13. Kapitel

Aus eins mach zwei

Die Ankunft des Versorgungsboots war ein großes Ereignis auf dem isolierten Plastikklumpen, der wie ein eigensinniger Eisberg im Pazifik dümpelte. Das Ankunftsdatum war ein streng gehütetes Geheimnis. Als die Leute sahen, wie das grüne Gefährt auf die Insel zugetuckert kam, erhob sich lautes Freudengeschrei, und alles stürmte zur Anlegestelle, die kaum mehr war als ein Plastikquader von der Größe einer Einfahrt. Sie ragte ein Stück vor und klatschte, während die Insel auf und ab schwappte, unablässig aufs Wasser wie eine Zunge, die der Welt Himbeeren entgegenspuckt.

Das Boot bedeutete frisches Obst, Gemüse, Reismilch, biologisch abbaubares Shampoo, chemiefreie Sonnencreme, Patschuliöl, um den Schweißgeruch menschlicher Ausdünstungen zu überdecken, und andere Notwendigkeiten für das Inselleben. Es gab keine Genussmittel außer zwei Kästen Bier, was bedeutete, dass jeder Inselbewohner eine Flasche bekam. Einige Leute tauschten ihr Bier gegen Äpfel oder Orangensaft. Fleisch gab es natürlich keines. Jeder auf der Insel war Vegetarier. Nate war sich nicht sicher, ob dies eine strenge Regel war oder nur ein Zufall, aber während er beim Entladen half, erinnerte ihn sein Heißhunger auf einen saftigen Hamburger daran, dass er nicht hierhergehörte. Die Lebensmittel waren allesamt organisch und blieben nicht lange frisch, da sie keine Konservierungsstoffe enthielten. Carma erklärte, dass nach einigen Tagen der Schlemmerei die Mahlzeiten wieder aus Dosenessen und Seegras bestehen würden, bis einige Wochen später die nächste Lieferung eintraf.

Eigentlich dachte Nate gar nicht ans Essen. Vielmehr studierte er das Boot. Es war größer als die WANDERER, etwa fünfzehn Meter lang, aber immer noch klein genug, um damit zurechtzukommen, befand Nate. Er verspürte einen Anflug von Traurigkeit wegen des Verlusts von Dhaliwahls altem Boot. Es hatte den Dämonenhütern drei Generationen lang gute Dienste erwiesen und ihm selbst zweimal das Leben gerettet. Nun war es nur noch Kleinholz, das im Großen Pazifischen Müllstrudel trieb, ein trauriges Grab für ein so edles Gefährt.

Carma trat hinter ihm heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist zum Verrücktwerden, oder? Da steht direkt vor unserer Nase ein Fluchtfahrzeug, das uns von dieser schwimmenden Kläranlage fortbringen könnte, und morgen früh ist es einfach wieder weg.«

»Warum bitten wir den Doktor nicht einfach, gehen zu dürfen?«, fragte Nate.

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»Niemand darf gehen«, entgegnete Carma. »McNeil möchte diesen Ort zwei Jahre lang aufbauen, bevor er sich an die Öffentlichkeit wendet. Er vertraut keinem, deshalb darf niemand außer der Bootsbesatzung die Insel vorzeitig verlassen.«

»Wie lange seid ihr alle denn schon hier?«

»Dreihundertvierundzwanzig Tage. Aber wer zählt schon mit?«

»Na du, und du klingst verbittert«, sagte Nate. Er dachte über das Boot nach, während er Dosenerbsen auf einen Plastikschlitten lud. »Könnte ich nicht einfach an Bord schleichen und mich irgendwo verstecken?«

»Es wird bewacht«, sagte Carma. Sie deutete auf Franco, der mit verschränkten Armen neben dem Liegeplatz stand und die Leute argwöhnisch beobachtete. »Und bevor es ablegt, wird abgezählt, ob wir noch alle da sind.«

»Dann gibt es keine Möglichkeit, die Insel zu verlassen.«

»Doch, eine gibt es«, sagte Carma.

