Schon wieder ein Tag, an dem wir uns vorzeitig aus dem Lern-Tunnel an die Erdoberfläche heraufziehen müssen, um für die Nachtschicht unsere Lese-Höhle zu verlassen. Ich bin in der Notaufnahme eingeteilt; zum Glück ist es heute ruhiger. Und den Trick, wie man hier an Kaffee kommt, kenne ich inzwischen auch.
Gegen Mitternacht erscheint ein junger Mann in der Notaufnahme, der vom Fahrrad gestürzt ist. Er hat versucht, sich mit den Händen abzufangen, seitdem hat er in der rechten Hand starke Schmerzen.
Ich führe ihn in einen Behandlungsraum und fülle den Anamnesebogen aus. Frank Hohnstein, 26. Er flirtet ein bisschen. Als es aber an die Bewegungstests geht, wird er schnell still.
»Ich vermute einen Kahnbeinbruch«, erkläre ich schließlich.
»Kahn?«, fragt er. »Wie Oliver Kahn, der Titan?«
Ja. Hat damit aber gar nichts zu tun. »Genau«, antworte ich. »Nach dem Torwart benannt. Der sich ja auch ständig was bricht.«
Ich werde darüber belehrt, dass Oliver Kahn eher andere verletzt hat und überhaupt nicht mehr aktiv ist. Dann kann ich Herrn Hohnstein endlich in den Röntgenraum abschieben.
Das Kahnbein ist tatsächlich gebrochen. Dr. Feinmann rät zur OP. Ich erkläre dem Sportfreak, dass seine Hand operativ gerichtet werden sollte. Er wird ein bis zwei Tage hierbleiben.
»Na ja, das ist ja kahn Beinbruch«, meint er und fängt an, sich darüber kaputtzulachen. Okay. Ich plädiere dafür, dass er schnell sediert wird. Und nur einen Tag bleibt.
Ich vereinbare in der Chirurgie einen OP-Termin für Herrn Hohnstein. Im Gang treffe ich Dr. Gode – und kann es mir nicht verkneifen, ihm zu raten, auf die Narkoseentscheidung des Patienten ein wenig Einfluss zu nehmen. »Empfehlen Sie Herrn Hohnstein die Vollnarkose«, lächle ich Dr. Gode an. »Und danken Sie mir später.«
»Ich danke es Ihnen ganz praktisch«, entgegnet er. »Ich habe beschlossen, noch eine Übung für die Prüflinge abzuhalten.«
Ich sage sofort zu – und frage beiläufig, ob Isa auch kommt. »Ihr habe ich eine Einzelkonsultation vorgeschlagen«, antwortet Dr. Gode, »immerhin muss sie etwas mehr können als Sie.«
»Isa kommt sicher zu beiden Terminen«, mutmaße ich. Dr. Gode lächelt. »Ich weiß. Ihre Prüfungsvorbereitung würde für einen Professorentitel genügen. Dabei muss sie sich überhaupt keine Sorgen machen. Sie ist so begabt!«
Als ich zurück in die Notaufnahme komme, wartet dort jemand, den ich kenne. Anita Scherer. Mit einer Platzwunde am Kopf.
Ich nehme sie mit in den Behandlungsraum und versorge die Wunde. »Ausgerutscht«, sagt sie, »in der Küche. Einfach so. Ganz blöd.«
Sie sagt es, ohne mich anzusehen. Ich glaube ihr kein Wort.
Dann hole ich Dr. Feinmann dazu. Während er die Wunde näht und ich ihm assistiere, fragt er Frau Scherer: »Und? Wie ist es diesmal passiert?« Sein Tonfall ist grob. Frau Scherer erzählt von der Küche. Ich glaube ihr auch beim zweiten Mal nicht.
»Sie scheinen in einem gefährlichen Haus zu leben«, sagt Dr. Feinmann, bevor er den Raum verlässt.
»Frau Scherer«, beginne ich, »Sie kommen immer wieder mit Verletzungen her. Können Sie verstehen, dass wir Ihre Erklärungen nicht richtig glauben können?«
Sie lächelt wieder, dieses dünne Lächeln. »Ja, mir passiert auch viel … Mist«, sagt sie.
»Vielleicht liegt es nicht an Ihnen?«, frage ich. Wie fragt man denn »Schlägt Sie Ihr Mann?«?!
