen, die aus dem Buch rausgeschossen kamen.«
Er zeigte Sandy den Einband. Die Würmer hatten sich bereits durch das halbe Buch gefressen: Die Seiten der ersten Hälfte waren leer. Die Wörter, bei denen sie aufgehört hatten, waren zerstückelt und schon halb verschwunden.
»Wurmoiden?«, wiederholte Sandy unsicher.
»Bücherwürmer«, sagte Lilli leise.
Sandy und Richie nickten. Lilli hatte völlig recht.
»Schau mal auf dein T-Shirt, Richie«, sagte Sandy.
Sie alle starrten darauf. Auf dem T-Shirt hatte »BÖSER BENGEL« gestanden, aber die Bücherwürmer hatten mehrere Buchstaben verschlungen, so dass nun nur noch »Ö ENGEL« darauf stand.
Richie verzog das Gesicht. »Na toll!«
»Sieh mal in deiner Hose nach«, sagte Lilli.
»Brauch ich nicht«, schimpfte Richie. »Du bist doch diejenige, die sich fast eingekackt hat!«
»Nein. Ich meine wegen der Würmer, die dir in die Hose gekrochen sind. Überprüf mal das Etikett.«
Sandy packte Richies Hose von hinten und drehte das Herstelleretikett nach außen. Die Wörter waren verschwunden.
»Die haben dir den Aufdruck vom Etikett der Unterhose gefressen.«
»Mann! Wie uncool! Das war ein Designerteil!«

Plötzlich hielt Richie inne und wand sich, dann schüttelte er sein linkes Hosenbein. Heraus fiel ein übrig gebliebener Wurm.
»Schnapp ihn dir!«, rief Lilli.
»Wen denn?«, fragte Sandy, die das Geschöpf nicht sah.
Richie stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf den fliehenden Wurm. »Hab ich dich!« Er hob die Hand, hielt das kleine Wesen zwischen den Fingern hoch. Es war schwarz-weiß, mit übertrieben kugelförmigen Segmenten und kreisrunden Augen mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Die schwarzen Beinchen, die aufgeregt hin und her wackelten, waren nur schlichte schwarze Linien.
»Oh, jetzt sehe ich ihn auch«, sagte Sandy.
»Er sieht aus wie eine Comiczeichnung«, bemerkte Lilli.
»Man ist, was man isst«, sagte Richie. »Und er hat sich durch ein Buch übers Comiczeichnen gefressen. Ist doch klar, dass er wie eine Comiczeichnung aussieht.«
Lilli und Sandy eilten zur nächsten Reihe von Büchern.
Genau in dem Moment sprang ein Dutzend Würmer aus einem Buch in der Nähe; ihre knallbunten Glupschaugen saßen schief am Kopf und blickten in unterschiedliche Richtungen.
»Sie sind dort, in der Picasso-Sektion!«, rief Lilli.
Sandy stürmte an das eine Ende des Ganges, Richie und Lilli ans andere.
»Ich kann sie nicht sehen«, rief Sandy. »In dem Gang liegt nur eine Dose Tomatensuppe.«
Lilli spähte hinüber und sah die rote Campbell’s-Suppendose an Sandy vorbeirollen. Sie seufzte. »Sie waren in der Andy-Warhol-Sektion!«
»Schnapp dir die Dose!«, brüllte Richie.
Sandy langte nach der vorbeirollenden Dose, aber als sie die Hand darum schließen wollte, löste das Metall sich in Tausende herumschwirrender Würmer auf, die in alle Richtungen davonhuschten.
»Sie werden sich neu formieren«, sagte Lilli und trottete zu Sandy hinüber, die mit leeren Händen wütend am Ende des Ganges stand.
»Wie kann es sich bei einer fest organisierten Gruppe von Comicinsekten, die sich systematisch durch das Dewey-Dezimalsystem arbeiten, um Chaos handeln?«, fragte Sandy.
Lilli deutete auf die Bücher. »Wenn man Chaos verursachen will, bestünde eine gute Möglichkeit darin, Informationen zu eliminieren, richtig?«
»Okay«, sagte Sandy. »Dann scheinen sie also das Ordnungsprinzip der Bibliothek zu benutzen, um maximales Chaos anzurichten. Hast du gesehen, wo sie hin sind, Richie?«
»Na ja, sie stürzten in meiner Hose hinunter, dann haben sie sich durch die berühmten Maler gefressen. Da lang, glaub ich.« Er deutete die Rampe hinauf.
Sandy keuchte erschrocken auf. »Die legendäre Seattle-Sammlung. Kommt schon!« Sie stürmte zur Rampe.
Richie zögerte, überlegte. »Wir treffen uns oben«, sagte er schließlich. Er versetzte dem Comic-Bücherwurm, den er in seiner Tasche festhielt, einen Stupser, packte das Skateboard und schoss die Rampe hinunter.