»Welche denn?«

»Man müsste das Boot entführen.«

Nate runzelte die Stirn. »Korrigier mich, falls ich etwas Falsches sage, aber selbst unter normalen Menschen wird eine Schiffsentführung auf dem offenen Meer mit dem…«

»… Tod bestraft«, beendete Carma den Satz für ihn. »Ja, man müsste extrem vorsichtig sein. Und vorher monatelang planen.«

Nate hob die Brauen. Sie nickte ihm zu, bestätigte seinen Verdacht.

»Und warum bist du dann noch hier?«, flüsterte er.

»Ich kann auf hoher See kein Boot navigieren. Ich bin als Passagier hergekommen. Falls ich es allein versuchte, wäre ich auf dem Meer verloren. Da könnte ich mich auch gleich aussetzen lassen. Und jemanden um Hilfe zu bitten, kann ich nicht riskieren. Derjenige könnte mich an McNeil verraten, dann müsste ich nach Hause schwimmen. Er sagt immer: ›Wenn es euch hier nicht mehr gefällt, könnt ihr die Insel jederzeit verlassen.‹« Sie deutete auf Nate. »Aber du kannst ein Boot navigieren, und ich weiß genau, dass du abhauen willst und dass du mich auf keinen Fall an McNeil verraten würdest. Du kannst mich hier rausholen.«

 

Am frühen Abend versank die Sonne im Meer, und es wurde still auf der »Insel der Hoffnung«, wie ihre Bewohner sie nannten. Carma nannte sie »Insel der Hoffnungslosen«. Die Insulaner zogen sich nach einem langen schweißtreibenden Arbeitstag in ihre Iglus zurück, um ihre wenigen Äpfel und ein Bier zu genießen und schlafen zu gehen. Bald darauf wurde es Zeit für Nate, Carma zu treffen.

Sie hatte ihn instruiert, gleich nach Sonnenuntergang zu ihrem Iglu zu kommen. Er konnte sich im Lager frei und unbeobachtet bewegen, da man ja nirgendwohin fliehen konnte. Franco hielt am Boot Wache, und dessen Erster Maat, Victor, schlief gleich daneben auf der Anlegestelle, während Doktor McNeil mit dem Käpt’n zusammensaß, der, wie es gerüchteweise hieß, ein paar zusätzliche Biere für sich selbst und McNeil auf die Insel geschmuggelt hatte.

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Carma hatte Nate nicht ihren gesamten Plan verraten, was ihn abhängig von ihr machte und ausschloss, dass er ohne sie verduftete. Sie war schlau. Das war gut, denn sie war jetzt seine Partnerin. In seinem Iglu stopfte er seine Kleidung in einen Plastikbeutel, denn er trug inzwischen den gleichen Plastikkittel wie die Inselbewohner. Doktor McNeil hatte ihm erklärt, es helfe der Solidarität untereinander, wenn alle das Gleiche trügen, und Carma hatte ihm geraten, sich daran zu halten. Aber nach der harten Arbeit auf dem Schmelzfeld und drei kargen Seegras-Mahlzeiten war die Plastikkleidung ohnehin seine geringste Sorge, obwohl er sich schon darauf freute, bald wieder seine Baumwollsachen anziehen zu können.

Nate durchquerte das Lager zu Carmas Iglu und blieb einen Moment lang nervös davor stehen. Hinter ihm zog sich sein Schatten in die Länge, weiter und weiter, und er selbst hatte das Gefühl, immer dünner zu werden. Es war sonderbar, dachte er, denn als die Sonne vollständig hinter Carmas Iglu verschwunden war, war der Schatten immer noch da. Blitzschnell hechtete er los und drückte die dunkle Gestalt zu Boden. Sie warf sich herum und versuchte sich seinem Griff zu entwinden.

»Ich hab dich, du kleiner Schleicher«, flüsterte Nate. Es war ein gewöhnlicher Dämon – Dhaliwahl hatte die Sorte »Schattenpuppe« genannt. Nate stopfte sie in den Beutel, wo es stockduster war. Die Schattenpuppe würde dort völlig zufrieden sein.

