Alles dreht sich um das Baby. Jenny und ich können den ganzen Tag von nichts anderem reden. Vielleicht, weil es so schwer ist, unseren Freunden nichts davon zu verraten, dass wir alle Zeit, in denen wir mit Isa und Tom allein sind, nutzen müssen, um rauszuplappern, was uns zu dem Thema auf der Seele brennt. Isa reagiert immer knapper.

Nachdem sie Tom verabschiedet hat, kommt Isa zurück in die Küche und bremst Jenny mit einer groben Handbewegung, als die nur den Mund geöffnet und noch keinen einzigen Ton gesagt hat.

»Bitte«, flüstert sie, »könntet ihr den Rest des Tages nicht mehr davon sprechen?«

Wir schweigen beide, trinken beschämt unseren Kaffee. Wir sind doch nur so aufgeregt …

»Entschuldigung«, sagt Isa eine Minute später. »Es ist bloß, weil Tom mich jetzt schon gefragt hat, wann wir es denn endlich unseren Eltern sagen können.« Sie gießt sich Tee ein und setzt sich seufzend zu uns. »Dabei bin ich doch erst im dritten Monat«, fügt sie nervös hinzu.

»Du willst doch nicht …« Jenny sieht sie durchdringend an.

Sie denkt dasselbe wie ich. Induzierter Abort. Schwangerschaftsabbruch. Zeitlich wäre es noch möglich, Isa ist über die ersten 14 Wochen noch nicht hinaus. Aber …

»Ich will einfach noch einen Moment drüber nachdenken können«, sagt Isa leise.

»Isa, nein!« Ich kann mich nicht zurückhalten. Es gibt keine medizinischen Gründe. Tom hat einen festen Job. Isa ist gesund. Sie wird eine prima Mama, ganz sicher. Nur weil sie es sich jetzt noch nicht zutraut? Weil ihre Pläne anders aussahen? Es heißt doch, dass Leben genau das ist, was passiert, während man andere Pläne macht!

»Versteht ihr nicht?«, fragt Isa beschwörend. »Wenn sie es erfahren, kommen alle Fragen. Wie wollt ihr das einrichten?, Was wird aus deinem Facharzt?, Hörst du auf zu arbeiten? Ich hab keine Antworten darauf. Überhaupt keine. Denkt ihr nicht auch, ich sollte erst mal selbst ein paar Antworten finden, bevor ich die frohe Botschaft in die Welt hinausposaune?«

Ja. Aber erst mal zählt für mich nur eins. Dass sie es nicht loswerden will. Und trotzdem glücklich wird.

»Also bekommst du es?«, frage ich nach.

»Wer weiß das im dritten Monat?«, entgegnet sie.

Ich verstehe es nicht. Und langsam werde ich wütend. Ein Baby ist doch nicht das Ende des Lebens. Wie kann Isa, ausgerechnet die empfindsame, zartfühlende Isa, darüber nachdenken, es NICHT zu bekommen? Weil sie Angst hat? Weil sie »andere Pläne hatte«? Das passt nicht zu ihr. So kenne ich sie nicht. Ich will nicht, dass sie so ist!

Ich sehe Jenny an. Auch ihr Blick ist bestürzt, ich finde dasselbe Unverständnis auch bei ihr.

Isa mustert uns einen Moment mit undurchdringlicher Miene. »IHR seid die Gynäkologie-Experten«, sagt sie dann. »Ich bin in der zehnten Woche. Es ist noch nicht garantiert, dass ich es bekomme.«

Das stimmt. Innerhalb der ersten zwölf Wochen kommt es bei ca. 20 Prozent der Schwangerschaften zu einem natürlichen Spontanabort. Ich hoffe nur, dass sie nichts anderes meint. Und vor allem, dass sie nicht DARAUF hofft.

»Können wir jetzt arbeiten?«, fragt sie vorwurfsvoll und schlägt ihr Buch auf. Sie stützt die Ellbogen rechts und links neben ihr Lehrbuch auf und den Kopf in die Hände und starrt so konzentriert in das Buch – ein plakatwandgroßes Ich möchte nicht weiter darüber reden-Schild könnte nicht eindeutiger sein.

