14. Kapitel
Panik auf der Fähre
Nachdem die Bibliothek gerettet war, verabschiedeten sich Lilli und Richie von Sandy, die ihren Eltern einen kurzen Besuch abstatten und ihnen versprechen wollte, dass ihr inmitten der chaotischen Zustände in Seattle nichts zustoßen würde. Ihre Eltern hatten die Stadt verlassen und waren für eine Weile bei Verwandten im nahen Bellingham untergekommen. Nach allem, was geschehen war, klang Sandys Vorschlag vernünftig, dass auch Lilli und Richie sich für ein paar Tage aus der Stadt verdrücken sollten. Und so nahmen die beiden am nächsten Morgen die Seattle-Bremerton-Fähre und schipperten durchs raue Wasser der Elliot Bay.
Das riesige Fährschiff – nach einem regionalen Indianerstamm Yakima benannt – war mit hundertsechzig Autos bis auf den letzten Stellplatz gefüllt. Auf den beiden Passagierdecks drängten sich dreitausend Menschen, fünfhundert mehr als eigentlich zugelassen waren.
Seattles Bewohner verließen in Heerscharen die Stadt. Die unzähligen Dämonen, die, unsichtbar für das ungeübte Auge, auf den Straßen umherzogen, verursachten Chaos in jeder denkbaren Form, von Massenkarambolagen bis hin zu explodierenden Handys, die den Leuten Unsinn ins Ohr brüllten. Die Computernetze, von denen das Funktionieren der Stadt abhing, waren bereits am ersten Abend, als die Dämonen sich ans Werk gemacht hatten, nutzlos geworden – die miteinander verbundenen Netze waren derart anfällig, dass die simpelsten Dämonen – die Datenfresser und Codeknacker – sie mühelos außer Betrieb setzten. Andere Leute verließen die Stadt, weil ihnen Berichte vom Ausbruch der Pest zu Ohren gekommen waren. Plötzlich unfähig, ihre Welt zu kontrollieren, gerieten die Menschen in Panik. Sie flohen, kämpften miteinander, sie rasten auf der Interstate 5 die Küste hinauf oder hinunter oder fuhren auf der Interstate 90 ins Landesinnere oder nahmen eines der Fährschiffe in einem der Häfen entlang der Bucht.
»Ich finde es falsch, dass wir abhauen«, sagte Richie, der sich über die Reling beugte und versuchte, Ein-Cent-Münzen auf die zehn Zentimeter breite Umrandung des Schiffsrumpfes der Yakima zu werfen, während die Fähre durch die Wellen pflügte.
»Es gibt nichts, was uns hier hält«, murmelte Lilli. Das alte Haus war eine Ruine. Nate war verschwunden. Die meisten Leute, die in der Stadt blieben, stellten ebenfalls eine Gefahr dar – blutrünstige Gangs, Plünderer, Verrückte. »Alles in Ordnung mit unserer Fracht?«
»Klar doch«, sagte Richie und klopfte auf seinen Rucksack. »Der Schatz ist hier drin.«

Nate hatte in einer Nische im Speisezimmer eine kleine Schatztruhe aufbewahrt, die vom klauenfüßigen Banketttisch bewacht worden war – einem uralten Wächterdämon der ersten Ebene, der jeden getötet hätte, der einem von ihm bewachten Objekt zu nahe kam. Selbst für Nate war es schwierig gewesen, Geld aus der Truhe zu nehmen, während der klobige Dämon darüber wachte – was Nate zu großer Sparsamkeit gezwungen hatte. Aber der Banketttisch war vom Dämonenfresser zerstört worden. Die kleine Truhe enthielt Gold, Diamanten, Rubine und Bargeld aus mehreren Jahrhunderten. Ein kleines Vermögen. Nachdem der Tisch verschwunden war, hatte Richie die Truhe in seine Obhut genommen. Ohne die Dämonen im Haus gab es niemanden, der Plünderer hätte fernhalten können.