In dem Moment schwang die Luke des Iglus auf.

»Kommst du rein, Partner?«, fragte Carma. Sie blickte an Nate vorbei, um zu prüfen, ob sie beobachtet wurden, und setzte sicherheitshalber ein breites Lächeln auf, damit es so aussah, als würde sie sich nur über den männlichen Besuch freuen. »Es ist besser, wenn es scheint, als würde ich dich tatsächlich mögen«, erklärte sie.

»Tust du es denn?«, fragte Nate, ehe er sich auf die Zunge beißen konnte.

Carma zögerte. »Unter pragmatischen Gesichtspunkten schon«, sagte sie schließlich. »Es ist besser, Geschäftliches nicht mit Privatem zu vermischen.«

Dann packte sie ihn bei den Schultern, gab ihm einen dicken Kuss, zog ihn herein und schloss hinter ihm die Luke.

Carma ließ ihre Lippen noch einige Sekunden auf seinen verweilen, und zwar so lange, dass Nate nach Luft schnappte, als sie schließlich von ihm abließ.

»Ich dachte, wir hätten eine… Geschäftsbeziehung«, stammelte er.

»Das war nur Show, für den Fall, dass uns jemand beobachtet«, sagte sie. »Außerdem habe ich seit einem Jahr keinen hübschen Jungen mehr gesehen, und morgen könnten wir sterben.«

Nate stand unbehaglich in der Mitte von Carmas Iglu. Es war spärlich möbliert mit zwei Plastikschemeln zum Sitzen, einer Plastikbox für ihre Habseligkeiten und einem weichen Feldbett. Sie setzte sich darauf, und unter ihrem Gewicht bog es sich durch, da es wegen des Schlafkomforts aus biegsamem Plastik bestand.

»Setz dich«, sagte sie. »Lass uns reden.«

Nate setzte sich auf den Schemel am Bettende. »Worüber denn?«

»Über den Rest des Plans.«

»Beinhaltet er weitere Küsse?«

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»Sei nicht blöd«, sagte sie. »Ab jetzt geht es um Leben oder Tod, und wir müssen schnell vorgehen.« Carma wühlte in ihrer Box, warf ihre Habseligkeiten achtlos zu Boden und legte gelegentlich etwas zur Seite, das sie mitnehmen wollte. »Ich habe jetzt seit fast einem Jahr Plastikkrümel von der Kläranlage zu den Feldern gekarrt und sie wie Dünger darauf verteilt«, fuhr sie fort. »Nur dass darauf niemals etwas wachsen wird. Wir sammeln nur Müll und kleben ihn auf einen schwimmenden Plastikbrocken, den wir unser Zuhause nennen, wir Glücklichen. Den Ozean zu reinigen ist eine ehrenwerte Sache, aber das Leben hier ist die reinste Sklaverei, und McNeil ist ein verrückter, größenwahnsinniger Diktator. Die bringen jeden um, der zu fliehen versucht. Das ist dir doch hoffentlich klar.«

»Ja.«

»Stimmt, ich habe deine unterschwellige Unzufriedenheit gespürt, aber das haben die anderen auch. Und ich habe dir deinen Hintern gerettet, ansonsten hätte Franco dich geradewegs in den Pazifik zurückbefördert, und du würdest jetzt in einer Rettungsweste im Meer treiben, mit nicht mehr als einer Wasserflasche in Händen und einer dünnen Schicht Sonnencreme auf der Nase. Mit meiner Fürsprache bin ich ein großes Risiko eingegangen, deshalb reiß dich jetzt zusammen, und halte dich an das, was ich sage.« Sie zog ein großes Drahtsieb und einige Metallklemmen unter der Kleidung in ihrer Box hervor und drückte ihm alles in die Hand. »Hier.«

»Was ist das?«

»Kannst du das an der Bootsschraube befestigen, damit sie nicht durch das Plastik blockiert wird? Ich hoffe doch. Es war extrem gefährlich, mir die Sachen zusammenzusuchen. «

»Ich, ähm, denke schon«, stammelte Nate.

