Ja, lasst die arme Steinbruch-Lena ruhig alle im Stich! Sie wird schon zurechtkommen, allein, nur in Gesellschaft tausender winzig bedruckter Seiten voller Formeln und hochkomplizierter Abbildungen …
»Es ist doch nur, weil er mir so fehlt«, verteidigt sich Isa leise. »Nur übers Wochenende …«
Ich habe doch gar nichts dagegen, dass sie zu Tom fährt. Nur dagegen, hier allein zurückzubleiben. Einzig in Gesellschaft meiner Bücher. An einem Sommer-Wochenende.
Vier Tage lief es so prima! Wir haben acht Stunden vorbildlich gelernt und in genau richtigem Maße Essens- oder kreative Aufheiterungspausen eingelegt – nicht zu wenige, aber nicht zu lang. Wir haben füreinander Kapitel zusammengefasst und uns abends so ausführlich gegenseitig gelobt, dass Isa voller Kraft in ihr Abend-Lesepensum und ich voller Zufriedenheit ins Bett gegangen bin. Und nun will auch sie mich verlassen. Für ein ganzes Wochenende!
Versuch es positiv zu sehen, Lena. Wenigstens hast du Mündliche Prüfung kompakt jetzt zweieinhalb Tage ganz für dich allein.
Kaum ist Isa gegangen, fallen mir zwei Dinge auf: die Stille in der Wohnung. Und der Lärm vor dem Fenster. Nicht, dass Isa laut liest, beim Lesen schnauft oder in 60-Dezibel-Laustärke die Seiten umblättert. Aber die Stille nach ihrer Abreise ist eindeutig menschenleer. Das leise Rattern des Kühlschranks ist bis in mein Zimmer zu hören.
Draußen herrscht dafür ein Trubel, der blanker Hohn sein könnte – nur organisiert, um mir zu demonstrieren, wie doof es ist, hier drin und allein zu sein. Autos, Menschen, Stadtgeräusche.
Ich habe das Fenster geöffnet, um einen Hauch Sommerluft um mich und ein wenig am Leben draußen teilzuhaben. Aber nun konzentriere ich mich nur noch auf die Klänge aus dem Café an der Ecke. Geschirrklappern. Leise Musik. MamakannicheinEis. Ich schließe das Fenster wieder – lieber ersticke ich hier drin. Ich passe meine Atmung dem Kühlschrankgeräusch an. Rrrrrrrrrrrrt – ein, rrrrrrrrrrrrt – aus. Und das soll nun mein Sommer sein.
Jetzt, da niemand anderer mehr in der Wohnung arbeitet, ist es plötzlich dreimal so schwer, diszipliniert bei der Sache zu bleiben. Als ob es nichts ausmacht, wenn man faulenzt, solange niemand es merkt.
Gerade lese ich zum vierten Mal den Anfang des Kardiologie-Kapitels AV-Knoten-Reentry-Tachykardie, Präexzitations-Syndrome, als das Telefon klingelt.
Danke, danke, Schicksal! Selbst wenn es nur eine Umfrage zum Thema Nutzungshäufigkeit der Personenaufzüge im öffentlichen Nahverkehr sein sollte, werde ich mir mit Freude die benötigte Stunde Zeit nehmen, um sorgfältig zu erklären, wie und wann ich in welcher U - Bahn-Station mit dem Fahrstuhl gefahren bin. Ich will doch nur mit jemandem reden! Und zwar NICHT über paroxysmal auftretende, supraventrikuläre Tachykardien!
Der Anruf ist tausendmal ablenkungsverführerischer als eine Fahrstuhlumfrage.
»Ich wollte nur hören, ob du dich langweilst. Oder später langweilen wirst. Oder so fleißig bist, dass du dich am Abend dringend belohnen musst.« Alex.
Ja. Ja. Und nein. Belohnung würde ich aber trotzdem nehmen.
»Vielleicht möchtest du ja heute Abend auf eine Party gehen?«
Hm. Ich hab eigentlich keine Party verdient. Aber als ich das sage, lacht Alex. »Wieso? Wenn du noch gar nicht wusstest, dass es eine Party gibt, die du dir als Lern-Belohnung erarbeiten willst, konntest du doch auch noch nicht motiviert arbeiten!«
Diese Logik kommt mir entgegen. Ich könnte jetzt den Gewinn ausschreiben: Party mit Alex – und den Preis dafür festlegen: das Kapitel Kardiologie. Fast bin ich versucht zuzusagen.