»Wo willst du hin?«, rief Sandy ihm nach, aber es war zu spät. Richie war verschwunden. Sandy schnaubte verärgert, dann rannte sie die Rampe hinauf, den Würmern hinterher.
Lilli blickte nach unten in Richtung Richie, dann nach oben zur davoneilenden Sandy. Plötzlich war sie ganz allein im sechsten Stock. Die Bücherwürmer waren eklig und unheimlich. Sie spürte es immer noch auf der Haut, wo die kleinen Kerle über sie hinweggekrabbelt waren. Sie wollte nicht allein sein.
»Warte auf mich«, rief sie und rannte Sandy hinterher.
Als Lilli den zehnten Stock erreichte, sah sie, wie Sandy sich an einer Plexiglaswand hochhangelte, hinter der sich die Seattle-Sammlung befand. In den umschlossenen Bereich gelangte man eigentlich durch eine momentan abgesperrte Tür, neben der tagsüber ein wachsamer Bibliothekar an einem Schreibtisch saß, um sicherzustellen, dass keiner der Gäste den Bereich mit einem der seltenen Bücher verließ. Die Regale waren voller schwerer, in dickes Leder gebundener Bände. Sie waren alt, aber gut erhalten und kein bisschen verstaubt.
Die Bücherwürmer waren dort drin. Lilli konnte hören, wie sie sich durch Seattles seltenste und wertvollste Bücher fraßen. Aber Sandy wird sie nicht finden, dachte Lilli. Sandy war kein Hüter. Sie hörte sie nicht. Sie konnte sie nicht einmal sehen, ehe Richie einen fing und ihn ihr vor die Nase hielt.
Sandy plumpste auf der anderen Seite der Plexiglaswand hinunter in den umschlossenen Bereich und schlug unsanft am Boden auf.
»Aua!«
Lilli seufzte und sprang hoch, um ihr hinterherzuklettern. Sie schwang ein Bein über die Glaswand und ließ sich auf der anderen Seite geschmeidig neben Sandy hinunter.
»Hörst du sie?«, fragte Sandy, setzte sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken.
»Ja«, sagte Lilli. »Dort entlang.«
Sie half Sandy auf die Beine, und sie eilten zu den Archiven, die die wertvollsten Bücher der Sammlung enthielten. Auf zwei Ablagen standen die allerkostbarsten Exemplare. Sandy nahm eines heraus und duckte sich, bereit, auf jeden Wurm einzudreschen, der von irgendwoher herangeschossen kam. Lilli stellte sich neben sie und blickte wachsam von rechts nach links.
»Du sagst mir, wenn du sie kommen siehst, okay?«, meinte Sandy.
»Klar.«
»Hörst du sie noch?«
»Ja«, antwortete Lilli. Tatsächlich hörte sie, wie die kleinen Biester sich mit Heißhunger vollfraßen, dann ließ ein Rascheln sie nach links schauen.
Plötzlich wuchs ein Baum aus einem Regal im nächsten Gang. Lilli starrte hin, während er sich rasch von einem Schössling in eine hoch aufragende Douglasfichte verwandelte, die bis unter die Decke der Bibliothek reichte. Sandy blickte noch in die andere Richtung.
»Sandy«, flüsterte Lilli, »was für Bücher stehen links von uns?«
»Über Seattles Geschichte«, sagte Sandy. »Die ersten Siedlungen, Pioniere, Holzfällerstädtchen.«
»Holzfäller, ja?« Lilli schaute nach oben. Sie tippte Sandy auf die Schulter.

Die Assistenzbibliothekarin wandte sich um und blickte auf. »Oh mein Gott!«
»Dann siehst du ihn also, richtig?«
Sandy nickte fassungslos.
Über ihnen begann der dicke Baumstamm, sich zu winden und zu verdrehen wie ein Ringelwurm. Schließlich neigte er sich zur Seite und kippte um.
»Achtung, Baum!«, rief Lilli und warf sich zu Boden.
Sandy blieb dafür keine Zeit. Sie konnte nur aufschreien, als die riesige Tanne ihr auf den Kopf herabkrachte. Aber statt sie zu erschlagen oder in den Boden zu rammen wie einen menschlichen Nagel, löste der Stamm sich plötzlich in Abertausende von Würmern auf, die in alle Richtungen davonhuschten.
Beide Mädchen erstarrten. Sandy stand reglos da, konnte nicht glauben, noch am Leben zu sein, und Lilli lag wie versteinert am Boden und durchlebte noch einmal den Albtraum, die schleimigen kleinen Geschöpfe über sich hinwegkrabbeln zu spüren. Nun konnten die Würmer ihr zerstörerisches Werk ungehindert fortsetzen und machten sich über eben jene Regale her, die Sandy und Lilli vor ihnen hatten schützen wollen.
»Wo… sind sie hin?«, stammelte Sandy, die immer noch am ganzen Leib zitterte.