»Und ich muss wissen, wie ich dich auf dem Festland erreichen kann, falls uns die Flucht gelingt, wir aber unterwegs voneinander getrennt werden. Hast du eine Telefonnummer? Hier, schreib sie mir auf den Bauch, damit ich sie nicht verliere. Deine Adresse auch.« Sie zog ihr T-Shirt hoch und reichte ihm einen schwarzen Filzstift.

»Ich bin verwirrt«, sagte Nate und hockte sich hin, um folgsam auf Carmas Bauch herumzukritzeln; wie er sah, hatte sie ein Bauchnabelpiercing, und der Bauch selbst war ziemlich straff von der monatelangen Schufterei auf den Schmelzfeldern.

»Du hast keine Zeit für Verwirrung, Kumpel«, entgegnete Carma. »Ich habe die Dinge bereits in Bewegung gesetzt, und mein Plan ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Ich habe jemanden, der Franco in den nächsten Minuten ablenkt – es hat mich mein Bier gekostet. Aber falls irgendetwas Verdächtiges geschieht, wird der Kerl augenblicklich zur Stelle sein. Und jetzt gehen wir los und krallen uns das Boot, oder wir hängen morgen früh in Rettungswesten im Pazifik.« Sobald er fertig geschrieben hatte, zog sie sich das T-Shirt wieder über den Bauch. »Falls wir überleben«, fügte sie hinzu, »und das ist ein großes ›Falls‹, dann schulde ich dir noch einen Kuss.« Damit stand sie auf, öffnete die Luke und bedeutete ihm, aus dem Iglu zu steigen.

Draußen nahm sie Nate bei der Hand und setzte sich in Richtung Boot in Bewegung, stieß aber sogleich gegen einen Mülleimer, der wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Sie stürzte der Länge nach hin, und als sie am Boden aufschlug, rutschte ihr der Plastikkittel über den Kopf und verwickelte sich über ihrem Gesicht.

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Nate sah verblüfft zu, während Carma – nur in Unterwäsche – blindlings mit dem Plastikkittel rang. Nate rief nicht um Hilfe, um niemanden auf sie aufmerksam zu machen, aber Carma schien zu ersticken. Er beugte sich zu ihr herab, um ihr zu helfen, während sie mit den Händen am Kittel zerrte und mit den Füßen auf den Boden stampfte.

Und plötzlich spürte er, wie sich ihm die Nackenhärchen aufstellten, und ihm wurde klar, was geschah. Er schimpfte mit wütender, aber gedämpfter Stimme: »Pernikus! Nikolai! Ihr Schwachköpfe, sie ist mein Partner. Wir wollen zusammen fliehen!«

Nik linste mit schuldbewusstem Blick über den Mülleimerrand, und Pernikus glitt aus dem Plastik um Carmas Kopf heraus. Die Oberlippe des kleinen Hauskobolds zuckte unkontrolliert, als wollte er gleich losprusten, aber unter Nates funkelndem Blick riss er sich zusammen.

Als Nate Carma von dem störrischen Plastikkittel befreit hatte, war sie völlig durcheinander und bebte vor Zorn.

»Beruhige dich«, sagte Nate. »Die beiden gehören zu mir.«

»Wer gehört zu dir?«, japste sie und stieß Nate zurück.

Nik und Pernikus hatten sich vor lauter Scham längst wieder versteckt.

»Schon gut«, sagte Nate und zuckte zusammen, als der Müllereimer umkippte und scheppernd über den Boden rollte. Der ganze Vorfall war ein einziges Tohuwabohu. »Ich hoffe, dies war nicht die Art von verdächtiger Aktivität, die die Aufmerksamkeit verursachen würde, vor der du dich so fürchtest«, sagte er.

Wie als Antwort schallte eine befehlsgewohnte Stimme durchs Lager. »Was ist das für ein Tohuwabohu?!«

Nate und Carma wandten sich um. Doktor McNeil stand vor seinem Iglu, mit einem der vermuteten Extrabiere in der Hand.

»Was tut ihr da?«, blaffte er und kam auf sie zugetaumelt.