Ich warte noch einen Moment, aber sie sieht nicht mehr auf. Also widme auch ich mich seufzend wieder der Rheumatologie. Den Rest des Vormittags arbeiten wir schweigend.

Auch Jenny scheint vom Lernteufel regelrecht besessen. Als ich abends an ihrer offenen Zimmertür vorbeikomme, sehe ich, dass sie immer noch am Computer sitzt.

»Du sollst mich nicht beobachten«, sagt sie ohne sich umzudrehen. »Komm lieber rein und hilf mir!«

Sie starrt genervt auf den Bildschirm. Ich kann mir denken, was sie sucht und weiß, dass diese Mühe vergeblich ist.

»Die Kreuztests, die es umsonst im Netz gibt, taugen nichts«, erkläre ich. »Die guten kosten Geld. Aber wir haben noch jede Menge.«

»Um diese Zeit kreuze ich bestimmt nichts mehr«, entgegnet Jenny unwirsch. »Aber was ich hier hab, taugt noch weniger als kostenlose Kreuztests von Dr. Gauner.«

Ich trete näher – und erkenne Felix’ Facebookprofil.

»Das ist wirklich ätzend«, seufzt Jenny, »keiner benutzt hier seinen richtigen Namen!«

Jenny betrachtet die Bilder von Felix’ Freunden.

»Ob sie das ist?«, fragt sie und deutet auf das etwas überbelichtete Foto einer Dunkelhaarigen vor Naturkulisse. »Oder die?« Der Mauspfeil fährt über das Bild einer Blonden, die neckisch über ihre Schulter blinzelt.

Alles klar. Sie sucht nach Nadja.

»Wenn ich wenigstens ihren Nachnamen wüsste«, schnaubt sie, »irgendeinen Anhaltspunkt …«

»Hör einfach auf damit«, rate ich ihr. »Erstens enthalten die meisten Alibinamen sowieso keinen Hinweis auf den echten. Und zweitens hätte Felix sie dir gezeigt, wenn ihm das recht wäre.«

»Vielleicht Anna Blume?«, fragt Jenny, als hätte sie mich gar nicht gehört. »Nein, ich hoffe, sie ist nicht so gebildet.«

Sie ruft das nächste Profil auf, statt Foto zeigt es eine sexy Katze im Comicstil. »Und wenn es die hier ist? Cat Woman?«

Sie sieht mich unsicher an. Falls sie das ist, hat Jenny nun auch nicht mehr über Nadja in Erfahrung gebracht, als dass sie extrem von sich überzeugt ist.

»Quatsch, meistens sind es Spitznamen«, beruhigt Jenny sich selbst. »Cat klingt eher nach Cathrin, Kati, Katharina, oder?« Ich stimme ihr zu. Vielleicht heißt Cat Woman eigentlich nur Katja Wonnemann. Falls ja, hat Katja das Beste draus gemacht.

Jenny klickt weiter zum Partyschnappschuss einer überfröhlichen Tanzmaus. Sugar Brown, faucht sie, »was der für Weiber kennt!«

»Ja, unmöglich!«, falle ich im selben Beschwerdetonfall ein. »Manche von denen spionieren sogar in seinem Facebookprofil!«

»Es ist kein Spionieren, wenn jemand das alles bewusst online stellt«, schnaubt Jenny. »Oh, Mann, ich hoffe, es ist nicht Luna Cardinale!«

Sie zeigt auf eine bildschöne Traumfrau. Jedenfalls eine Frau mit traumhaft schönem Bild. (Vielleicht auch nur eine Frau, die traumhaft mit dem Bildbearbeitungsprogramm verschönern kann.)

Jennys Blick ist besorgt. »Sicher nicht«, sage ich schnell, um sie zu beruhigen. »Das könnte zur Abwechslung mal ein echter Name sein.«

»So was gibt’s nicht«, widerspricht Jenny. »Dass jemand SO aussieht und dann noch einen so perfekt-romantischen Namen hat.«

Trotzdem, Luna Cardinale ist es nicht. Jenny ruft ihr Profil auf, es ist für jeden zugänglich und entlarvt, dass Luna nicht dieselbe Schule besucht hat wie Felix.

