11. KAPITEL

Rebecca wusste, dass sie ihre Abreise nicht mehr lange würde hinausschieben können. Je länger sie blieb, desto mehr gewöhnte sie sich an Shane. Aber sie wusste auch, dass sie noch niemals in ihrem Leben irgendwo so glücklich gewesen war wie hier.

Würde sie es schaffen, diese herrliche Zeit einfach hinter sich zu lassen?

Sie würde, entschied sie, während sie durch den Wald hinüber zur Farm wanderte. Sie musste es, und zwar nicht um ihretwillen, sondern wegen Shane. Das war sie ihm schuldig. Die Unverbindlichkeit ihrer Affäre war von Anfang an Teil ihres unausgesprochenen Abkommens gewesen. Was allerdings sie selbst anbetraf, war ihr längst klar geworden, dass sie Shane nie in ihrem Leben vergessen würde.

Und doch wurde es jetzt Zeit zu gehen. Es würde wehtun, sehr weh, aber sie würde es überleben. An einem gebrochenen Herzen starb man nicht.

Trotz alledem würde ihr das Leben jetzt, nachdem sie die Liebe kennengelernt hatte, leichter fallen.

Sie kannte die griechischen Tragödien gut. Jedes Glück hatte seinen Preis. Bald würde auch ihr die Rechnung präsentiert werden.

Morgen war der Jahrestag der Schlacht bei Antietam. Rebecca verspürte den unwiderstehlichen Drang, diesen Tag und vielleicht den nächsten noch auf der Farm zu verbringen. Dann würde sie zu Regan zurückkehren und versuchen, sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie wieder nach New York zurückfahren musste.

Als sie aus dem Wald trat, tauchte die Farm vor ihr auf. Noch nirgends war sie so glücklich gewesen, und hier hatte sie die große Liebe ihres Lebens gefunden.

Dafür sollte sie wirklich dankbar sein. Es gab nichts zu bereuen.

Ein lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Vor dem Wohnhaus der Farm kam ein Auto mit quietschenden Bremsen zum Stehen, einen Moment später wurde die Tür aufgestoßen, und eine rothaarige Frau stieg aus.

Die Entfernung war nicht so groß, als dass sie, als Shane aus dem Haus trat, sein breites Lächeln nicht hätte erkennen können. Der Wind trug das vergnügte Lachen der Frau zu ihr herüber. Rebecca blieb stehen.

Als sich die beiden umarmten und sich gar nicht mehr voneinander zu lösen schienen, stieg überraschend heiße Eifersucht in ihr auf.

Oh nein, noch gehört er mir, protestierte hitzig eine innere Stimme. Er gehört mir, bis ich fortgehe.

Auch während sie sprachen, standen die beiden eng beieinander, einen Moment später klang wieder ein helles Lachen auf, die beiden umarmten sich erneut, dann stieg die Frau ins Auto ein und fuhr fröhlich winkend davon.

Shane tätschelte den beiden Hunden, die bellend um ihn herum sprangen, die Köpfe, gleich darauf richtete er sich auf und hob die Hand.

Rebecca wusste, dass er sie entdeckt hatte, und ging langsam weiter, den Blick auf das Auto geheftet, bis es hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden war.

„Hallo, Rebecca.” Shane kam mit in die Hosentaschen gehakten Daumen auf sie zugeschlendert. „Wie geht’s Savannah?”

„Gut. Sie hat mir einige ihrer Zeichnungen gezeigt. Ich finde sie wunderschön.”

„Ja. Sie kann wirklich gut zeichnen.” Sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht.

Shane versuchte, in Rebeccas Gesicht zu lesen. Er räusperte sich. „Ah … Frannie Spader war eben auf einen Sprung hier.”

„Ja, ich habe sie eben gesehen.” Rebeccas Stimme klang spröde. Sie beugte sich hinunter und streichelte die Hunde. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, machte sie Anstalten, ins Haus zu gehen. „Ich habe noch zu arbeiten.”

„Rebecca.” Shane hielt sie am Arm fest. „Zwischen ihr und mir ist nichts, falls du das denkst. Sie ist eine Freundin. Sie ist einfach nur kurz vorbeigekommen.”

„Warum glaubst du denn, dich rechtfertigen zu müssen?”

„Weil ich … schau, Fran und ich waren einige Zeit zusammen. Waren”, betonte er, wobei er spürte, dass Verärgerung in ihm aufstieg. Verärgerung über sich selbst. „Zwischen uns ist nichts mehr, und zwar seit … nun, seit du hier bist. Wir sind Freunde.”