»Zum Boot!«, raunte Carma, deren Plan sich plötzlich zerschlagen hatte.

McNeil schüttelte die Faust, und Nate sah, dass der Doktor im Begriff war, das ganze Lager aufzuscheuchen. Er erinnerte sich an seinen Plastikbeutel und schleuderte ihn über die Feuergrube. Der Verlust seiner Baumwollkleidung ärgerte ihn, als der Beutel gegen McNeils Iglu prallte und seine Sachen herausfielen. Auch die Schattenpuppe purzelte ins Freie und hielt im Mondschein nach jemandem Ausschau, an den sie sich anhängen konnte. McNeil war dem kleinen Dämon am nächsten. Der stürzte sich auf den Doktor und packte seine Füße. McNeil hatte ein Extrabier zu viel intus, so dass der dünne Dämon ihn mühelos zu Boden riss.

»Was ist los mit dir?«, drang eine Stimme aus McNeils Iglu. »Zeig den anderen doch nicht unser zusätzliches Bier.« Der Käpt’n stieg aus der Luke. »Ahh, du hast es verschüttet. « Er half McNeil auf die Beine und hob dessen umgekippte Bierflasche auf.

»Aber ich habe jemanden gesehen. Ich habe etwas gehört. Wir müssen der Sache nachgehen«, brabbelte McNeil. »Franco!«

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Der Käpt’n zog den Doktor unsanft in das Iglu zurück. »Du bist auf den Hintern gefallen, du beschwipster paranoider Taps«, grummelte er. »Du bleibst jetzt schön hier und hältst dich von den anderen fern.«

Beinahe hätte Nate erleichtert geseufzt, aber zu seinem Entsetzen kam aus einem anderen Iglu plötzlich eine hünenhafte Gestalt herausgeklettert. Franco. Die junge Frau, die ihn zu sich eingeladen hatte – Carmas geheime Helferin – , schloss schnell die Luke hinter ihm, während Franco sein tragbares Katapult umschnallte.

Nate zögerte keine Sekunde. Er rannte los, gerade als das erste Meerwassergeschoss an ihm vorbeisegelte und am Mülleimer explodierte. Franco fluchte, lud nach und nahm die Verfolgung auf.

Obwohl nur eine leichte Abendbrise wehte, rollte der umgekippte Mülleimer unablässig weiter. Im Innern rannten Nik und Pernikus wie Hamster in einem Laufrad, trieben den Plastikbehälter hinter Nate und der davoneilenden Carma voran.

Das Boot war gut vierhundert Meter entfernt, und als Nate und Carma es erreichten, waren sie völlig aus der Puste. Auf der Anlegestelle war der Erste Maat aufgesprungen, alarmiert von der plötzlichen Unruhe. Er hielt ein Filetmesser in der Hand. Nate und Carma blieben abrupt stehen. Ihr Plan hatte vorgesehen, dass der Mann schlafen würde.

Hinter ihnen erschien Franco und machte das Katapult bereit, um das nächste Geschoss abzufeuern. Der heranrollende Mülleimer stoppte zu Füßen des großen Franzosen, der das schwere Katapult vor seiner Brust zurechtrückte und Nate ins Visier nahm. Der Eimerdeckel sprang auf, und zwei Augenpaare starrten zu Franco auf.

Nate blickte nach links und rechts. Er und Carma saßen zwischen Franco und dem messerschwingenden Seemann in der Falle.

»Davonlaufen geht nicht«, sagte Carma. »Wir können nirgends hin.«

»Tut mir leid«, entgegnete Nate. »Das habe ich uns eingebrockt. «

Carma seufzte resigniert. »Vielleicht erlöst mich ja ein Kopfschuss aus meinem Elend. Immer noch besser, als langsam im vermüllten Meer zu verrecken.«

Franco grinste, aber als er sein Geschoss abfeuerte, schnellte Pernikus mit ausgestreckten Ärmchen empor, hängte sich an die Wasserpatrone und änderte mit wildem Gezappel die Flugbahn. Die Patrone prallte gegen Victors Brust und schleuderte ihn rückwärts in den Ozean. Platsch! Pernikus segelte durch die Luft und landete auf dem Bootsdeck, während der Mülleimer zu Nate hinüberrollte.