Aber Party mit Alex? Da schwingt doch noch etwas Unbehagliches mit …
»Keine Angst, wir sind nicht allein dort«, sagt er leiser, als könnte er meine Gedanken lesen. Mann, warum hat er nur immer dieses blöde gute Gespür?! Und, okay, wir sind nicht allein. Aber zu zweit. Und irgendwie kommt mir das nicht richtig vor.
Du wolltest arbeiten, Lena. Du hattest doch beschlossen, dein Leben von nun an nur noch mit Arbeit auszufüllen – weil die Liebe im letzten Tertial zu so einem riesigen Chaos geführt hat! Dringend nötig ist es auch, denn von AV-Knoten-Reentry-Tachykardie hast du noch nicht mal den ersten Satz verinnerlicht.
»Nein, danke«, sage ich also und erkläre, dass ich die herrliche Stille (Lüge) unbedingt nutzen will (LÜGE!), um das Kardiologie-Kapitel inklusive aller Unterthemen durchzuarbeiten (LÜÜÜGE!!!).
Alex hat Verständnis. Hat er ja immer. Leider. Glücklicherweise. »Wenn du es dir anders überlegst, ruf mich jederzeit an«, sagt er. Und kaum hat er aufgelegt, fühle ich mich irgendwie mies … zwinge mich zur Strafe aber wenigstens durch das AV-Knoten-Kapitel.
Am Abend wird es richtig schlimm. Der Gute-Laune-Lärm vor dem Fenster steigert sich ins Unerträgliche. Vergnügtes Geplauder, Lachen, Musik – wo waren die alle, als ich Zeit hatte?! In unserer Straße war doch nie was los! Das von uns stets verschmähte Eck-Café scheint urplötzlich der angesagteste Laden Berlins zu sein. Wir haben es nie betreten, weil schon durch das schmuddelige Schaufenster hinlänglich zu sehen war, wie klebrig die Wachstuchtischdecken und wie verdreckt die angeschlagenen Tassen sind. Nie haben wir einen Menschen in diesem Café sitzen sehen – es war so fad, dass es nicht mal Jennys Faszination für Abartigkeiten herausforderte. Aber heute Abend ist es brechend voll! Gaukelt mir das meine unterhaltungsentwöhnte Fantasie vor oder legt da tatsächlich ein DJ auf?!
Im Asialaden gegenüber wird Geburtstag gefeiert; die vergnügte vietnamesische Verwandtschaft des Inhabers vollführt eine Art Limbo-Dance um den Tresen herum. Selbst vor dem Spätshop scheint eine Party im Gange zu sein; es hört sich an, als bestehe die Menge, die vor dem Laden Bierflaschen aneinanderklingeln lässt, aus mindestens 20 Engländern, die Kreuzberg nicht gefunden haben und entschlossen sind, allen Berlin-Urlaubs-Spaß heute Abend in meiner Straße zu erleben.
Entweder ich gebe mich geschlagen und rufe Alex doch noch an … oder mir fällt ganz schnell ein, womit ich der Verführung die Stirn bieten kann, ohne dass ebenjene sich in tiefste Selbstmitleidsfalten legt, die mich für immer 80-jährig aussehen lassen und das Nachdenken sowieso unmöglich machen.
Ich greife zum Telefon und wähle Isas Handynummer. Ein bisschen jammern – und Beistand von einer Freundin bekommen, die die eiserne Disziplin, die ich mir wünsche, souverän an den Tag legt, selbst wenn sie A) bei ihrem geliebten Freund, B) in München UND C) im Lernpensum weit voraus ist – das brauche ich jetzt.
»Ach, Lena, ich lerne hier soo gut«, sprudelt Isa begeistert durchs Telefon. »Tom hat mir einen wundervollen Schreibtisch gebaut und Entspannungsbäder für mich gekauft und jetzt steht er gerade in der Küche und kocht mir einen Durchhalte-Espresso.«
Ich gönne ihr alles: den Schreibtisch im Badezimmer und das Entspannungsbad im Espresso. Aber ich muss ganz schnell wieder auflegen. Sonst versinke ich bis zum Hals im Selbstmitleids-Verspannungs-Bad.
Einen allerletzten Versuch starte ich noch: Kopfhörer. Im Bad. Aber es geht nicht. Ich WILL einfach nicht mehr. Und irgendwann muss man auf den inneren Schweinehund auch mal hören, sonst macht er einem das Leben zur Hölle.
Alex geht sofort ran, als ich ihn anrufe. »Ich bin in zehn Minuten bei dir«, verspricht er. Und klingelt nach acht Minuten. Ich bin so froh, ihn zu sehen, dass ich ihn zur Begrüßung umarme. Was ich nicht mehr getan habe, seit wir uns getrennt haben.
Fehler. Es fühlt sich sehr gut an. Ich lasse ganz schnell wieder los.
