22. Kapitel

In höchster Not

Fünfzig Meter weiter tauchte Nate in die Tiefe und bekam Lilli mit den Fingerspitzen zu fassen. Dann, mit brennender Brust wegen des Sauerstoffmangels, begann er den langen Aufstieg zur Oberfläche. Über ihm konnte er ein schwaches Licht erkennen, aber es war zu weit entfernt, um es zu erreichen. Er hielt Lillis Hand. Sie würden jetzt sterben, dachte er, genauso wie seine Eltern gestorben waren. Zu guter Letzt hatte der Plansch ihn erwischt, und er hatte eine Freundin als Köder benutzt. Nate stieß den allerletzten Atemrest aus und wusste, dass ihm Wasser in die Lunge fließen würde, wenn er gleich verzweifelt versuchte, Luft zu schnappen. Und dann wäre der Dämon für immer in ihm. Er schlang die Arme um Lillis leblosen Leib, schloss die Augen und öffnete den Mund.

Zu seinem Erstaunen füllte ein Strom frischer Luft seine Lunge. Er riss die Augen auf. Eine lange Röhre aus Luft hing über ihm im Wasser herab, das untere Ende eine Blase, die seinen und Lillis Kopf umschloss. Die Röhre führte geradewegs nach oben, als hätte jemand einen Sauerstoffstachel herabgestoßen, wie der lange Stachel eines Moskitos, der dem Plansch ins Fleisch stach, um Lilli und ihn mit Luft zu versorgen.

»Flappy!«, japste Nate. Er schwamm mit neuem Elan, und auf dem Weg nach oben versorgte sein Winddämon-Gehilfe ihn mit lebenspendender Atemluft.

Der Plansch war noch abgelenkt wegen des plötzlich erschienenen Erddämons, und Flappys Luftstachel war so fein, dass der Wasserdämon ihn zunächst nicht bemerkte. Nate blieb genug Zeit, um nach oben zu gelangen, ehe der Plansch reagierte. Lilli und Nate erreichten gerade die Oberfläche, als der Wasserdämon Flappy aus sich herausschleuderte, sich in die Luft erhob und nach dem schwer fassbaren Körper des Winddämons schlug, während dieser himmelwärts stob.

Nate war völlig ausgepumpt. Er hatte keine Kraft, um noch gegen die Dämonen zu kämpfen. Er hatte die Kraft nie besessen. Ihm war nur gelungen, das Chaos, dem er begegnete, im Zaum zu halten, es zu hüten. Während er beobachtete, wie der Plansch wütend nach Flappy schlug, fiel ihm ein, wie der riesige Dämon vor dem Müllstrudel im Pazifik geflohen war. Nicht vor ihm – Nate. Nathaniel Grimlock war dem elementaren Chaos egal. Wahrscheinlich waren dem Dämon auch seine Eltern egal gewesen. Aber wenn Elementardämonen aufeinandertrafen, tobte das Chaos so lange, bis einer der Kontrahenten den Kampf für sich entschieden hatte. Die menschlichen Opfer waren Nebensache.

Während Nate im Wasser trieb, kam Kail unter dem Spielfeld hervorgeschossen, brach durch die Stadionmauern und raste in Seattles Industriegebiet, pflügte durch den weichen Boden unter den Gebäuden und öffnete auf seinem Weg nach Süden einen immer breiter werdenden Graben. Hinter ihm stürzten Lagerhäuser ein. Straßen sackten in der Mitte zusammen und verschwanden dann vollends. Die Erde hob sich und erbebte.

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Im Stadion wurde der Plansch ganz still. Sandy und Richie erstarrten auf der Tribüne, als unter ihnen plötzlich die Erde aufbrach. Kail riss das Spielfeld direkt unter dem Wasserdämon auseinander. Der Plansch geriet in Panik und versuchte die niedrige Mauer des Stadions zu erreichen, um in die Elliot Bay zurückzufluten, aber es war zu spät. Gegen die stärkste Kraft des Planeten – die Schwerkraft – kam er nicht an, und der von Kail verursachte Graben begann den rasenden Wasserdämon in die Tiefe zu saugen.

Nate wurde in dem Strudel, der dabei entstand, im Kreis herumgewirbelt, während der Plansch allmählich in den Graben abfloss. Zu erschöpft zum Schwimmen, hielt er Lilli einfach fest und versuchte ihren Kopf über Wasser zu halten. Nach einer Weile trieb er auf der linken Spielfeldseite auf eine der gelben Foul-Stangen zu, die hoch aus dem Wasser ragten. Mit letzter Kraft packte er sie und hielt sich fest.