Mir ist wirklich nicht wohl dabei. Nicht nur, weil Felix so offenkundig nichts von Nadja erzählen wollte. Sondern auch, weil ich überzeugt bin, dass Jenny diese eingehende Beschäftigung mit Felix’ Online-Freundinnen und ihren unüberprüfbar-abersicher geschönten Selbstdarstellungen nicht besonders guttut.

»Was würdest du tun, wenn er dir sagt, dass es die Schöne mit dem Luna-Pseudonym ist?«, gebe ich zu bedenken.

»Dann ginge es mir besser«, knurrt Jenny, »weil ich dann wüsste, dass sie wenigstens …« Sie stöbert wieder in Luna Cardinales Profil. Offenbar findet sie auf die Schnelle nichts, was Luna deklassiert. Sie durchsucht Lunas Musik- und Film-Lieblinge – leider alles Dinge, auf die Jenny selbst steht – und Lunas Hobbys: surfen, Politik und Tanzen – autsch.

Jenny klickt immer schneller, in dem unbedingten Willen, irgendeinen Makel an der unbekannten und bewiesenermaßen unschuldigen Luna zu finden.

»Ha!«, ruft sie schließlich erleichtert, »›Labtop‹ mit B! … Siehst du?« Anklagend deutet sie auf das falsch geschriebene Wort. »Dann wüsste ich wenigstens, dass sie eine Niete in Rechtschreibung ist!«

»Und das würde helfen?«

Jenny nickt. Aber mag es auch armselig sein – trotzdem stellt mich Lunas endlich aufgestöberter Makel ebenfalls zufrieden. Weil es so beruhigend ist, dass sie nicht rundum perfekt ist.

Ja, doch. Ich verstehe, wie gut das tut. Dabei hat mir die fastperfekte Luna NICHTS getan. Schon gar nicht mit meinem Freund geschlafen.

Ich entdecke noch eigendlich und Interresse, womit feststeht, dass Labtop kein Ausrutscher war, und wir grinsen uns charakterlos-befriedigt an. Die kleine Rechtschreibschwäche gleicht den schönen Namen, die perfekte Figur und Surfen-Tanzen-Politik absolut aus. (Wir sind ja keine verbitterten Neidhühner – wir können nur besser schlafen, wenn sie nicht auch noch den Nobelpreis für Literatur bekommt.)

»Du weißt, dass genau das der Grund ist, warum Felix dir nichts über sie sagt, oder?«, frage ich behutsam.

»Und du weißt, dass genau das dich auch verrückt machen würde, oder?!«, kontert Jenny.

Keine von uns muss es aussprechen. Nadja hat wahrscheinlich keine Rechtschreibschwäche.

Als ich Jenny allein lasse und an Isas Zimmer vorbeikomme, sehe ich, dass auch sie noch am Computer sitzt. Aber sie stalkt sicher keine fremden Freunde.

Ich schiebe die Tür noch ein bisschen weiter auf. »Isa«, sage ich vorsichtig, »ich wollte mich nicht einmischen, nur …«

»Komm rein«, antwortet sie, »aber sag nichts.«

Ich trete näher und sehe, dass ihr Computer auch keinen Lehrstoff zeigt. Sondern Ultraschallbilder. Zehnte Woche – so groß ist Ihr Baby.

Ich bin froh; ein Bild sagt mehr als all meine Argumente.

»Tut mir leid, dass ich dich so ausgefragt habe«, entschuldige ich mich. »Es geht mich nichts an, wie du dich entscheidest.«

»Ach, Lena«, seufzt Isa, ohne aufzusehen. »Glaubst du wirklich, ich könnte das?!«

Nein, ich glaube es nicht. Nur deshalb habe ich so nachdrücklich auf sie eingeredet.

»Ich wusste es nur nicht«, flüstert Isa, »aber tatsächlich dreht sich doch mein ganzes Leben schon seit Wochen um das Baby.«

Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern
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