Wehe dem, der heute ein Buch aufklappt«, brüllt Jenny in Feldwebel-Lautstärke über den Flur. Alex und ich tauschen einen verschlafen-verwirrten Blick.
»Wehe dem, der mich an einem Samstag mit solchem Geschrei weckt«, murmelt Alex.
Aber Jenny darf das. Heute ist ihr Geburtstag. Und unsere Party.
Und das bringt uns im Nu auf die Beine.
Wir beginnen den Tag mit einem ausufernden Frühstück. Tom ist schon in der Nacht aus München gekommen und Isa wirkt heute entspannter. Sie hat sogar zugestimmt, zur Feier des Tages nicht zu lernen – wenn auch nicht mit der gleichen Selbstzufriedenheit wie Jenny, die beim Frühstück ungefähr 70-mal betont, wie sehr sie einen freien Tag verdient hat. Unsere Geschenke entlocken ihr begeisterte Kreischer, die Glitzer-Ohrringe von Tom und Isa kommen ebenso gut an wie die Fliegenpilz-Lampe von Alex und mein kopfschüttelndes Reh im Wackeldackel-Stil für die Hutablage der Ente. Felix schießt den Vogel ab: Er hat für Jenny fünf Kassetten besprochen. Fürs Auto. Er zwingt uns, sofort zu Jennys Ente hinunterzugehen und reinzuhören.
»1. Kardiologie«, ertönt Felix’ Stimme von der Kassette, »1.1. Anatomie des Herzens, 1.1.1. Die Wandschichten: Die erste heißt Endokard. Die kleidet die Herzbinnenräume aus. Die zweite heißt Myokard und besteht aus quergestreiftem glykogenem Muskelgewebe. Doch, hier steht quergestreift. Also Muskelgewebe …«
Felix strahlt, als wir begreifen, welch wunderbares Geschenk das ist! Die perfekte Idee für Jenny. Sie fällt ihm um den Hals. »Endlich«, jauchzt sie. »Jetzt kann ich beim Autofahren lernen!«
»Tja«, lächelt Isa mir schicksalsergeben zu, »nun müssen wir wohl doch immer mitfahren.«
Felix grinst. »Ihr könnt das als CD haben. Ich hab alle Audiospuren als Dateien.«
»Nichts gibt’s«, erklärt Jenny entschieden, »wer schlau sein will, muss leiden.«
Nachdem wir unser Frühstück beendet haben, scheuche ich Isa und Jenny aus dem Haus, schließlich sollen sie von der Party-vorbereitung nichts mitkriegen. Felix hat Jenny versprochen, mit ihr die Geldzuwendungen ihrer Eltern zu vershoppen, die pünktlich zum Geburtstag – aber wie immer grußlos – auf Jennys Konto eingegangen sind. Und für Isa hoffe ich, dass ein Tag mit Tom etwas Druck abbaut. Alex und ich werden die Wohnung allein dekorieren.
Die Vorbereitungen mit Alex machen riesigen Spaß. Wir sind fertig, ehe der erste Gast klingelt, sitzen eine halbe Stunde vor der Einladungszeit in der Küche und stoßen mit den sektgefüllten Reagenzgläsern an, die Felix kistenweise vom Labor geliehen hat.
»Was hältst du davon, die Medizin an den Nagel zu hängen und mit mir eine Partyplaner-Agentur zu eröffnen?«, fragt Alex. »Nur für den Fall, dass du nach dem Examen feststellst, dass du es doch nur machen wolltest, um allen zu zeigen, dass du es kannst.«
»Dazu wird es nicht kommen«, widerspreche ich. Diese Party vorzubereiten hat enorm viel Spaß gemacht. Aber ich weiß, was ich will.
»Schon klar«, lenkt Alex ein, »aber falls ICH es tue, würdest du mir doch manchmal zwischen Tag- und Nachtschicht mit ein paar schrägen Ideen aus der Patsche helfen, oder?«
»Ach«, frage ich frech, »ich soll also BEIDE Jobs machen?!«
Alex grinst. »Ich würde im Gegenzug dafür sorgen, dass du niemals mit dem Haushalt belästigt wirst. Und zu allen Elternsprechtagen gehen.«
»Moment, Kinder haben wir auch noch?«
»Ich sag doch, um alles Anstrengende kümmere ich mich«, lächelt er, »du musst nur vorlesen und kuscheln und dir von ihnen Bildchen malen lassen, auf denen du als Kittel-Strichmännchen vom Himmel schwebst.«
Liegt es am Sekt oder an der aufgekratzten Vor-Party-Stimmung, dass ich mir das plötzlich absolut vorstellen kann?
»Keine Angst«, sagt Alex, als er mich küsst, »das war noch nicht mein Heiratsantrag. Ich frage dann noch mal richtig.«
»Nicht vor dem Examen«, warne ich. Und lache dazu, damit er begreift, dass ich es als Scherz aufgefasst habe. Hab ich doch, oder? Es war doch ein Scherz?!
Bevor das Zukunftsgedanken-Karussell zu schnelle Fahrt aufnehmen kann, klingelt es und die vier Ausflügler kehren zurück. Sie kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, ihre Ahs und Ohs sind sicher bis auf die Straße zu hören. Dass ich immer: »Och, das haben wir Felix zu verdanken« und »Ach, das war Alex’ Idee« sage, ist nur aufgesetzte Bescheidenheit – in Wirklichkeit bin ich zum Platzen stolz und vor lauter Zufriedenheitsgrinsen tut mir schon das Gesicht weh.