Lilli runzelte die Stirn. »Ich meine die wichtige Fracht«, sagte sie und versuchte gar nicht erst, ihre Abneigung gegen materiellen Wohlstand zu verhehlen.
»Ach so«, sagte Richie und verdrehte die Augen. »Alles in Ordnung. Flappy und Zoot sitzen wohlbehütet in der Knobelbox.«
»Mir gefällt nicht, in dieser Weise mit Zoot zu reisen«, erklärte sie. »Er liebt seine Freiheit.« In den Jahren, seit sie ihn kannte, war er ein urbaner Dämon gewesen, der die amerikanischen Großstädte heimsuchte, aber sie hatte ihn auch Graffiti auf Deutsch und sogar auf Altnorwegisch kritzeln sehen. Es war offenkundig, dass Zoots Ursprünge älter waren als die USA.
»Du sagst doch, er mag kein Wasser«, erwiderte Richie. »Deshalb steckt er eben in der Knobelbox statt als Farbklecks auf deiner Bluse.«
»Stimmt, Zoot mag kein Wasser. Es verdünnt ihn und könnte ihn wahrscheinlich sogar zerstören, glaube ich. Deshalb hasst er ja das Wetter in Seattle.«
Plötzlich verkrampfte sich Richie.
»Was ist los?«, fragte Lilli.
»Ein Dämon.«
»Wo?«
Richie drehte sich im Kreis, suchte die Decks der Yakima ab. Er hatte ein Gespür für Dämonen. Bevor er Nate begegnet war, hatte sich dies nur als vages, flüchtiges Gefühl geäußert. Manchmal hatte er brabbelndes Geflüster vernommen, das niemand außer ihm hörte. Manchmal hatte er lebendige Schatten gesehen. Und sich für verrückt gehalten. Nun aber bestand kein Zweifel mehr an seiner Wahrnehmung. Er hatte gelernt, ihre Gegenwart zu spüren. Er hörte und sah sie ganz deutlich – Nate hatte es ihm beigebracht. Er war nicht verrückt. Er war einfach nur ein junger Bursche, der das Chaos spüren konnte, wenn es in Gestalt eines Geruchs, eines Geräuschs, eines Anblicks oder einer festen Manifestation daherkam.
Er schauderte. »Der Dämon ist überall.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Lilli. »Wie soll er denn überall…«
Plötzlich neigte sich die Fähre nach vorn, der Bug schoss ins Wasser hinab, das Heck hob sich. Die Menschen schrien und rannten ans Schiffsende, während das Gefährt begann, sich langsam auf die Nase zu stellen.
Richie sprang zur Reling zurück und blickte hinaus in die Bucht. Lilli packte sein Sweatshirt und versuchte ihn zurückzureißen, während die Yakima erzitterte und immer weiter in Schieflage geriet.

»Weg von der Reling, du Trottel!«
Richie machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern deutete nur nach hinten. Das Wasser am Heck veränderte sich. Es verdichtete sich zu einer halbfesten Gestalt, die anschwellenden Wellen bildeten lastwagengroße Wasserhände. Sie glitten tiefer unter das hintere Ende der Fähre und drückten es immer weiter in die Höhe. Niemand an Bord – außer Lilli – war imstande, sie zu erkennen. Für die Passagiere sah es so aus, als hätten sich plötzlich zwei seltsam geformte Wellen gebildet.
»Was ist das?«, japste Lilli.
»Der Plansch!«
»Was ist der Plansch?«
»Keine Ahnung. Hab ich mir gerade ausgedacht!«
Aus dem Schiffsbauch erklang ein schrilles, markerschütterndes Ka-schink, als das erste Auto auf dem Fahrzeugdeck, ein großer Hummer SUV, die Kette am vorderen Ende der aufgerichteten Fähre durchbrach. Das Auto stürzte mit einem ohrenbetäubenden Platsch ins Wasser. Dahinter rollten weitere Fahrzeuge nach vorn und krachten ineinander, VWs, Toyotas und Fords, alles verkeilte sich ineinander. Autos, deren Eigentümer die Handbremse angezogen hatten, so wie es die Hinweisschilder auf der Fähre vorschrieben, blieben zunächst stehen, wurden aber langsam von den Fahrzeugen vorangeschoben, deren Eigentümer den Hinweis ignoriert hatten.