Oh, wie guttat es doch zu sehen, wie er sich wand. „Hast du denn das Gefühl, ich verlange von dir eine Erklärung?”

„Nein. Ja.” Verdammt. Plötzlich versuchte er sich vorzustellen, wie er reagiert hätte, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre. Wenn er hätte mit ansehen müssen, wie sie einen anderen Mann umarmte. Und küsste. „Ich will nur nicht, dass du auf falsche Gedanken kommst, das ist alles.”

„Warum sollte ich wohl auf falsche Gedanken kommen? Und auf welche?”

„Hör auf damit.” Er ließ ihren Arm los und trat einen Schritt zurück. Dann kam er wieder auf sie zu. „Ich hasse es. Ich hasse es wie die Pest.”

„Was hasst du?”

„Die Art, wie du Fragen stellst. Was fühlst du, was denkst du und so weiter. Ich kann es nicht mehr hören.” Seine Augen blitzten vor Zorn.

„Verdammt noch mal, die richtige Frage hätte gelautet: Warum, zum Teufel, küsst du eine andere Frau?”

„Hast du das Gefühl, dass eine Eifersuchtsszene angebracht gewesen wäre?” Seine Antwort bestand aus finsterem Schweigen. Sie zuckte die Schultern. „Tut mir leid, aber damit kann ich nicht dienen. Ich habe nicht vor, dich zu kontrollieren. Zweifellos hattest du ein Leben, bevor wir uns kennengelernt haben, und du wirst auch danach eines haben.”

„Na wunderbar. Wirf mir ruhig meine Vergangenheit vor.”

„Findest du, dass ich das tue?”

„Kannst du eigentlich nicht kämpfen wie jeder andere Mensch auch?”

„Wenn es etwas gibt, worum man kämpfen kann, durchaus. Aber deine Freundinnen gehen mich nichts an. Es wäre wirklich äußerst unproduktiv, wollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen.”

Sein Verstand befahl ihm, die Diskussion auf der Stelle zu beenden, dennoch sagte er: „Hör zu, Rebecca, wenn ich mit so vielen Frauen geschlafen hätte, wie die Leute vermuten, wäre ich aus dem Bett überhaupt nicht mehr rausgekommen. Und im Übrigen habe ich auch nicht mit jeder Frau, mit der ich ab und zu ausgehe, ein Verhältnis. Ich bin kein … ach, verdammt noch mal, warum erzähle ich dir das eigentlich alles?”

„Das wollte ich dich gerade fragen. Meiner Meinung nach projizierst du im Moment deine Gefühle, deine voraussichtliche Reaktion, wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, extrem stark auf mich. Hinzu kommen Schuldgefühle und Arger darüber, dass du so empfindest, wie du empfindest. Um deinen Zorn von dir selbst abzulenken, lenkst du ihn …”

„Jetzt reicht’s mir aber.” Er legte ihr die Hand unters Kinn, sodass sie gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen. „Frannie kam vorbei, um mich zu fragen, ob ich nicht Lust hätte, heute Abend mit ihr ein Bier trinken zu gehen. Ich habe nein gesagt. Sie wollte wissen, ob wir beide, du und ich, eine Beziehung hätten. Ich sagte ,Ja, eine sehr heftige Beziehung sogar’.

Dann haben wir uns noch einen Moment unterhalten, bis sie sich schließlich verabschiedete. Das war’s. Zufrieden?”

Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, doch ihre Stimme klang kühl und sachlich. „Habe ich dir den Eindruck vermittelt, dass ich unzufrieden bin?”

Seine Augen blitzten gefährlich. Rebecca empfand angesichts seiner Reaktion eine tiefe Befriedigung. Und der Fluch, der ihm über die Lippen kam, ehe er sich umdrehte und davonging, befriedigte sie nicht minder.

Gut gemacht, Dr. Knight, lobte sie sich selbst. Es war schwer vorstellbar, dass Shane in allernächster Zeit große Lust verspüren würde, eine andere Frau zu küssen. Vergnügt vor sich hin summend, schlenderte sie ins Haus.

Du musst heute unbedingt noch was tun, dachte sie, als sie in der Küche an ihrem Computer vorüberging. Doch erst wollte sie sich noch einen Augenblick Ruhe gönnen und ihren Triumph voll und ganz auskosten.

Der arme Junge war ja so berechenbar. Er zeigte ganz klassische Reaktionen. Der Gedanke, dass etwas von ihm, und sei es noch so harmlos, falsch interpretiert werden könnte, versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Hinzu kam, dass der Ruf des Herzensbrechers schwer auf seinen Schultern lastete. Herzensbrecher, nicht Frauenheld. Eines Tages würde sie ihm vielleicht den feinen Unterschied erklären zwischen einem Mann, der die Frauen liebte, und einem, der sie lediglich benutzte.