»Wenn du wirklich im Pensum zurückliegst, können wir auch einfach hierbleiben und ich koch dir Kaffee oder so was«, schlägt Alex vor. (Ich möchte mal wissen, wie er das immer macht! Das ist doch nicht fair!)
»Nein, danke«, sage ich. »Für heute ist der Kopf voll.« (Auch wenn ich nicht weiß, womit. Die AV-Knoten haben sich in meinem Hirn spontan in Wohlgefallen aufgelöst.) Dass ich auch einfach nicht gern mit ihm hier alleine sein will, sage ich nicht.
»Oder …«, lächelt er und zückt zwei glitzernde Karten, »wir gehen da hin!«
Die Glitzerkarten sind für den Wasserball, ein Fest in einem alten Schwimmbad. Ball heißt in dem Fall nur, dass getanzt wird; es geht keineswegs walzerförmlich zu. Hier feiert exzessiv und exklusiv, wer unter 30 ist, aber über 30 Titelseiten geschmückt hat. Auf die Gästeliste schafft es beinahe niemand sonst; undeutlich erinnert sich mein Hirn an Jennys enttäuschtes: »Für den Wasserball bekommt man ja sowieso keine Einladung, also kann ich genauso gut nach Italien fahren.« Und Alex hält mir die Karten hin, als sei »Oder wir bleiben hier und ich koch dir Kaffee« auf irgendeinem Planeten eine Alternative!
Hätte ich das gewusst – ich hätte Lernanlauf 17 bis 36 doch gar nicht erst versucht und wäre schon seit Stunden dort! Und das nennt er Party?! Das da unten vor dem Spätshop ist eine Party! Der Wasserball ist eine Sensation!
»Ich wollte es dir am Telefon nicht sagen«, verteidigt er sich, als ich ihm vorwerfe, dass er mit der Ziel-Information gewartet hat, bis ICH das Lernen aufstecke und IHN anrufe! »Damit die Versuchung nicht zu groß ist.«
Ach Mann, einfühlsam und rücksichtsvoll ist er auch noch, oder was?! Egal, auf Alex’ besondere Art und die damit einhergehende Verliebungsgefahr kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Binnen fünf Minuten habe ich den hellblauen Jennymutter-Belohnungspaket-Chiffonrock aus dem Schrank gezerrt und Jennys gesamtes nicht-verreistes Make-up zum Einsatz gebracht.
Mit Alex im Auto zu sitzen, ist seltsam. Ein bisschen wie Nach-Hause-Kommen – ich erinnere mich daran, wie wir gemeinsam durch den Frühling gebraust sind, in dem alten Radio unser Lied, wie ich am Steuer saß, um fahren zu lernen, und uns die Polizei gestellt hat. Aber gleichzeitig fühlt es sich an, wie wenn man nach Jahren einen ehemaligen Lieblingsladen betritt, in dem man mal einen Lippenstift geklaut hat. Es war immer schön hier, aber man kann es nicht mehr genießen, weil man einen Fehler gemacht hat, der einem jetzt irgendwie im Genick sitzt.
Obwohl Alex plaudert, als seien wir nie mehr als Freunde gewesen, merke ich, dass auch er unsere gemeinsame Vergangenheit nicht einfach verdrängt hat. Er hat nicht gefragt, ob ich fahren will; diese Reminiszenz an früher hat er sich offenbar versagt. Zum Glück sind wir da, ehe das Gefühl, ich müsste unsere Situation irgendwie kommentieren, wieder überhandnimmt …
Der Wasserball ist einfach herrlich. Das Jugendstilbad ist traumhaft geschmückt und in dem leeren Schwimmbecken spielt eine amerikanische Band, die ich nur aus dem Fernsehen kenne und die seit Jahren kein Konzert in Deutschland gegeben hat.
An Alex ist der Glamour ringsum vielleicht verschwendet und ihn interessieren weder die Titelgesichter noch das Schickimicki-Essen, das auf winzigen Schwimmbadkacheln serviert wird, aber die Band findet er klasse – und er lässt sich weder durch den Glitzer noch durch irgendwelche Starlets vom ungestümen Feiern abhalten. Alex ist definitiv der Typ, mit dem man sich bestens amüsieren kann. Er hat keine Hemmungen, in einer Spielpause die Band anzuquatschen, er macht für mich einen der besonders exaltierten Snobs beim Tanzen nach und er ist der Erste, der über die tanzende Menge hinweg crowdsurft, woraufhin es ihm zwei Damen in Cocktailkleidern nachtun, die ich bisher nur in absolut kontrollierter Pose sah.
