Fast alles ist überwindbar, wenn man Freundinnen hat, die das Leid mit einem teilen. Kaum ist Jenny am Sonntagabend sonnengebräunt und überdreht zurück in unsere Wohnung gepoltert, geht es mir besser. Sie hat schachtelweise klebrigen Torrone und zahllose Strandgeschichten mitgebracht und zerrt mich in die Küche, um möglichst alles auf einmal loszuwerden. Wir mümmeln gerade am ersten Stück Torrone, als auch Isa nach Hause kommt. Es dauert keine zehn Minuten, bis Tierarzt-Barbie, Dr. Playmobil und Dr. Pille mit italienischem Espresso gefüllt sind, wir die klebrige Süßigkeit darin einweichen und wieder alle durcheinanderplappern.
Isa hat genauso viel Lehrstoff geschafft wie ich – und trotzdem mit Tom Geschirr und Bettwäsche ausgesucht, die sie sich zur Hochzeit wünschen. Jenny lässt sich von unserem Lern-Vorsprung überhaupt nicht beeindrucken und schlägt fröhlich vor, dass wir ihr ja dann morgen früh den Start mit einer Zusammenfassung unseres bisher angesammelten Wissens erleichtern könnten.
Von meinem Abend mit Alex wollen sie alles haarklein erzählt bekommen – wobei sich Jenny naturgemäß mehr für den Wasserball als für meine Gefühlsverwirrung interessiert. Isa hingegen fragt sensibel, ob die Partynacht irgendwelche Fortschritte in der Entscheidungsfindung mit sich gebracht habe – und so muss ich wohl oder übel auch mit der zweiten Begegnung dieses Wochenendes herausrücken. Während Jenny mir energisch darin recht gibt, dass Tobias garantiert kein Typ ist, der in einem Schwimmbecken über eine Menschenmenge surfen würde, spricht sich Isa behutsam, aber leider nachdrücklich FÜR ihn aus.
»Willst du nicht einen, zu dem du aufschauen kannst?«, fragt sie. »Möchtest du auf Dauer mit einem Spaßvogel zusammen sein? Oder willst du nicht lieber jemanden an deiner Seite haben, der sich ebenso ernsthaft seinem Beruf verschrieben hat wie du?«
Wer sagt, dass Alex seinen Beruf nicht ernst nehmen würde – wenn er sich irgendwann zwischen der Musik und seinem Studienabschluss entscheidet? Und außerdem: Seit wann ist DAS ein Kriterium?! Was jemand für Ziele hat?!
»Seit du Ärztin werden willst«, entgegnet Isa ruhig. »Und spätestens, seit du erwachsen bist. Du weißt, dass du nur mit jemandem zusammen sein könntest, der DAS mit dir teilt.«
»Pah«, fällt Jenny ihr ins Wort, »wenn das nicht langweilig klingt!«
Für Tobias’ Vorschlag mit dem studentischen Nachtdienst sind aber beide Feuer und Flamme. Ich hatte ein bisschen darauf gebaut, dass Jenny vielleicht Besseres mit ihren Nächten vor und Isa Angst um ihre Lernkraft hat. Aber ihre Argumente sind leider nicht zu schlagen: praktisch üben UND Geld dazuverdienen UND das auch noch nachts, während man tagsüber lernen kann … ja ja ja.
Fünf Minuten später ist es beschlossene Sache. Wir werden alle drei im Nachtdienst arbeiten – solange die täglichen Lernschichten nicht darunter leiden.
»Vor drei bin ich sowieso niemals müde«, erklärt Jenny, »und vor zehn funktioniert mein Gedächtnis ohnehin nicht so gut, dass sich das Lernen lohnen würde.«
»Schade für dich.« Isa grinst. »Die WG-Lerngruppe fängt täglich Punkt acht Uhr an. Dann kannst du uns ja die ersten zwei Stunden Kaffee kochen.«
»Außer nach Nachtschichten«, ergänze ich, »da starten wir erst um acht Uhr fünf, möchten den Kaffee aber bereits um halb acht und in doppelter Dosis.«
»Ich werde euch für diese Selbstüberschätzung nach jeder Nachtschicht mit einem Ätsche-Bätsche-Tanz verhöhnen«, kontert Jenny. »Wenn ihr bis mittags schlaft und ich dank jahrelangen Trainings um zehn schon putzmunter bin!«
»Dann lade ich für jeden Nach-Nachtschichts-Morgen Johanna und Patrick zum Lernen ein. Um zu sehen, wie du DEN BEIDEN etwas vortanzt, stehe ich problemlos um fünf Uhr auf.«
Zugegeben: Ich bin mit unseren Gynäkologie-Kollegen auch nicht richtig warm geworden. Aber für Jenny sind sie geradezu ein rotes Tuch. Weil die zwei sich das ganze Tertial hindurch nur miteinander beschäftigt haben und händchenhaltend über die Flure geschlichen sind, was Jenny erstens peinlich und zweitens unprofessionell findet (bei anderen ist sie in diesem Punkt überraschend streng). Die Kombination aus Johannas Gewohnheit, alle werdenden Mütter als »Mami« zu bezeichnen, und ihren bunten Blusen hat Jenny den Rest gegeben; wenn man bei meiner Freundin noch mehr Ansehen verlieren kann als mit tantenhafter Garderobe, dann mit verniedlichenden Vereinfachungen.