Nikolai sprang Nate in die Arme und verdrückte sich schnell in die Falten seines Plastikkittels.

»Aufs Boot!«, rief Nate Carma zu.

McNeil war inzwischen aus seinem Iglu gestürmt und beorderte die anderen Inselbewohner mit lautem Gebrüll ins Ruderboot. Franco, den der im Wasser treibende Erste Maat nicht kümmerte, zog sich das Katapult von der Brust und stürmte Nate und Carma hinterher, die zur Anlegestelle rannten.

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Carma schnappte sich das heruntergefallene Filetmesser des Maats und kappte damit die Taue, die das Boot mit der Anlegestelle verbanden. Nate sprang bereits an Bord. Kurz darauf waren alle Leinen gelöst, und das Boot begann, ins offene Meer hinauszutreiben, als Franco zu Boden hechtete und eines der gekappten Taue packte. Er sprang auf, schlang sich das dicke Seil um die kräftigen Arme und zog das Gefährt langsam, aber stetig wieder zur Insel zurück. Unterdessen suchte Nate nach dem Schalter, mit dem man den Motor startete. Andere Inselbewohner rannten herbei und halfen Franco beim Tauziehen. Das Boot trieb auf die Anlegestelle zu, bis es dagegenschlug und zum Stillstand kam.

»Wir sind erledigt«, sagte Carma.

Nate hatte den Schalter gefunden und startete den Motor, aber es nützte nichts. Sechs Inselbewohner hielten das Boot fest.

»Hol sie da runter!«, herrschte der wütend heranstapfende McNeil Franco an. »Ich hätte wissen müssen, dass wir keinen Angespülten aufnehmen dürfen. Aber du, Carma … wie konntest du nur unsere wohltätige Gemeinschaft derart hintergehen?«

Carma funkelte McNeil an. »Wohltätig?«, brüllte sie. »Sie sind ein durchgeknallter Umweltpsychopath!«

Nate befand, dass damit jede Chance dahin war, sich vielleicht noch aus dem Schlamassel herauszureden …

McNeil schnippte mit den Fingern, worauf Franco und drei andere Inselbewohner sich in Bewegung setzten, um die beiden Ausreißer vom Boot herunterzuholen. Der bewusstlose Erste Maat trieb immer noch rücklings im seichten Wasser, was auch den Doktor nicht im Geringsten zu kümmern schien.

Nate schaltete den Motor in den Rückwärtsgang, aber gegen den Zug der Inselbewohner kam die Bootsschraube nicht an, und immer neue Leute gesellten sich dazu und stemmten sich mit aller Kraft ins Seil. Carma richtete das Messer auf Franco, als der am Bug an Bord stieg und sich auf der breiten Reling vor ihr aufbaute. Carma holte aus und warf das Messer auf den Hünen. Aus zwei Meter Entfernung konnte sie ihn nicht verfehlen.

Allerdings handelte es sich um ein Filet- und nicht um ein Wurfmesser und war entsprechend schlecht ausbalanciert. Es überschlug sich zweimal in der Luft, prallte mit dem Griff gegen Francos steinharten Bauch und fiel zu Boden.

»Oh-oh«, sagte Nate.

Dann beging der Hüne einen Fehler, wie Nate sogleich wusste. Franco lachte Carma aus. Er stand noch immer breitbeinig auf der Reling, zeigte mit dem Finger auf Carma – Nate hatte schon als Kind gelernt, dass man so etwas nicht tat – und machte sie vor allen Leuten lächerlich.

»Du glaubst, du kannst dich mit mir anlegen?«, sagte er. »Hey, ich bin Franco, und du bist nur ein schwaches dummes Mädchen!«

Nate sah, wie Carma die Zornesröte ins Gesicht stieg. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ihr Blick glich dem einer wütenden Raubkatze und bohrte sich in Franco. In dessen Haut würde er gerade nicht stecken wollen, überlegte Nate. Dann stürmte Carma los.