Eine Frau ließ in der panischen Menschenmenge zwei dampfende Kaffeebecher fallen. »Meine Kinder sitzen da unten im Van!«, schrie sie. Sie konnte die Treppe zum Autodeck nicht erreichen – zu viele Leute drängten in die entgegengesetzte Richtung. Aber Richie erkannte, dass er die Treppe von seiner Position aus erreichen könnte. Er sah Lilli an.
»Tu es nicht«, warnte sie ihn. »Du bist bloß ein dreizehnjähriger Junge, kein Held.«
Richie sah sie stirnrunzelnd an, dann stürmte er zur Treppe.
»Warte, verdammt noch mal!«, rief Lilli und eilte ihm nach.
Richie stürmte aus dem Treppenschacht hinaus aufs Autodeck. Es war an beiden Enden offen, damit die Autos herein- und herausfahren konnten, aber an den Seiten war es geschlossen, und darüber lagen die beiden Passagierdecks.
Die Autos verrutschten, stießen krachend ineinander und rollten langsam, aber sicher auf die Wassermassen am Bug zu, während das Heck der Yakima immer höher stieg. Menschen waren nirgendwo zu sehen. Richie zögerte. Mit all den großen herabrutschenden Autos glich das Deck einem gigantischen Fleischwolf. Es war lebensgefährlich hier unten. Richie zuckte zusammen, als er am Bug eine Reihe von Harley-Davidson-Motorrädern und einen Porsche ins Wasser stürzen sah.
»Oh Mann, was für eine Schande.«
Lilli eilte heran. »Das ist Wahnsinn! Lass uns verschwinden! «

»Da ist er!« Richie deutete auf einen blauen, zur Seite geneigten Minivan, der, auf halbem Weg das Deck hinauf, zwischen einem aufgemotzten Truck und einem kleinen Hybrid-Auto feststeckte. Drei kleine Gesichter starrten entsetzt aus dem Beifahrerfenster, während der Wagen langsam auf die Seite kippte und unablässig Meter um Meter voranrutschte. Das kleinste der Kinder, ein Junge, trug eine Baseballkappe der Seattle Mariners.
»Ich kann sie erreichen«, sagte Richie. Er kletterte über einen VW-Käfer zu den in einer Doppelreihe abgestellten Autos und war plötzlich mitten im Fleischwolf.
»Richie, nicht!«, rief Lilli ihm nach. »Du wirst zerquetscht werden!«
Alle paar Sekunden verrutschten die Autos rings um Richie und krachten ineinander, während das Heck der Yakima immer höher stieg. Richie sprang ständig zur Seite, wich den Blechkisten ein ums andere Mal aus.
»Kein Problem«, rief er zurück, um Lilli zu beruhigen, während er zwischen zwei Autos hindurchschlüpfte. Er beeilte sich und war nach wenigen Augenblicken in der Nähe des Minivans, hechtete über die Motorhaube eines Honda und stieg auf das Dach des kleinen Hybrid-Wagens, von wo aus er durch die Windschutzscheibe des Vans ins Wageninnere blicken konnte. Dort waren die drei Kinder. Sie schienen zwischen drei und sieben Jahren alt zu sein und waren derart panisch, dass sie sich nicht selbst helfen konnten.
»Es gibt ein Problem!«, rief Richie Lilli zu, die noch immer an der Tür zum Treppenschacht stand.