Oben peitschte der Wind zwischen den glühenden Dachträgern, rüttelte am halb offenen Stadiondach, und triumphierende Lichtblitze schossen zum Wasser und zur nicht überdachten Tribüne hinab und ließen Nate zusammenzucken. Der Boden bebte nun nicht mehr, war aber so weit aufgerissen, dass es irreversibel war. Während die Fluten im Graben abflossen, ließ Nate sich an der Metallstange hinabgleiten. Plötzlich wurde sie von einem der Blitze getroffen. Einen Sekundenbruchteil bevor der tödliche Stromstoß durch die Stange raste, warnte Nates Instinkt ihn, dass Sparky noch einmal zuschlagen würde. Er ließ los und purzelte auf die unterste Sitzreihe.

Sparky raste durch die Stange, aber Nate hatte sie bereits losgelassen. Statt ihn und Lilli mit einem tödlichen Stromschlag zu treffen, verband Sparky sich direkt mit den zurückweichenden Wassermassen. Es gab auf der linken Spielfeldseite eine gewaltige Explosion aus Licht und Wasser, als der Plansch den törichten elektrischen Dämon in einem letzten gewalttätigen Akt vernichtete. Sparky leuchtete noch einmal grell auf und verlosch. Dann gab der Plansch sich der Schwerkraft geschlagen, die er nicht besiegen konnte.

Nate legte Lilli rücklings auf den Stufen ab und begann sofort mit der Mund-zu-Mund-Beatmung, worauf sie ihm einen dicken Wasserschwall ins Gesicht spuckte.

»Küsst du wieder ein anderes Mädchen?«, fragte Sandy und beugte sich über Nate. Sie hatte drei Stufen auf einmal genommen, als sie zu ihm und Lilli heruntergerannt war.

Nate schaute auf und sah, dass seine Freundin ihn anlächelte.

»Diesmal lasse ich es durchgehen«, sagte sie augenzwinkernd, dann bückte sie sich und half, die Wasser spuckende Lilli wiederzubeleben.

Richie kam zu ihnen herangehumpelt. Mit seinem gebrochenen Arm dauerte es eine Weile, bis er sie erreichte; er schnitt eine Grimasse.

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»Hallo, alle miteinander«, sagte er, als er zu seinen Freunden trat. »Was gibt’s Neues außer dem Erdbeben, das die ganze Stadt erschüttert?«

»Richie!«, sagte Nate. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Alter, du hast mich auf einem führungslosen Boot sitzenlassen, ich bin in die Tribüne gerast und hab mir den Arm gebrochen. Noch Fragen?«

Richie biss sich auf die Lippe. Die Verletzung sah schmerzhaft aus, und Nate erkannte, dass sein dreizehnjähriger Lehrling versuchte tapfer zu sein.

»Tut mir leid.«

»Keine Sorge«, sagte Richie. »Ich mag dich trotzdem. Außerdem haben wir gewonnen!« Richie deutete auf den breiten Graben im Spielfeld.

Nate schaute um sich. Wasser suchte sich immer den niedrigsten Punkt, und so war der Plansch unweigerlich in den Graben abgeflossen wie Badewasser aus einer Wanne.

»Das war Wahnsinn, Mann«, sagte Richie. »Du hast gerade den größten Dämon des Planeten besiegt. Ich wette, so was hat’s in der langen Dämonenhütergeschichte noch nie gegeben!«

Der Wind flaute ab, und Flappy kam herabgeflattert und setzte sich auf die Brause-Werbetafel neben seinen Gefährten Pernikus, der noch als giftgrüner Farbklecks an der Tafel klebte und sich langsam wieder zusammenfügte. Nikolai schob seinen verkohlten Kopf unsicher über die Bootsreling.

»Nik«, keuchte Nate, der zu erschöpft war, um seine Erleichterung zu zeigen. »Du bist am Leben.«

Die geschwärzte Knobelbox lag auf dem Spielfeld neben dem Graben, in dem der Plansch abgeflossen war. Sandy deutete auf die Box, und Nate und Richie folgten ihrem Blick. Lilli setzte sich auf und schaute ebenfalls in die angewiesene Richtung.

»Oh, nein …«, stöhnte sie.

Ein pinkfarbener Lichtstrahl strömte aus dem Riss in der Metalloberfläche der Box. Er wölbte sich in weitem Bogen nach oben und malte einen breiten Pinselstrich an den Himmel. Erst war es nur ein einziger Farbton, dann waren es zwei, dann vier. Die Farben stiegen immer höher, bis sie sich vom Rand des Grabens über die ganze Stadt erstreckten.

»Ein Regenbogen«, sagte Sandy.

»Das ist Zoot«, sprach Lilli die ersten zusammenhängenden Worte, seit ihr Wasser in die Lunge geflossen war.

»Wie ist er da hochgekommen?«, fragte Richie.

Nate blickte zur Werbetafel, wo Pernikus noch dabei war, sich zusammenzufügen. Nates stürmischer Winddämon-Gehilfe war verschwunden. Nate schaute wieder zum Himmel auf.

»Flappy trägt ihn.«

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