»Doch«, antwortet sie. »Doch. An mir.«
»Tut Ihnen jemand … diese Sachen an?«
»Um Himmels willen«, wehrt sie ab. Aber ich habe ihren Blick gesehen.
Verdammt. Ich will nicht, dass es so was gibt. Ich will nicht, dass sie hier sitzt und »Nein« sagt. »Um Himmels willen«!
»Falls es doch so sein sollte«, sage ich, »können Sie Hilfe bekommen. Sie müssen nur jemandem sagen, was los ist.«
Sie schüttelt den Kopf. »Kann ich jetzt gehen?«
Nein. Ich werde sie nicht gehen lassen.
Ich weiß nur nicht, was ich tun soll. Ich brauche jemanden, der es mir sagt. Der mir hilft, das Richtige zu tun.
»Leider nein«, sage ich, »wir sollten noch einen Moment warten. Es kann sein, dass wir noch eine Kontrollnaht setzen müssen.«
So was gibt es nicht. Aber Frau Scherer glaubt es. Sie bleibt sitzen. Ich bitte sie, zu warten. »Ich komme in zehn Minuten wieder und kontrolliere die Naht. Wenn dann alles okay ist, dürfen Sie gehen.« Sie nickt.
Zehn Minuten. Damit mir irgendetwas einfällt.
Ich weiß nicht, wen ich fragen soll. Dr. Feinmann scheint mir nicht der Richtige. Dr. Gode ist im Haus, aber… In diesem Moment fällt es mir ein. Dr. Al-Sayed. Die Oberärztin der Gynäkologie. Kaum eine Nacht, in der sie nicht hier ist.
Sie ist in ihrem Büro. »Ich habe eine Patientin, von der ich glaube, dass sie geschlagen wird. Oder sonst wie misshandelt. Sagen Sie mir, was ich tun soll!«
Dr. Al-Sayed ist schon bei meinen ersten Worten aufgestanden. Doch noch bevor ich den Satz beendet habe, hält sie inne.
»›Oder sonst wie‹?« wiederholt sie fragend. Ich erkläre, dass ich es nicht weiß. Dass Frau Scherer nichts dazu sagen will.
Dr. Al-Sayed bleibt stehen. »Haben Sie die Frau versorgt?«
Ich nicke. »Aber jetzt will sie wieder nach Hause.«
»Frau Weissenbach …«, sagt sie, »wir sind kein Schutzhaus. Und Sie können die Frau nicht hier festhalten.«
Das habe ich nicht erwartet. Das ist keine Antwort, die ich akzeptieren kann.
»Setzen Sie sich«, sagt Dr. Al-Sayed. Ich will mich nicht setzen. Sie schweigt, bis ich es tue.
»Das Schwerste am Arztsein«, sagt sie, »ist, die eigenen Grenzen zu begreifen. Bis diese Frau um Hilfe bittet, können Sie nichts weiter tun, als ihre Wunden zu versorgen. Und versuchen, ihr auf den Weg zu helfen, damit sie sich Hilfe sucht. Mehr nicht.«
Ich will nicht, dass es so ist. Ich will irgendwas tun.
»Es ist schwer in der Notaufnahme, nicht wahr?«, fragt Dr. Al-Sayed sanft. »Sie erfahren nie, was aus den Menschen wird, denen sie nachts vielleicht das Leben retten mussten.«
Ich fühle mich hilflos.
»Das müssen Sie noch lernen, Frau Weissenbach. Zu akzeptieren, wo Ihre Grenzen liegen.« Sie nimmt einen Zettel vom Tisch. Die Telefonnummer eines Frauenschutzhauses. »Geben Sie ihr das. Dann können Sie nur hoffen, dass die Frau dort hingeht.«
Ich brauche lange für den Weg nach unten. Frau Scherer sitzt ganz gerade auf der Untersuchungsliege.
»Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer«, sage ich und halte ihr den Zettel hin. »Falls die Unfälle doch andere Ursachen haben: Bitte rufen Sie dort an. Sie müssen nicht mal Ihren Namen sagen.«
»Ist die Naht in Ordnung?«, fragt Frau Scherer. Ich nicke. Sie steht auf. Aber sie steckt den Zettel ein. Wenigstens. Ich hoffe, dass sie ihn nicht vor dem Krankenhaus wegwirft.