Die gigantischen Wasserhände des Plansch hatten sich zum Bug des Schiffes vorgeschoben. Eine von ihnen langte nun in den offenen Mund der Fähre, packte zwei weitere Autos und riss sie in die Bucht hinaus, worauf die anderen Fahrzeuge ruckartig herabrutschten. Neben Richie rollte ein Auto weiter das Deck hinab. Der Minivan neigte sich noch stärker zur Seite, und die kleinen Gesichter im Fenster verschwanden. Hinter sich hörte Richie ein lautes metallisches Scharren, und er musste sich flach auf den Boden werfen, als der aufgemotzte Truck geradewegs über ihn hinwegrollte und die übergroßen Reifen ihn nur um Haaresbreite verfehlten.
»Ein großes Problem!«
»Die Knobelbox!«, rief Lilli Richie zu. Sie verfluchte ihn leise, weil er sich in Gefahr brachte, dann verfluchte sie sich selbst, weil sie es zugelassen hatte. Sie waren Dämonenhüter, kein Rettungsteam.
Richie hörte ihren Zuruf. Er eilte zur Seite des Decks und durchwühlte seinen Rucksack, zog die Knobelbox heraus und schleuderte sie über die verkeilten Autos hinweg zu Lilli. Lilli stürmte vor, hob den kleinen Kasten auf und öffnete den Deckel.
»Zoot! Hilf uns!«
Doch statt eines bunten Farbknäuels oder einer schimmernden Erscheinung zwängte sich ein Paar ledriger Reptilienflügel durch die Öffnung der Knobelbox. Lilli stöhnte auf, als Flappy herausschlüpfte.
»Nein, nein, nein! Nicht du!«
Sie versuchte, den kleinen Winddämon wieder in die Box zu stopfen. Erst vor wenigen Wochen hatten sie herausgefunden, dass der Minidrache für den schweren Sturm verantwortlich war, bei dem Nates Eltern im Meer vor den San-Juan-Inseln ums Leben gekommen waren. Sie, Richie und die hilflosen Kinder im Auto brauchten momentan wirklich nicht seine Sorte von Chaos.

Aber der Winddämon schlüpfte ihr zwischen den Fingern hindurch wie eine wehmütige Brise, die fest entschlossen war, sich einen Weg durch einen Lattenzaun zu bahnen. Plötzlich war der kleine Kerl frei. Und sobald er frei war, begann er zu wachsen.
Richie wandte sich wieder zu dem Minivan um. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber ohne Erfolg. Wenigstens hatten die Eltern der Kinder die Türen verriegelt, bevor sie ihre Sprösslinge allein auf dem Autodeck zurückgelassen hatten, wahrscheinlich mit einem DVD-Player und einem Zeichentrickfilm, damit die Kleinen beschäftigt waren, während sie selbst auf einen Kaffee nach oben gegangen waren. Er spähte durchs Fenster.
Die Kinder lagen verrenkt auf dem Rücksitz, umgeben von aufgeblähten Airbags. Sie schrien wie am Spieß und das war auch ihr gutes Recht – die Yakima hatte sich inzwischen fast im Dreißig-Grad-Winkel aufgestellt, und jedes Mal, wenn ein Auto herabrutschte, polterte es über die anderen hinweg, riss Metall auf und drückte Scheiben ein.
Die einzige Tür, an die Richie herankam, war eingedrückt. Er riss am Griff, aber es tat sich nichts. Er hämmerte gegen die Scheibe, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu wecken. Der Junge mit der Baseballkappe schaute auf. Zu rufen wäre sinnlos – die Zusammenstöße, die Schreie und das donnernde Platschen, mit dem die Autos ins Wasser fielen, würden ihn übertönen. Richie formte seine Worte mit den Lippen.
»Die … Tür. Entriegel … die … Tür.«
Er deutete auf den Türgriff, drückte sein Gesicht an die Scheibe und lächelte, um das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Der Kleine starrte ihn einen Moment lang an, dann erbrach er sich ans Fenster.