Sie prallte mit voller Wucht gegen Francos Beine und stieß ihn von der Reling. Der Hüne stürzte rückwärts ins Wasser, aber leider wurde auch Carma vom eigenen Schwung mit in die Tiefe gerissen. Nate rannte zum Bug und sah, wie die beiden im Wasser miteinander rangen.

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»Carma, komm zurück!«

Aber es war zu spät. Die Inselbewohner sprangen vor, um sie zu packen und aus dem Wasser zu fischen.

Aber genau in dem Moment schallte ein ohrenbetäubendes Knirsch über die Insel. Alle erstarrten. Der Boden erbebte, als ein riesiger Spalt den Strand durchpflügte und zur Mitte der Insel raste und sie nahezu auseinanderriss.

»Kail!«, rief Nate.

Eine weiteres bebendes Knirsch holte die Inselbewohner von den Beinen, und sie ließen die Taue fallen, an denen das Versorgungsboot festhing. Der tückische Spalterdämon hatte einen Weg an Land gefunden, dachte Nate. Irgendein Holzsplitter der WANDERER, in dem Kail gesteckt hatte, war an den Strand gespült worden. Er war ein geduldiger Dämon. Er konnte jahrhundertelang still daliegen und den richtigen Moment abwarten, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Und dieser Moment war jetzt. Ausnahmsweise war Nate überglücklich, Kail wieder in Aktion zu erleben.

Die Insel brach vollends auseinander, und die beiden Hälften kippten, sobald sich ihre Ausrichtung im Wasser verändert hatte, in seltsamen Winkeln auf die Seite. Die eine Hälfte stellte sich fast augenblicklich auf den Kopf und schleuderte die Inselbewohner ins Meer, darunter auch Doktor McNeil, der in hohem Bogen durch die Luft segelte, bevor er auf dem Wasser aufschlug und die umgestülpte Inselhälfte auf ihn herabkrachte.

Die Hälfte, auf der die anderen Leute standen, kippte langsamer, so dass die Inselbewohner ins Wasser rutschten wie Kinder auf einer Wasserrutsche im Erlebnispark.

Nate hielt nach Carma Ausschau, doch sie war im aufgewühlten Wasser verschwunden. Er wusste nicht, ob sie noch lebte oder bereits ertrunken war.

Franco hingegen war nicht verschwunden. Er rief um Hilfe, kam auf das Boot zugeschwommen. Doch Nate blieb keine Zeit, um zu überlegen, ob er den Franzosen retten sollte. Direkt hinter ihm tauchte im Wasser eine Gruppe gelber Enten auf. Anderer Plastikmüll gesellte sich dazu und begann, Franco zu umschließen, und Nate wusste, dass der Hüne dem Untergang geweiht war.

Nate eilte zum Gashebel und tuckerte vorsichtig auf die umgestülpte Inselhälfte zu. Er kam an mehreren Inselbewohnern vorbei, hielt aber nicht an. Stattdessen stieß er mit dem Bug gegen die Insel. Ein scharfes Schnapp erklang, und aus der Plastiklandmasse fuhr ein Spalt herauf ins Vorderdeck des Boots, als Kail an Bord kam. Nate hatte seinen Dämon gerettet. Die Inselbewohner hingegen würde er nicht aus dem Wasser fischen, beschloss er. Sie wären in der Überzahl und würden ihn gewiss nicht nach Hause zurückkehren lassen, wenn sie einmal an Bord gelangt wären. Die meisten klammerten sich jetzt an die umgestülpte Insel. Obwohl nun ohne Unterschlupf und Vorräte, würden sie eine Weile überleben. Er würde ihnen über Funk Hilfe schicken. Traurigerweise war von Carma noch immer nichts zu sehen.

»Haltet durch!«, rief Nate den Leuten zu. »Ich schicke jemanden, der euch rettet.«

Er überprüfte rasch das Funkgerät – es funktionierte –, dann schaltete er in den Rückwärtsgang und begann seine lange Reise nach Osten, zurück nach Seattle.

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