Nach dem dritten chlorwasserblauen Drink mit Schwimmreifen-Deko sind wir vollkommen überdreht. Und dann kommt das langsame Lied, bei dem keiner von uns neue Getränke holen geht oder mit Scherzen über den Alkoholpegel anderer Anwesender ablenkt. Sondern bei dem wir uns in den Armen liegen und innig umschlungen über den blaugekachelten Bassinboden schweben.
Er hält mich fest und die ganze Albernheit ist verschwunden.
Mit Alex kommt mir alles so leicht vor. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mich nach einem durchlernten Tag von ihm auffangen zu lassen. Oder nach einer Doppelschicht Krankenhaus. Und allen anderen Widrigkeiten des Arztseins. Alex wäre die perfekte Ergänzung für eine gestresste Ärztin, die beruflich äußerst wenig zu lachen hat und sich abends bestimmt nach warmer, unbekümmerter Ablenkung sehnt.
Es sei denn, sie will keine Ergänzung, die ein perfekter Gegensatz ist. Sondern jemanden, der sie versteht, weil er ihr ganz ähnlich ist und das gleiche Arzt-Leben teilt.
Nein. Jetzt nicht, Lena. Jetzt denkst du an dein Examen. Vernunfts-Lena tritt mir mit solcher Vehemenz auf den Fuß, dass ich das Tanzen wohl für die nächsten Wochen vergessen kann.
Alex fährt mich nach Hause, steigt mit aus, verabschiedet sich an der Haustür mit einer Umarmung. Und ich erwidere sie, weil es so schön ist, sich einen Moment von ihm festhalten zu lassen. Und er vielleicht doch der Richtige ist. Aber dann lasse ich ihn schnell wieder los. Weil ich das einfach nicht angetrunken in einer duftenden Sommernacht entscheiden sollte.
»Ich würde mich so freuen, dich wiederzusehen«, sagt Alex liebevoll. »Das Angebot mit dem Kaffeekochen bleibt bestehen.«
Nein, danke. Morgen lerne ich den ganzen Tag. Ohne Kaffee. Zumindest ohne fremd-gekochten. Ich muss den Kopf liebesobjektiv befreien und mit vertrackten AV-Knoten und restriktiven Kardiomyopathien füllen.
»Tut mir leid, aber du gefährdest meine Konzentration«, sage ich. Er lächelt. Na klar, er versteht es anders – und findet das klasse. Geh in dein Bett, Lena, alle Erklärungen könnten jetzt nur falsch verstanden werden.
Am Samstag beweise ich nobelpreisfähige Disziplin, indem ich trotz Heimkehr in den frühen Morgenstunden schon beim zweiten Weckerklingeln aus dem Bett klettere. Ich schleiche zwar nur mit Viertelkraft ins Bad und auch nach einer kalten Dusche noch mit nur halber Kraft zur Kaffeemaschine, aber ich nähere mich doch unaufhaltsam meinem Schreibtisch! (Blöde Idee, den Kaffee unbedingt selbst kochen zu wollen. Wie schön wäre es, wenn das jetzt jemand übernehmen würde. Die Kanne ist schon tonnenschwer, bevor ich das Wasser eingefüllt habe. Und alles nur wegen bescheuerter Liebeswirren! Danke, Lena. Dann sieh mal zu, wie du die Wasserkanne in Maschinen-Einfüll-Höhe gewuchtet kriegst!)
Als ich endlich mit meinem Kaffee vor der gestern im Stich gelassenen Buchseite sitze, genügt ein Blick auf die Kapitelüberschrift (ich schwöre, da steht AV-Kopfknoten-Hysterie, Demotivations-Syndrome), damit ich mir wünsche, ich hätte die nächsten 102 Tage verschlafen und würde erst zum Prüfungsanpfiff erwachen. (Oh, das ist wohl Pech, ich komm dann nächstes Jahr wieder.) Als mein ablenkungssuchender Blick – nur nicht die vermaledeite Überschrift ansehen! – aus dem Fenster wandert und auf leichtbekleidete Menschen beim Samstagsbummel fällt, steht fest: Hier schaffe ich auch heute gar nichts. Der innere Schweine-Höllenhund knurrt und jault furchterregend. (»Geh und kauf dir ein Eis. Befrei dich vom Druck, indem du eine Fahrradtour in den Grunewald unternimmst. Tausch das Leben mit dem Familienvater gegenüber, der gerade drei Kinder und sechs Schwimmflügel zum Auto trägt.«) Wenn ich diesen Köter nicht bald an die kurze Leine kriege, kann ich auch Tag 102 abschreiben.