Richie wich zurück. »Äh, eklig!«, stöhnte er.
Der Minivan war an der Seite des Decks zusammen mit fünf anderen Autos zwischen zwei Metallsäulen eingeklemmt. Im Moment besteht keine akute Gefahr für sie, dachte er, aber sobald die Blockierung sich löste, würden die Autos sich in sechs Ein-Tonnen-Geschosse verwandeln und geradewegs ins Gewirr der anderen Fahrzeuge hinabschießen. Richie blickte das Deck hinunter. Die Autos stürzten nun eines nach dem anderen ins Meer. Er war zu langsam. Sie würden es nicht schaffen, und er selbst würde zusammen mit den Kindern sterben.
Flappy flatterte ins Autodeck hinaus, und Lilli eilte ihm nach. Sie hielt die Knobelbox hoch, um ihn wieder einzusaugen, während er wie verrückt mit seinen kleinen Flügeln schlug, um an Höhe zu gewinnen. Beinahe hätte sie ihn erwischt, musste aber zurückweichen, als der aufgemotzte Truck auf sie zugeschossen kam. Lilli sprang in den Treppenschacht zurück, als der Wagen an der Stelle gegen die Wand krachte, wo sie eben noch gestanden hatte, und dann das Deck hinabpolterte und ins Wasser stürzte.
Der kleine Dämon stabilisierte sich und wandte sich in Richtung Bug, wo die gigantischen Hände des Plansch nun direkt in die aufgerichtete Fähre hineinfassten. Autos schlugen auf dem Wasser auf und versanken in der Bucht. Flappy flog auf das Chaos zu, in Richtung des Plansch.

Lilli konnte ihm nicht folgen. Flappy flog schnell und ungestüm, sein drachenartiges Gesicht war zu einen Fauchen verzerrt. Lilli konnte schon ihr Leben lang Dämonen sehen und wusste, dass die Geschöpfe nur selten Gefühle zeigten. Aber sie hätte schwören können, dass der kleine Kerl wütend war. Und er war nicht mehr »klein«. Befreit von der Enge der Knobelbox, verdoppelte sich seine Größe alle paar Sekunden.
Die Yakima wackelte brutal hin und her, und hinter dem Minivan löste sich ein grüner BMW. Er prallte mit voller Wucht gegen das Familienauto, als Richie gerade nicht hinsah. Fast hätte es ihm den Arm abgerissen, und das Rückfenster zerbarst bei dem Aufprall. Richie erkannte seine Chance und schoss voran, um seinen Kopf durch die Öffnung in den Minivan zu schieben. Er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
»Hallo, Kinder. Es gibt einen Notfall, und ihr müsst schnell aussteigen.«
Die Kinder starrten ihn erschrocken an, reagierten aber nicht.
Richie verzog das Gesicht. »Raus! Raus! Raus mit euch!«, versuchte er es auf die harte Tour.
Diesmal reagierten sie; sie kletterten über die Sitzbank und krabbelten durch die zerborstene Scheibe.
»Schaut euch nicht um!«, warnte Richie die Kleinen mit Gedanken an den Fleischwolf und wies sie in Lillis Richtung. »Rennt einfach! Los! Los! Los!«
Zu seiner Erleichterung folgten die beiden älteren Kinder seiner Aufforderung, aber das kleinste – der Junge mit der Mariners-Kappe – weinte und war vor Furcht wie erstarrt. Richie nahm ihn auf den Arm und rannte los. Der Minivan löste sich mit ohrenbetäubendem Quietschen aus der Verkeilung und rutschte das Deck hinab, ihnen hinterher. Auf der steilen Schräge sprintete Richie mit dem Jungen auf dem Arm bergab, sprintete schneller als jemals zuvor, genau genommen so schnell, dass er, als er den Treppenschacht erreichte, Lilli den Jungen zuwerfen musste, die die beiden anderen Kinder schon die Stufen hinaufgeführt hatte. Lilli bekam den Kleinen gerade noch zu fassen, während Richie die Ecke packte und sich in den Treppenschacht hineinschwang.