Von ihrer rationalen Reaktion hatte er sich offensichtlich stark verunsichert gefühlt. Sie war ein direkter Anschlag auf sein männliches Ego gewesen.

Wirklich höchst interessant, was zwischen Männern und Frauen so al es ablief.

Vielleicht sollte sie irgendwann einmal etwas darüber schreiben. Sie ging zum Fenster. Dafür musste sie jedoch erst einmal den richtigen Abstand haben. Und bis dahin jedoch würde sie nicht nur wissen, wie es war, sich zu verlieben und zu lieben, sondern auch, wie man sich fühlte, wenn man diese Liebe wieder verlor.

Eines Tages würde sie vielleicht den Mut aufbringen, ihn zu fragen, was sie ihm bedeutet und wie er ihre gemeinsame Zeit empfunden hatte. Ja, dachte sie, belustigt über sich selbst. In einem Jahrzehnt vielleicht oder auch erst in zweien.

Noch immer in Hochstimmung, beschloss sie, sich an eine Aufgabe heranzuwagen, die ihr nicht zu bewältigen erschien. Sie würde heute ihr Abendessen selbst zubereiten. Vielleicht gelang es ihr ja, noch ein paar zusätzliche Lorbeeren einzuheimsen.

So schwierig konnte es schließlich nicht sein. Immerhin hatte sie in ihrer Handtasche das Rezept, nach dem Regan ein Brathähnchen zubereitete.

Nachdem sie den zusammengeknüllten Zettel aus ihrer Tasche genommen hatte, steckte sie sich als Schürzenersatz ein Geschirrtuch in den Hosenbund. Dann machte sie sich frohgemut an die Arbeit.

Kochen hat tatsächlich etwas Beruhigendes, sinnierte sie, während sie das Hähnchen würzte. Zumindest rein oberflächlich betrachtet. Doch wenn man es Tag für Tag nach einem anstrengenden Arbeitstag machen musste, sah die Sache wahrscheinlich ganz anders aus.

Als Hobby jedoch hatte es durchaus etwas für sich. Vorausgesetzt, man übertrieb es nicht in der Weise, dass man, wie viele ihrer Geschlechtsgenossinnen, eine Berufung daraus machte, hielt sie es nicht für ausgeschlossen, dass man sich damit anfreunden könnte. Die Wissenschaft war schließlich nicht alles auf der Welt.

Nachdem sie das Hähnchen in heißem Ol angebraten hatte, trat sie stolz einen Schritt zurück und gratulierte sich selbst. Es roch gut, es sah gut aus.

Demzufolge musste es auch gut schmecken.

Shane würde Augen machen, wenn er zurückkommen und eine warme Mahlzeit vorfinden würde.

Melkzeit, dachte sie und stach mit der Gabel in die knusprige Kruste. Es wurde schon merklich früher dunkel, der Winter stand vor der Tür …

Ob sie den Schein der Lagerfeuer sehen würde, wenn sie aus dem Fenster schaute? Die Soldaten waren ganz nah und warteten auf den Beginn der Schlacht.

Sie wünschte sich, John würde endlich heimkommen, damit sie das Haus abschließen konnte. Sie sagte sich, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Hier waren sie sicher. Sie mussten einfach sicher sein. Noch ein Kind durfte sie nicht verlieren. Das würde sie nicht überleben. Ebenso wenig wie John. Sie presste ihre Hand gegen ihren Bauch, wie um das menschliche Wesen, das darin strampelte, gegen alle Widrigkeiten des Lebens zu beschützen. Sie hoffte inständig auf einen Sohn. Nicht, um den zu ersetzen, den sie verloren hatten. Nichts auf der Welt konnte ihnen Johnnie ersetzen, sie würden ihn niemals vergessen. Doch wenn das Baby, das sie unter dem Herzen trug, ein Junge war, würde das vielleicht Johns Kummer ein wenig lindern.

Er litt. Er litt so entsetzlich, und es gab keinen Trost. Sie konnte ihn lieben, ihn trösten und ihm beistehen in seiner Verzweiflung, und dennoch war sie gegen diese allumfassende Trauer machtlos. Auch die Mädchen gaben sich redliche Mühe, ihren Vater aus seiner Niedergeschlagenheit zu reißen, und Gott war ihr Zeuge, dass sie die reine Freude waren. Aber Johnnie war ihnen nun einmal gewaltsam entrissen worden, und jeder Tag, der mit Gefechtfeuer ins Land ging, war eine schmerzliche Erinnerung an diesen Verlust.