Ich brauche Luftveränderung. Nicht die der sommerlichen Art, nicht die, die nach Schwimmbad und Sonnenmilch riecht. Sondern Lern-Luft, stille, kühle Arbeitseifer-Luft. Und am besten noch vier bis achtzehn andere Disziplinlöwen.
Auf dem Weg in die Uni-Bibliothek wird der Schweinehund richtig dreist. Er bleibt vor jedem Schaufenster stehen, er versteckt im Bus meine Büchertasche unter dem Sitz, sodass ich beinahe ohne sie aussteige, und vor einem Eiswagen beißt er mir sogar niederträchtig in die Wade, bis mir nichts anderes übrigbleibt, als ihm ein riesiges Zitroneneis zu kaufen. Hundsgemein. Aber am Bibliothekseingang hängt ein Hunde-Verboten-Schild. Ha!
Der Leseraum ist mucksmäuschenstill und erfrischend kühl. Es sind nicht ganz so viele Studenten da wie ich gehofft habe, aber immerhin sitzen drei andere fleißige Bienchen über Bücher und Hefte gebeugt. Ich suche mir einen Platz möglichst weit von den Fenstern entfernt und hoffe nur, dass meine Leidensgenossen nicht in einer halben Stunde alle zum Mittagessen abschwirren.
Die Bibliothek ist perfekt, warum bin ich da nicht gestern schon drauf gekommen?! Hier ist Ablenkung unmöglich; es gibt weder Computer noch Telefon, aus dem Fenster gucken kann ich auch nicht und wenn ich die anderen Fleißbienchen zu lange anschaue, sehen sie auf und sich nervös um – sodass ich schnell wieder die Augen ins Buch richte. Bis auf Seitenblättern und Stiftkratzen hört man nicht das leiseste Geräusch. Hier kann man sich entweder in aller Stille zu Tode langweilen – oder endlich die Kardiologie-Kapitel zu Ende lesen. Und weil der draußen am Treppengeländer angebundene Schweinehund in der Sommersonne so schwitzt, dass der Tierschutz zum Großeinsatz bläst, wenn ich ihn unnötig dort warten lasse, fange ich tatsächlich endlich an.
Es geht. Es geht prima. Ich lese die Kardiologie zu Ende und beginne mit der Angiologie, schaffe das arterielle und das venöse Gefäßsystem und will gerade voller Tatendrang zu den Lymphgefäßen übergehen, als ein dunkler Schatten auf mich fällt.
»Wir schließen jetzt.« Der Mann trägt eine Pförtneruniform und grinst mitleidig. »Kannst morgen wiederkommen.«
Unverschämtheit! Wie kann ein so lernlebenswichtiger Ort denn Schließzeiten haben?! Ich habe in 102 Tagen Prüfung! Oh, in 101. Es ist nach Mitternacht. Die Lampen ringsum sind schon ausgeschaltet. Ich habe gar nicht mitgekriegt, wann die anderen gegangen sind. Aber dass ich hier nicht allein bleiben kann und der Pförtner, der ja bereits eine Uniform und also die wichtigsten Prüfungen SEINES Lebens schon bestanden hat, nicht meinetwegen hier übernachtet, leuchtet mir ein. Ich frage auch nur ein einziges Mal.
Als ich fünf Minuten später aus dem großen dunklen Portal trete, ist mein Schweinehund nicht mehr da. Jemand anderes muss ihn mitgenommen haben. Ich tippe auf den schnaufenden Erstsemester-Muscle-Shirt-Typen, der schon gegen Mittag gegangen ist. Wenn der Köter sich bei ihm ebenso ungezogen benimmt wie bei mir, kommt der wohl morgen nicht wieder.
Morgen, pah! Ich will JETZT weitermachen, ich bin in Hochform und mit der Angiologie noch nicht fertig! Wohin also? Wo findet ein engagiertes Bienchen mitten in der Samstagnacht eine stille Herberge mit Lernatmosphäre? Nach Hause will ich lieber nicht. Der Weg ist vielleicht zu weit, als dass ich meine Energie verlustfrei bis dorthin transportieren könnte – und wer garantiert mir, dass der Schweinehund wirklich mit dem Muscle-Shirt-Studenten mitgegangen ist und nicht daheim auf der Couch sabbernd auf mich wartet?
Plötzlich fällt mir der perfekte Ort ein. Das Krankenhaus! Die nächtliche Cafeteria. Stille, Medizinatmosphäre, das Ziel vor Augen. Dort schaffe ich garantiert ablenkungsfrei mein letztes Kapitel.