Hinter ihm riss der vorbeirutschende Minivan das »TREPPENSCHACHT«-Schild von der Wand.
Am oberen Treppenabsatz trieben drei Fährarbeiter die beiden älteren Kinder aufs Oberdeck. Der kleine Junge aber blieb stehen, klammerte sich an Lilli und starrte auf seinen Retter, Richie. Lilli stellte ihn vorsichtig ab und deutete nach oben. Der Junge schniefte und stieg die Stufen hoch.
Einer der Arbeiter rief zu Lilli und Richie hinunter: »Ihr beide kommt besser auch nach oben!«
Lilli und Richie starrten hinaus aufs Autodeck. Es war leer – sämtliche Autos waren ins kalte Wasser der Elliot Bay gestürzt. Nun langte der Plansch auch nach ihnen, schob seine langen Wasserfinger das Deck hinauf, drückte den Bug der Fähre weiter nach unten.
Draußen wurden die ersten Rettungsboote herabgelassen, aber als sie in der Bucht aufsetzten, erhoben sich turmhohe Wellen und kippten sie um oder zogen sie unter Wasser, so dass kein Zweifel bestand, welches Schicksal die schreienden Passagiere erwartete.

Unten in der Fähre war Flappy zur Größe eines kleinen Lasters angewachsen – ein gigantischer, außer Kontrolle geratener Windstoß, der hin und her purzelte und in dem beengten Raum des Autodecks von den Wänden abprallte wie eine Flipperkugel. Er war eine rohe Naturgewalt. Aber eine Hilfe ist er nicht, dachte Lilli. Sie stellte sich vor, dass er für die Fährarbeiter wie eine durchsichtige Luftkräuselung aussehen musste, nichts weiter.
»Kommt hoch!«, rief der Arbeiter erneut.
»Tut mir leid, Kollege, wir haben hier noch was zu erledigen«, entgegnete Richie und stürzte Flappy hinterher.
Lilli konnte ihn nicht allein losziehen lassen – wahrscheinlich würden sie alle miteinander sterben, aber falls er stürbe, weil er tapfer war, und sie ihm in den Tod folgte, weil sie feige war, würde sie nicht mehr mit sich leben können… zumindest nicht in den wenigen Sekunden, die ihr dann noch blieben.
»Diesmal komme ich gleich mit!«, rief sie und rannte ihm nach.
»Flappy!«, brüllte Richie. »Hol dir den Wasserdämon! Mach ihn fertig!«
Lilli zuckte zusammen, als sie Richies wenig kunstvolle Anweisung hörte, aber ihr wurde klar, dass er die richtige Idee hatte, die einzige Idee. Es war ein verrückter Versuch, aber falls nicht etwas Verrücktes geschah, würden die massigen Wasserfinger vollends in die Fähre hineinkriechen und sie alle auf den Grund der Bucht hinabzerren. Die Medien würden nie erfahren, dass es ein Dämon gewesen war. »Fährunglück bei heftigem Unwetter – alle Passagiere tot«, würde es heißen.
Flappy tobte über das leere Autodeck wie ein verrückter Wirbelsturm, der alles, was nicht niet- und nagelfest war, von den Wänden riss und durch die Gegend schleuderte. Richie duckte sich vor herumfliegenden Gegenständen und brüllte dem Winddämon zu, er solle seinem Kontrahenten »die Fresse polieren« und ihm »den Hintern aufreißen«. Aber seine unspezifischen Zurufe trugen wenig dazu bei, Flappys überbordende Energie zielorientiert einzusetzen. Richie war jung und wild, dachte Lilli. Impulsiv. Ganz so wie das Chaos, dem er Einhalt gebieten wollte.
»Flappy, sammle dich!«, rief sie dem Winddämonen laut, aber gelassen zu.