»Ich hatte doch versprochen, dass die Party unserer Prüfungsvorbereitung nicht schadet«, erkläre ich, »im Gegenteil; nach heute Abend werden wir alle noch viel schlauer sein.«
Unweigerlich. Und nicht nur wir, auch all unsere Gäste. Denn ich habe das gesamte Prüfungswissen zum Partythema erhoben. Überall Lehrstoff und Examensaufgaben – auf den Folien an den Wänden, in den aufgeschlagen herumstehenden Büchern und sogar auf den T - Shirts der Gäste, mit denen sich allmählich die Wohnung füllt. Man kann gar nicht anders, als die ganze Zeit Medizinwissen aufzunehmen, man wird damit konfrontiert, wo immer man hinsieht, beim Tanzen, Essen und Quatschen – überall Lehrstoff. Dazu haben wir die Wohnung in klinischem Weiß verkleidet, es gibt Snacks aus Petrischalen und bunte Drinks aus Felix’ Reagenzgläsern. Ich war nicht ganz sicher, ob das wirklich auch für irgendjemanden, der nicht kurz vor dem Examen steht, unterhaltsam sein könnte, aber unsere Gäste amüsieren sich großartig.
Der größte Spaß ist die Medizin-Karaoke nach unserer Lernvia-Song-Methode. Wir haben jedem Gast eine Lehrbuchseiten-Kopie in die Einladung gesteckt und um einen Liedbeitrag gebeten. Jenny und Isa können sich kaum halten vor Lachen, als Alex die Karaokemaschine anwirft und die ersten Gäste mit ihren selbstgebastelten Liedvorträgen auftreten. Wir hören Funky cold Medina mit dem Text »Neuroborreliose, bildgebende Verfahren« zu Sweet home Alabama und »Hypoglykämisches Koma durch hohe Insulindosen« zu I was made for lovin’ you.
Every breath you take, ausgewählt von meinen Curling-Team-Band-Freunden, als Die UV-StrahlUng in ÜberdosierUng dargeboten und statt zur Karaoke mit zwei Gitarren begleitet, erntet großen Beifall. Am besten gefallen mir zwei Freundinnen von Jenny, die sich ausgerechnet I will survive ausgesucht haben, aber tatsächlich die Geschichte und Methoden der Pathologie auf die Melodie gepresst haben und sich nicht entblöden, uns statt At first I was afraid I was petrified »Zuerst war’n Herr Morgagni und Herr Virchow da, die BEgründer der MOdernen PaTHOlogie« vorzusingen. DAS ist das komischste Lied, das ich je gehört hab!
Im Vorhinein war gar nicht abzusehen, wie sehr die Medizin-Karaoke auch alle Nichtmediziner amüsiert – weil die Beiträge herrlich schräg und manche Reimversuche einfach zu doof sind. Aber das gesungene Wissen prägt sich trotzdem unauslöschlich ein. Genau deswegen. Und nicht nur uns, die wir es brauchen können. Ich erwische Jennys Geologenfreund Georg dabei, wie er beim Drinksmixen selbstvergessen »Bildgebende Verfahren« vor sich hin singt. Ich weiß nicht, ob Georg dieses Wissen jemals brauchen wird. Aber Sweet home Alabama ist so ein Ohrwurm – FALLS es eines Tages gebraucht werden sollte, kann Georg sicher auch in fünf Jahren noch vorsingen, wie ein CT gemacht wird.
Als es gegen Ende der Party ruhiger wird, ergibt sich die Gelegenheit, einen Moment mit Tom allein zu sein und ihn auf den Gemütszustand seiner Freundin anzusprechen.
Tom scheint sich weniger Sorgen zu machen als ich. »Es ist die wichtigste Prüfung ihres Lebens«, erklärt er. »Ist doch klar, dass sie momentan keine Zeit für etwas anderes hat. Oder für mich. Ich versteh das. Sie muss lernen, bis sie über ihren Büchern einschläft.«
Ich sehe offenbar unzufrieden aus, denn er stockt plötzlich. »Oder glaubst du, es liegt an der Hochzeit?«, fragt er. »Wir haben zwar die meisten Vorbereitungen auf die Zeit nach der Prüfung verschoben – aber wir reden natürlich ständig davon. Vielleicht lenkt sie das mehr vom Lernen ab, als sie zugibt?«
Ja, klar. Das wird es sein. Isa hat zu viel Ablenkung.
»Tu mir einen Gefallen«, sage ich kopfschüttelnd. »Rede bitte STÄNDIG von der Hochzeit. Statt dass du auch noch dauernd darüber sprichst, wie lebensentscheidend die Prüfungen sind.«
Tom nickt. Vielleicht hat er doch kapiert, was ich meine.
»Du passt doch auf sie auf, wenn ich nicht hier sein kann?«, fragt er leise.
Ich verspreche es. Auch wenn Tom damit vielleicht nur meint, dass ich abends, wenn Isa darüber eingeschlafen ist, ihr Buch zuklappe.