Vielleicht fand ja heute die alles entscheidende Schlacht statt. Sie wendete das Hähnchen im Bräter, wie sie es schon so oft getan hatte.

Wäre das vielleicht eine Art von Gerechtigkeit, wenn der Krieg hier auf diesem Boden enden würde, hier, wo ihr Sohn geboren war?

Hockte der Mann, der ihren Sohn irgendwo da draußen erschossen hatte wie einen tollwütigen Hund, vielleicht hier ganz in der Nähe in einem Unterstand? Wen würde er morgen töten? Oder würde sein Blut heute Nacht in diesen Boden einsickern, über den sie schon seit so vielen Jahren ging?

Warum zogen sie nicht ab? Warum zogen die Soldaten nicht einfach ab und ließen sie mit ihrer Trauer al ein?

Heißes Fett spritzte aus der Pfanne auf Rebeccas Hand. Obwohl sie den Schmerz kaum spürte, zuckte sie zurück. Gefühle, Gedanken, Satzfetzen und Geräusche wirbelten in ihrem Kopf wild durcheinander.

Du bist besessen, dachte sie verschwommen. Es gab einfach keinen anderen Ausdruck dafür. Und dann fiel sie zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht.

Die Küchentür flog auf. Shane stürmte herein. „Und im Übrigen wollte ich dir noch sagen, dass …”, begann er. Einen Moment später fiel sein Blick auf die am Boden liegende Rebecca. Sein Herzschlag setzte kurz aus.

Mit zwei langen Schritten war er bei ihr, kauerte sich neben ihr nieder und versuchte sie hochzuziehen. „Rebecca.” Er tastete nach ihrem Puls.

„Rebecca, wach auf. Was machst du denn für Sachen, um Himmels willen?” Zu Tode erschrocken, schüttelte und küsste er sie. Er flehte sie an, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Bis ihre Lider schließlich zu flattern begannen und sich einen Moment später langsam hoben.

„Shane.”

„Ja, ich bin’s.” Erleichtert atmete er auf. „Bleib ganz still liegen, Baby, bis du dich wieder besser fühlst.”

„Ich war sie, Shane”, murmelte sie und gab sich alle Mühe, den Nebel aus ihrem Kopf zu verbannen. „Vor einer Minute war ich sie. Ich muss meine Geräte überprüfen.”

„Zur Hölle mit deinen Geräten.” Es war geradezu lächerlich einfach, sie am Boden zu halten. „Tu, was ich dir sage, und lieg still. Hast du dir den Kopf angestoßen? Tut dir irgendetwas weh?”

„Ich … ich glaube nicht. Was ist passiert?”

„Das würde ich gern von dir wissen. Ich kam rein und sah dich auf dem Boden liegen.”

„Großer Gott.” Sie holte tief Luft und schmiegte ihren Kopf in Shanes Armbeuge. „Ich bin in Ohnmacht gefallen. Stell dir das doch bloß mal vor.”

„Das muss ich mir gar nicht vorstellen. Du hast mir einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Was, zum Teufel, hast du angestellt, dass du in Ohnmacht gefallen bist?” Auf ihr Schulterzucken hin raufte er sich die Haare. „Kein Wunder, du isst ja auch nur wie ein Vogel. Und du schläfst auch viel zu wenig. Fünf Stunden, und dann schleichst du schon wieder durchs Haus oder hackst auf diesem idiotischen Computer herum.”

Er steigerte sich immer mehr in seinen Zorn hinein, sodass sie schon befürchtete, er würde überhaupt nicht mehr aufhören. „Nun, das wird sich ändern. Dafür sorge ich, darauf kannst du dich verlassen. Du wirst anfangen, dich um dich selbst zu kümmern. Du bist ein einziges Nervenbündel, das nur aus Haut und Knochen besteht. Hat man dir in deinen feinen Schulen nichts über grundlegende körperliche Bedürfnisse beigebracht? Oder glaubst du vielleicht, dein Körper sei eine Ausnahme?”

Sie ließ ihn wüten, bis das Zimmer aufgehört hatte, sich vor ihren Augen zu drehen. Er drohte ihr, sie zum Arzt zu bringen, sie im Krankenhaus untersuchen zu lassen. Schließlich hob sie die Hand und legte sie ihm über den Mund.