Anscheinend verstand Flappy sie, denn plötzlich zog er sich zu einem festen Luftwirbel zusammen.
»Zum Wasserdämon!«, befahl sie, doch Flappy tobte weiter orientierungslos herum. Entschlossen verdrängte Lilli ihre Panik und ihr eigenes inneres Chaos in einen dunklen Bereich ihrer Seele, sperrte beides dort ein. Dann konzentrierte sie sich und erweckte die ihr innewohnenden Kräfte zum Leben, schwenkte ihren Arm in weitem Bogen durch die Luft, entzog Türen, Wänden und Säulen alle Farben und schleuderte sie quer übers Autodeck, um einen riesigen Regenbogenpfeil zu erschaffen, der auf die gigantischen Wasserhände des Plansch zeigte.
Flappy machte kehrt und flog in die angewiesene Richtung, raste als kugelrunder Wirbelwind direkt auf den Plansch zu.
Zehn Meter vom Kampfplatz entfernt kam Richie schlitternd zum Stehen und packte eine Metallstange, um nicht in die kochenden Fluten hinabzurutschen.
»Los!«, rief er.

Flappy krachte frontal gegen den Plansch und verursachte eine gewaltige Wasser- und Windexplosion auf dem Autodeck. Mit Flügeln, die rotierten wie tausend messerscharfe Klingen, bohrte Flappy sich in den Wasserdämon hinein und zerschredderte ihn in seine Einzelteile. Die Hände lösten sich vor Lillis Augen auf, und die dunklen Wassermassen fluteten wieder das Deck hinunter und flossen in die brodelnde Bucht ab.
Sobald das Gewicht des Wassers verschwunden war, krachte die Fähre mit einem gewaltigen Platschen in die Horizontale zurück und schleuderte Lilli und Richie zu Boden.
Als der feuchte Dunst aufklarte, lag das Fährschiff wieder ruhig auf dem Wasser und schaukelte sanft hin und her. Der verbliebene Luftstrudel, bei dem es sich um Flappy handelte, wehte zur Knobelbox zurück, die Lilli fest in der Hand hielt, und schlüpfte hinein.
»Er hat den Wasserdämon verjagt«, sagte Lilli erstaunt. Sie fragte sich, ob Flappy es aus eigenem Antrieb getan hatte oder wegen ihres Befehls oder ob es beides gewesen war.
»Ja, er hat ihn plattgemacht! Unglaublich, der kleine Kerl!« Richie konnte nicht an sich halten und führte auf dem leeren Autodeck einen Freudentanz auf.
Flappy hatte seinen Widersacher tatsächlich mit ungeahnter Vehemenz angegriffen. Lilli fragte sich, warum. Sie hätte nicht gedacht, dass Dämonen derart wütend werden können, aber neben ihrem Befehl hatte es noch etwas anderes gegeben, das Flappy antrieb. Er hatte einen Grund gehabt, eine Art persönlichen Hass. Luft gegen Wasser. Ein grundsätzlicher elementarer Konflikt, der über bloße menschliche Wut weit hinausging – eine Rivalität zwischen zwei dämonischen Manifestationen, die um ihre Daseinsberechtigung in der Welt kämpften, und es schien, als wäre der Plansch mit seinem Angriff in Flappys Lebensraum eingedrungen.
Hinter Lilli ertönte ein Geräusch, und sie wandte sich um. Zehn Leute, darunter die Fährarbeiter, standen auf der Treppe und starrten neugierig zu ihnen herab. Die Dämonen hatten sie nicht sehen können, aber sie hatten beobachtet, wie Lilli und Richie die Kinder gerettet und die Wassermassen aus der Fähre irgendwie in die Bucht zurückgetrieben hatten.
Die drei Arbeiter eilten hinunter und packten Lilli und Richie. Einer von ihnen zückte einen Dienstausweis. »Okay, ihr beiden, ihr kommt jetzt schön mit.«