Tobias? Alex? Diese Fragen flutschen unendlich weit in den Orbit hinaus, als ich in das warme Licht der Cafeteria trete. Denn hier hinter dem Tresen steht der einzig richtige Mann für mich. Der Mann für heute Nacht! Mein blauhaariger Freund Ruben, Herrscher über die Krankenhaus-Cafeteria und das allergeheimste Wissen zum Thema Stimmungsbeeinflussung durch Lebensmittel.
»Da bist du ja«, lächelt er mir entgegen, als wären wir verabredet gewesen. Noch bevor ich meine Bücher auf einem der Tische ausgebreitet habe, stellt er mir einen Kaffee auf den Tresen. Und als ich – hauptsächlich aus freundschaftlichem Interesse und nur ein ganz kleines bisschen wegen der Ablenkungsversuchung – eine winzige Unterhaltung anfangen will, schüttelt er den Kopf. »Ich wäre enttäuscht, wenn ich in deinem Leben so unwichtig geworden bin, dass du nur noch um ein Uhr nachts Zeit findest, mit mir zu reden. Also hoffe ich, du bist nicht deswegen hier«, erklärt er hoheitsvoll. »Sprich mich an, wenn du fertig bist!«
Ich gebe mich geschlagen und widme mich wieder den Lymphknoten. Wie durch Zauberhand taucht wenig später neben meinem Buch ein Tablett auf. Ein neuer Kaffee, eine Schale, in der Ruben Möhren, Birnen und Nüsse in Quark zerkleinert hat –, und ein Schokoladenbrot. Ich will dankbar nach dem Schokobrot greifen, da klopft er mir drohend auf die Finger.
»Das ist nur für den Notfall eines rapiden Zuckerabfalls. Ansonsten isst du bitte das hier!« Er schiebt die Quarkschale näher. »Magnesium, Kalium, Kalzium, Vitamin B, E und C und sekundäre Pflanzenstoffe. Das steigert die geistige Leistungsfähigkeit um bewiesene 139 Prozent.«
Ich bin kurz versucht, eine Diskussion über die Aussagekraft von Cafeteria-Testreihen zur Beweisbarkeit der Leistungssteigerung durch Möhren-Nuss-Quark anzuzetteln; Ruben aber lässt mich abblitzen, legt den Finger auf die Lippen und verschwindet hinter seinem Tresen.
Ich lese tatsächlich bis drei Uhr morgens. Regelmäßig – immer wenn ich mir gerade Nachschub zu wünschen beginne – erscheinen neben meinen Büchern neue dampfende Espressotassen und als ich schließlich, um die letzten Kraftreserven zu mobilisieren, doch nach dem Schokobrot greife, widerspricht Ruben nicht mehr.
Um drei Uhr vier klappe ich meine Bücher zu und geselle mich zu ihm an den Tresen, vollkommen begeistert von meiner Tatkraft – und urplötzlich entsetzlich müde.
Ruben lobt mich für meinen Maximaleifer, setzt aber gleich eine Spitze nach. »Und solange du lernst, musst du dich nicht mit den nicht-medizinischen Problemen herumschlagen, oder?«
Ich verdrehe die Augen – über eine gewisse nicht-medizinische Entscheidung möchte ich tatsächlich gerade nach dem gestrigen Abend nicht nachdenken.
In diesem Moment öffnet sich die Cafeteria-Tür. Ich brauche Rubens nachdenkliches Lächeln nicht zu deuten. Ich erkenne den Schritt. Das kurze Zögern des nächtlichen Besuchers sagt mir, dass auch er nicht mit mir gerechnet hat – nicht hier, nicht jetzt. Aber dann kommt er doch näher. Ich drehe mich nicht um, aber ich spüre ihn, als sei in meinem Nacken eine Wärmebildkamera implantiert. Rot-warmer Umriss vor blau-kalten Tischen, immer näher. Tobias.
Ich habe ihn eine Weile nicht mehr gesehen, aber ich weiß, dass er seit Kurzem wieder am St. Anna arbeitet. Der Chefarzt hat ihn erneut eingestellt, Tobias ist ein hervorragender Arzt. Tja, Lena. Manche reagieren nämlich mit »Gott sei Dank bist du wieder da«, wenn jemand nach drei Monaten nach Hause zurückkehrt.
Ob er jetzt gerade dasselbe denkt? Geht er deswegen so langsam?
Die Kaffeetasse in meiner Hand zittert. Ich weiß nicht, warum. Es gibt überhaupt keinen Grund! Ruben stellt eine zweite Tasse neben meine auf den Tresen. Und legt dabei für den Bruchteil einer Sekunde seine Hand auf meine, damit das leise Klappern auf der Untertasse aufhört. Ich lege die Hand auf die Theke, ruhig bleiben, Hand, und nicht so schwitzig bitte. Ruben schenkt mir ein winziges Lächeln – und dann steht Tobias neben mir.