„Ich bin noch nie zuvor in meinem Leben in Ohnmacht gefallen und habe nicht die Absicht, dies zur Gewohnheit werden zu lassen. Ich wäre dir dankbar, wenn du dich jetzt beruhigen und mich aufstehen lassen würdest, ich muss nämlich nach dem Hähnchen sehen, es verbrennt mir sonst noch.”

„Hähnchen? Was hast du angestellt?”, fragte er noch einmal, half ihr jedoch auf und führte sie zu einem Stuhl.

„Ich habe gekocht. Und ich habe das Gefühl, dass es ganz gut geworden wäre. Vielleicht lässt sich ja noch etwas retten.”

Er schnaufte ungehalten, ging zum Wasserhahn, ließ Wasser in ein Glas laufen und reichte es ihr. „Hier, trink erst mal.”

Sie wollte ihm sagen, dass er es dringender benötige als sie, entschied sich dann jedoch dagegen. Gehorsam nippte sie an dem Glas. „Ich habe gekocht”, wiederholte sie, „und dabei meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Doch plötzlich waren es nicht mehr meine eigenen Gedanken.

Sie waren klar – sehr persönlich, könnte man sagen. Aber es waren nicht meine, sondern die von Sarah.”

„Du hast dich nur in diesen ganzen Unsinn hineingesteigert.”

„Shane, ich bin ein sensibler Mensch. Aber auch rational. Ich weiß sehr genau, was passiert ist. Sie hat ein Hähnchen gebraten.” Kopfschüttelnd stellte Rebecca das Glas ab. „Ist es nicht seltsam, dass ich ausgerechnet heute, am 16. September, beschlossen habe, Regans Rezept auszuprobieren? Sarah hat in der Nacht vor der Schlacht ein Hähnchen gebraten.”

„Dann weißt du jetzt wenigstens, was sie damals gegessen haben.”

„Ja”, erwiderte sie fest, ohne sich von seinem Sarkasmus beeindrucken zu lassen. „Jetzt weiß ich es. Sie hat es gebraten, und dabei dachte sie über ihre Familie nach und über das Baby, mit dem sie schwanger ging. Sie machte sich Sorgen. Überlegte, wer wohl am nächsten Morgen tot sein würde. Die Soldaten lagen nicht weit vom Haus entfernt in ihren Unterständen und warteten auf den Beginn der Schlacht. Sie bereitete das Abendessen vor, und ihr Mann war draußen bei dem Vieh. Sie wünschte sich, dass er endlich ins Haus kommen möge, damit sie abschließen könnten. Sie machte sich Sorgen um ihn. Sie hatte alles getan, was in ihrer Kraft stand, um ihn aufzuheitern, doch ohne Erfolg.”

„Mir scheint, du arbeitest einfach zu viel”, wandte Shane vorsichtig ein.

„Und wahrscheinlich hat die Tatsache, dass morgen der Jahrestag ist, deine Fantasie ein wenig überreizt.”

Da sie sich jetzt wieder sicher auf den Beinen glaubte, erhob sie sich.

„Du weißt, dass das nicht wahr ist. Ebenso wie du weißt, was hier in diesem Haus ist, aber du hast beschlossen, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das ist deine Entscheidung, und ich respektiere sie. Ich weiß sehr genau, dass du manchmal in der Nacht davon träumst und dass diese Träume dich beunruhigen. Aber genauso, wie ich es respektiere, dass du es vorziehst, diese Dinge zu verdrängen, erwarte ich von dir, dass du meine Umgehensweise damit ebenso respektierst.”

„Meine Träume gehen nur mich etwas an.”

„Nichts anderes habe ich eben gesagt. Und ich habe dich nicht gebeten, mir etwas zu erzählen.”

„Nein, du bittest mich nie um etwas, Rebecca.” Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Du wartest immer nur ab, und das macht mich ganz verrückt. Mir reicht es allmählich.”

„Willst du, dass ich gehe?”

Als er nicht antwortete, wurde ihr kalt, und sie umarmte sich selbst, um sich zu wärmen. Doch ihre Stimme klang ruhig. „Nun, ich vermute, dann muss ich dich jetzt um etwas bitten. Es ist wichtig für mich, bis morgen hierzubleiben. Warum, kann ich dir nicht sagen, es ist nur so ein Gefühl. Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir in dieser Hinsicht entgegenkommen würdest.”

„Kein Mensch hat dich gebeten zu gehen, oder?”, erwiderte er, jetzt wütend auf sich selbst. Warum kam plötzlich diese Panik? „Wenn du bleiben willst, bleib. Es ist überhaupt kein Problem, aber halt mich bitte aus dieser Sache raus, klar? Ich habe noch kurz zu tun, und dann fahre ich in die Stadt.”

„In Ordnung.”