Lilli rollte sich auf die Seite. »In ein riesiges Buch, auf dessen Rücken Mount Saint Helens steht.«
»Oh, nein! Das ist der Vulkan, der im Umkreis von zweihundert Kilometern alles zerstört hat!«
Lilli beobachtete, wie der letzte Wurm zwischen den Buchseiten verschwand. Sie brachte es nicht über sich, nahe genug heranzugehen, so dass die kleinen Biester wieder über sie hinwegschwärmen würden, und sie war ohnehin zu weit entfernt, um sie noch aufhalten zu können. Sie wusste, dass Zoot nicht würde helfen können. Er würde sich nie in die Nähe von etwas begeben, was Kunstwerke zerstörte, sei es in Büchern oder sonst wo. Das Vulkan-Buch begann sich aufzublähen, dann lief es rot an.
»Gleich wird es explodieren!«, warnte Lilli. »Lauf weg!«
In dem Moment kam Richie von der Plexiglaswand in die Seattle-Sammlung herabgehechtet wie ein Fallschirmspringer ohne Fallschirm. Er rollte sich ab, kam auf die Beine und hielt das E-Book aus dem Fundbüro hoch.
»Hey, Wurmoiden!«, rief er und schaltete das elektronische Lesegerät ein. »Hier hab ich Bücher für euch, Jungs, Tausende von Büchern in diesem kleinen Apparat!«
Ein schleimiger roter Kopf lugte aus den Seiten des Vulkan-Buchs heraus. Richie hielt ihm das Lesegerät entgegen. Ein zweiter Wurm kam dazu, neugierig geworden, dann ein dritter. Die Ausbuchtung in dem Buch wurde kleiner, als mehr und mehr Würmer aus den Seiten herauskrochen. Richie ging die Liste der im E-Book gespeicherten Bücher durch.
»Mark Twain, Shakespeare, Stephen King, alle möglichen Enzyklopädien. In dem Kasten befindet so viel Lesestoff wie auf dem gesamten Stockwerk hier. Es ist eine wahre Schatztruhe an Büchern.«

Die Würmer kamen alle gleichzeitig auf ihn zugesaust, wie beseelt von einem einzigen Geist. Fast bereute Richie die Wirkung seiner Rede ein wenig, während er das Lesegerät hochhielt wie einen Schild, um sich des Ansturms zu erwehren. Die Würmer rasten aus zwei Meter Entfernung heran wie fliegende Lava und hielten auf den Bildschirm des E-Books zu.
Lilli begriff, was Richie vorhatte, und war sich beinahe sicher, dass es nicht funktionieren würde. Aber die Würmer verschwanden tatsächlich im Bildschirm, jeder einzelne mit einem leisen Plip, sodass es erst klang wie tropfender Regen, dann wie eine prasselnde Sturzflut und dann wieder wie einzelne Regentropfen, bis der Letzte von ihnen im Lesegerät verschwunden war.
»Gut gemacht, Jungs«, lobte Richie. »Kommt zu Papa…« Er schaltete das E-Book aus, dann schlug er es gegen einen Geländerpfosten und demolierte den Bildschirm. »Fertig«, verkündete er grinsend. »Ich wette, jetzt kommen sie nicht mehr raus.«
»Die stecken alle da drin?«, fragte Lilli verblüfft.
»Sieht so aus, oder?«, sagte Richie.
»Du Idiot!«, brüllte Sandy. »Hast du soeben Informationen fressende Würmer ins Internet gelassen?«
»Reg dich ab«, sagte Richie und bedeutete ihr, sich zu beruhigen. »Ich hab sie nur auf die lokale Festplatte gelassen. Glaubst du, ich bin blöd?«
Sandy antwortete nicht.
Lilli zuckte mit den Schultern. »Manchmal schon.«
»Na toll. Da besiege ich die bösen Bücherwürmer, die euch lahmen Bräuten beinahe den Garaus gemacht hätten, und dann muss ich mich dafür noch beleidigen lassen? «
Die erleichterten Mädchen atmeten vernehmlich aus, und plötzlich fingen alle drei an zu lachen. Dann überraschte Sandy Richie mit einer Umarmung und einem dicken Schmatzer auf die Wange.
»Vielen, vielen Dank, dass du meine Bibliothek gerettet hast«, sagte sie.
»Die Bibliothek gehört allen«, erwiderte er, »aber trotzdem, keine Ursache, Sandy.« Als Sandy ihn losließ, wandte er sich an Lilli. »Kriege ich von dir auch einen Schmatzer, Puppe?«, fragte er und wackelte mit den Augenbrauen.
»Das hättest du wohl gern«, entgegnete Lilli grinsend und bot ihm stattdessen ihre Hand zum Abklatschen an.
»Wie lahm…«, sagte er. »Aber warum nicht?« Er klatschte sie ab, dann deutete er mit dem Daumen zur Rampe. »Lasst uns von hier verschwinden, ja?«