»Hallo.«
»Na, Herr Doktor?! Wie immer, einen doppelten Korn?«, grinst Ruben, um Auflockerung bemüht.
Ich sage nichts. Ich kann nicht.
Tobias ignoriert den blöden Behelfs-Scherz. »Wie geht’s dir?«, fragt er mich.
Ich bin gar nicht hier. Es ist, als schwebe ich irgendwo zwischen den Leuchtstoffröhren an der Decke und könnte uns beide hier unten stehen sehen. Nebeneinander beim Kaffee, im Krankenhaus, mitten in der Nacht. Von mir steht nur eine Hülle da, der Geist hat kurz meinen Körper verlassen und schaut sich aus der Draufsicht an, was ich hätte haben können.
Nah-Tobias-Erfahrung.
Die Lena-Hülle nickt. »Ganz gut. Lerne viel. Und du?« Echt-Lena ist entsetzt über diesen Telegrammstil-Dialogbeitrag und schlüpft in den Lena-Körper zurück, um es besser zu machen … bringt dann aber doch keinen weiteren Satz heraus. Hmpf.
Tobias nickt. »Es geht«, sagt er. Dann schweigen wir.
Wann waren wir uns zum letzten Mal so nah? Mein Geist drückt sich vor der Pflicht eines verlegenheitsgelenkten Gesprächs und lässt die Lena-Hülle am Tresen im Stich, um ein paar Wochen zurückzufliegen.
Ein warmer Frühsommerabend, ein kleines Restaurant. Tobias ist zurück und verspricht mir wie aus heiterem Himmel eine Zukunft, die ich mir in meinen verwegensten Träumen nicht auszumalen gewagt hätte. Gemeinsame Arbeit, zwei Ärzte, nebeneinander, zusammen. Das Luftschloss wabert wie eine Fata Morgana im Sonnenlicht, Trommelwirbel … Und dann steht es plötzlich da, real, zum Anfassen. Wumms, mitten in der Einsamkeits-Sehnsuchts-Wüste abgesetzt, ein richtiges Schloss, einfach so, mitten im Sand. Es steht nicht ganz gerade, aber es ist aus Holz und Stein, für die Ewigkeit gebaut (»Jetzt machst du erst mal dein Examen«) und mit entzückenden Türmchen verziert (»gemeinsam arbeiten am Kaminfeuer«).
Du gehst um das Schloss herum und wagst kaum, es zu betreten; du kannst nicht glauben, dass es wirklich da ist – und dir gehören soll! Wenn du es annimmst und dich darin einrichtest, wird das einfach herrlich sein, dein Zuhause, perfekt.
Doch dann geht plötzlich das Licht aus. Und als du wieder sehen kannst, ist das Schloss in kilometerweite Entfernung gerückt.
Aber so wie wir jetzt hier stehen, in der Nacht, in unserem Krankenhaus, nur Zentimeter voneinander entfernt, kommt mir all das Zögern vollkommen falsch vor. Feige. Idiotisch. GENAU DAS HIER war doch, was du wolltest!
Jemand, der alles mit dir teilt, den früh-morgendlichen Nach-Nachtschicht-Kaffee ebenso wie die Tages-Arzt-Sorgen. Und das ganze übrige Leben.
»… Lerngruppen«, sagt Tobias gerade. Ich nicke, als hätte ich irgendetwas anderes gehört als das wiederholte, schrille »Er ist es, du blinde Kuh!!!« in meinem Großhirn.
»Kümmert euch rechtzeitig um die praktische Vorbereitung«, fährt Tobias fort. »Theorie ist gut und schön, aber wenn man drei Monate nicht praktisch geübt hat, sitzen manchmal die einfachsten Handgriffe nicht mehr.«
Ich hab das alles schon mal gehört, es steht im Prüfungsratgeber und wurde von jedem Dozenten empfohlen. Tobias weiß das sicher auch. Er erklärt es nur noch mal, um sich mit mir zu unterhalten, ohne etwas ÜBER UNS zu sagen. Aber meinetwegen könnte er mir auch Fahrpläne vorlesen. Sprich zu mir! Rede mit mir, als sei nichts passiert! Als sei noch alles möglich. Ich kann zwischen deinen Zeilen lesen. Und ich lese: »Ich will mich um dich kümmern.« Er sagt »ihr«, um die Distanz zu wahren, von der er glaubt, ich wünsche sie mir. Dieser Wunsch aber ist grade spurlos verpufft.
»Vielleicht eine private Oberarztkonsultation?«, fragt Ruben hilfsbereit. Danke, Ruben, danke, danke! Für immer danke für diesen Vorschlag. Denn plötzlich will ich nichts lieber als in Tobias’ Nähe sein.