Nach der Nachtschicht bin ich immer noch angeschlagen. Aber wenigstens kann ich Isa die gute Nachricht hinterbringen, dass Dr. Gode sie für »so begabt« hält.
»Begabt ist gut und schön. Aber bestanden ist, worauf es ankommt«, entgegnet sie – und dann, etwas leiser: »Ich brauche beide Konsultationen. Meine Nerven werden immer dünner, Lena.«
»Du weißt, was du mir versprochen hast«, erinnere ich sie.
»Ja ja«, sagt sie knapp. »Wenn es nach meiner Spezialkonsultation noch nicht besser ist, geh ich zum Arzt. Aber es wird besser sein.«
Ich hoffe, dass sie recht hat.
Was nicht leichter wird, ist mein Umgang mit Felix. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihm begegnen soll. Ich ertappe mich dabei, wie ich das Gespräch mit ihm vermeide. Gar nicht absichtlich. Und dass ich ihn bei der morgendlichen Kaffee-Verteilung vergesse, ist auch keine Absicht. Ich fülle abwesend drei Tassen, weil wir meistens zu dritt sind. Dr. Playmo, Dr. McCoy, Dr. Barbie. Warum sagt er auch nicht, dass ich ihn vergessen habe? Warum ist er überhaupt so früh hier? Er hat Jenny noch nie vor der Arbeit besucht. Und er tut es offenbar nicht, um mit ihr allein zu sein. Stattdessen sitzt er bei uns in der Küche und trinkt keinen Kaffee.
Zum Glück macht Isa mein Versehen gut, bevor ich auffällig eine vierte Tasse holen muss. Sie kocht sich Tee, in einem anderen Becher. Und schiebt, wie selbstverständlich, Felix die Playmo-Tasse hin. »Doch, das ist deine«, lächelt sie, »ich trink doch im Moment Tee wegen meines Magens.«
Sie weiß, dass ich niemandem einfach ihre Tasse geben würde. Aber Felix weiß es nicht.
»Immer noch krank?«, erkundigt er sich. Isa lächelt. »Damit muss ich nun wohl leben bis nach den Prüfungen.«
Nett, dass sie mich aus der unangenehmen Situation befreit hat. Blöd, dass ich gleich von einer Sorge in die nächste verfalle. Isa lächelt schwach – und sieht nicht aus, als könne sie den Nervenkrieg wirklich noch bis nach den Prüfungen aushalten.
Jenny kommt in die Küche, bemerkt Felix und küsst ihn. »Schöne Überraschung«, sagt sie. Ich beobachte sie genau, Felix tut es auch. Ich sehe kein Anzeichen dafür, dass sie ihm etwas vorspielt. Hat sie verdrängt, was passiert ist?
Ich beobachte sie während des ganzen Frühstücks und bin irritiert. Jenny ist überhaupt nichts anzumerken. Sie redet, lacht und gibt sich ganz normal. Wer nicht normal ist, ist Felix. Er sitzt ganz dicht bei Jenny, hält ihre Hand, sieht sie unentwegt an und stimmt ihr in allem zu. Es ist unheimlich. Überhaupt nicht Felix.
Es hört erst auf, als er in seinem Handy die Uhrzeit überprüft hat – er muss zur Arbeit – und Jenny ihn fragt, ob er Fotos vom Klassentreffen gemacht hat.
»Zeig mal«, sagt sie. Und jetzt ist doch eine Spur Angespanntheit in ihrer Stimme zu hören.
Felix schüttelt den Kopf.
»Zeig doch die Fotos!«, beharrt Jenny, »die fünf Minuten hast du auch noch.«
Felix möchte keine Fotos zeigen. Er will sicher nicht, dass Jenny Nadja erspäht.
Einen Moment lang starren sich die beiden an, es ist wie ein Duell. Dann steckt Felix das Handy ein und will gehen.
Jenny knallt ihre Tasse auf den Tisch. »Wir sind erwachsene Menschen!«, sagt sie. »Ich kann doch damit umgehen!«
»Siehst du«, entgegnet Felix bedrückt, »du willst nicht IRGENDWELCHE Fotos sehen.«
Und dann geht er. Ohne ein einziges Bild zu zeigen. Jenny beschließt, heute in ihrem Zimmer zu lernen und kommt den ganzen Tag nicht wieder heraus.