»Die kommen uns NICHT ins Haus«, erklärt sie kategorisch.
Diesen Zahn werde ich ihr noch ziehen müssen, denn wohl oder übel sind wir vier eine Prüfungsgruppe und MÜSSEN zusammen antreten. Und auch wenn Jenny glaubt, dass dafür keine einzige kollektive Lernstunde nötig ist: Zu viert lässt sich mehr Stoff bearbeiten. Aber ich gebe Jenny so weit nach, dass ich zustimme, die beiden Trantüten erst dann dazuzuholen, wenn wir uns auf die Gynäkologie und das zugeloste vierte Fach vorbereiten, das unsere Gruppe gemeinsam bestehen muss. Weil die beiden ohnehin auch noch kein Interesse an UNSERER Gesellschaft geäußert haben – und wir wenigstens Chirurgie und Innere Medizin, in denen auch Isa examiniert wird, in der gemütlichen Gemeinschaft unserer WG lernen können.
»If faf baf müf«, sagt Isa. Ich sehe sie irritiert an; sie erwidert den Blick verlegen, den Mund voller Torrone. »Ich schaff das nicht«, hab ich verstanden – aber NOCH müssen wir doch keine Angst haben.
»Na klar«, beruhige ich sie und schiebe ihr ein weiteres Stück der klebrigen Süßigkeit zu. »Natürlich schaffen wir es!«
Isa schüttelt erschrocken den Kopf. »Okay, vielleicht nicht natürlich«, gebe ich zu, ich möchte ja glaubwürdig bleiben, »aber jetzt fangen wir erst mal an.«
Wir werden weiterhin zu den regelmäßigen PJ-Fortbildungen gehen, denn die Ärzte, die sie abhalten, sind potentielle Prüfer. Dort kann man Fragen zum Lehrstoff stellen und vielleicht auch schon mal Eindruck schinden.
Isa sieht inzwischen irgendwie bleich aus. Sie hustet und trinkt einen eiligen Schluck Kaffee dagegen. Verdammt, warum fällt MIR das jetzt erst ein?! Die PJ-Fortbildung in der Inneren hält Tobias. Der eine private Konsultation für nicht … irgendwas hält – Adjektiv nach freier Wahl der abgewimmelten Studentin.
Ich würde gern etwas sehr Entschiedenes dazu sagen, etwas Endgültiges. Dazu, warum das kein Problem ist. Und ich verzichte keineswegs darauf, weil mir nichts einfällt … sondern nur, weil der Torrone mir die Zähne verkleistert. Ehrlich, das ist der EINZIGE Grund!
Wie kann etwas, das als Süßigkeit gepriesen wird, so hinterhältig sein? Erst ist es überhaupt nicht zu beißen – und dann so klebrig zwischen den Zähnen, dass man nicht mal mehr einen Grund herausbringen kann, warum Oberarzt-Konsultationen bei Nicht-nur-Oberärzten einem keinerlei Schwierigkeiten bereiten. (Ist es DAFÜR da? Stecken sich die Italiener auch jedes Mal schnell ein Stück davon zwischen die Zähne, wenn sie um eine Antwort verlegen sind? Daher haben sie den Ruf, immer wortgewandt und schlagfertig zu sein! Man merkt einfach nicht, wenn sie es NICHT sind, weil sie dann schnell an ihrer zähneverklebenden Nationalsüßigkeit knabbern!)
Auch meine Freundinnen sind still geworden, kauen und ziehen Gesichter. Isa ist die Erste, die sich befreit; sie nimmt noch einen großen Schluck Kaffee und kann endlich wieder sprechen.
»Ich mach mir keine Sorgen«, erklärt sie. »Das Lernen ist doch kein Problem. Natürlich schaffen wir es; wir schaffen ALLES! Nur DAS da …«, sie zeigt anklagend auf den Torrone-Karton, »das ist wirklich unüberwindlich!«