Wenn er mir jetzt einen Termin anbietet – und sei es Montag früh um sechs zu einer Magenendoskopie – werde ich wissen, dass es ihm genauso geht. Und das Einzige, was ich verstehen werde, wird sein: »Triff dich mit mir, ich vermisse dich.«
Aber Tobias schüttelt den Kopf. »Nein. Das wäre wohl nicht …«
Er verstummt. Als müsse er nicht mehr sagen. Als wüssten wir beide, was es wohl nicht wäre. Nicht passend? Nicht unserer momentanen Beziehung angemessen? Nicht die Art, auf die ich dir meine ungetrübte Zuneigung zeigen will? Oder Nicht mehr die Frau, der ich Privatkonsultationen gebe? Mann! Mann, Mann, Mann! Warum ergreifst du die Chance nicht? Willst du mich nicht mehr treffen? Glaubst du, ich würde das falsch verstehen? Oder denkst du, ICH wollte dich nicht treffen? Warum kannst du es dann nicht wenigstens mit einem »Ich weiß nicht« so offenlassen, dass ich es wage, Rubens Vorschlag mit einem »Ach, das wäre großartig« zu meiner eigenen Bitte zu machen?!
Tobias sieht weg, rührt in seinem Kaffee, lächelt irgendwie abweisend vor sich hin. Wobei abweisend ja wieder nur meine Interpretation ist. Wann durchschaue ich diesen Mann?!
Ruben merkt, dass sein verbindend gemeinter Vorschlag das Gegenteil ausgelöst hat. Und wäre nicht Ruben, wenn er es nicht für eine verletzte Freundin ins Positive drehen würde. »Wenn der Oberarzt sagt, das sei nicht effizient, stimmt es sicher«, lächelt er liebenswürdig, dann wendet er sich an Tobias. »Was würdest du Lena stattdessen raten?«
Pah, ich will gar nichts mehr von ihm geraten haben. Tobias aber lächelt vage in meine Richtung. »Beim Nachtdienst werden Medizinstudenten zur Aushilfe gesucht. Da könntet ihr praktisch arbeiten, was zur Prüfungsvorbereitung gut ist, und nebenbei noch etwas Geld verdienen.« Käme der Vorschlag nicht von ihm – und klänge er nicht ein wenig, als wolle er seine Konsultationsabsage kompensieren – wäre die Idee klasse.
»Vielleicht«, sage ich. »Wir denken mal drüber nach.« (»Wir« versteht er vielleicht als »Isa, Jenny und ich« – was ich meine, ist aber: Prüfungs-AllesWasHilftMussGetanWerden-Lena und Liebesgekränkt-ErsatzRatschlägeNeinDanke-Lena müssen das gründlich abwägen.)
Tobias nickt, trinkt seinen Kaffee aus und verabschiedet sich. »Ihr könnt euch natürlich gern melden, wenn ihr Hilfe braucht«, sagt er. Und ich, die ich von seinen Ersatz-Vorschlägen gekränkt sein und das auch für eine Phrase halten müsste, hänge mich würdelos an diesen Strohhalm und antworte: »Danke!«
»Er arbeitet auch im Nachtdienst«, sagt Ruben, als Tobias gegangen ist.
Ja, das weiß ich. Na und?! Wäre es ihm darum gegangen, MICH zu sehen, hätte er ganz unverfänglich auf die Konsultations-Idee eingehen können. Aber nein. Er will wirklich nichts weiter, als einer Studentin zu helfen.
»Nun ja, Lena«, gibt Ruben zu bedenken, »wolltest du nicht auch nichts weiter als eine Studentin sein?«
Ach verdammt, Ruben – immer dahin, wo es wehtut.
»Wenn er mich wirklich immer noch … mag«, sage ich kläglich, »dann könnte er das doch mal ein winziges bisschen zeigen, findest du nicht?«
Ruben schüttelt den Kopf. »Schon mal erlebt, dass er sich aufdrängt?!«
Pah – »aufdrängt«! ABGEDRÄNGT hat er mich doch gerade. Auf das Allerkühlste!
»Ich erwarte ja nicht, dass er mir blumige Anträge macht«, jammere ich. »Aber ein klitzekleines Zeichen … nur irgendein Signal. Andere Männer können das doch auch!«
Okay, das war ein idiotisches Argument.
Ruben schnaubt. »Dann ruf andere Männer an«, sagt er.
Nein, ich geh schlafen. Und dann lernen. Und dann schlafen. Und dann wieder arbeiten – für den Rest aller Tage. Lasst Steinbruch-Lena doch alle in Ruhe!