3. KAPITEL

Es war einer der aufregendsten Momente in Rebeccas Leben – einfach so dazustehen und die milde Luft, die den Blütenduft von frühen Chrysanthemen und Spätsommerrosen trug, einzuatmen, während sich über ihr ein tiefblauer, wolkenloser Himmel wölbte. Vor ihr lag das MacKade-Inn.

Da sie schon oft in Europa gewesen war, kannte sie Frankreichs beeindruckende Kathedralen, Italiens romantische Villen und die berühmten Ruinen Griechenlands. Doch dieses urwüchsige, düstere Gemäuer aus rohem Stein und Holz berührte sie mehr als die Türme von Notre-Dame.

Vielleicht deshalb, weil sie wusste, dass dieses Haus ein Geisterhaus war.

Sie wünschte sich, sich öffnen zu können für die Geheimnisse, die es in sich barg. Sie wollte sie ergründen. Ihre Hingabe an die Wissenschaft hatte sie gelehrt, dass es auf der Welt noch vieles gab, was der Erklärung harrte.

Als Wissenschaftlerin fragte sie immer nach dem Was, Wie und Warum.

So ging es ihr auch jetzt mit dem einstigen Barlow-Haus, dem jetzigen MacKade-Inn. Wären ihr die Legenden nicht bekannt gewesen, die sich darum rankten, hätte sie in ihm wohl kaum mehr gesehen als ein von einer doppelstöckigen Veranda umgebenes, beeindruckendes altes Haus mit einem bezaubernden Garten, der in voller spätsommerlicher Blüte stand.

Sie hätte überlegt, wie es wohl möbliert sein und von welchem Fenster aus man den schönsten Blick haben mochte. Vielleicht hätte sie noch ein paar flüchtige Gedanken daran verschwendet, was für Menschen früher darin gelebt haben könnten und wie ihr Leben wohl verlaufen war.

Doch das alles wusste sie bereits. Sie hatte viel Zeit damit zugebracht, sich mit der Geschichte des Hauses und seiner einstigen Bewohner vertraut zu machen.

Nun war sie hier und stieg neben Regan die Stufen zu der einladenden Veranda hinauf. Und ihr Herz begann schneller zu schlagen.

„Es ist wundervoll, Regan.”

„Du hättest es vorher sehen sollen.” Voller Stolz ließ Regan den Blick über Haus und Garten schweifen. „Es war nichts als ein altes, verfallenes Gemäuer auf einem völlig verwilderten Grundstück mit zerbrochenen Fensterscheiben und einer verrotteten Veranda. Und innen hättest du es erst mal sehen sollen …” Sie schüttelte den Kopf. „Rafe ist ein echter Visionär, das muss ich neidlos zugeben. Als ich das Haus zum ersten Mal betrat, konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass man es wieder in Schuss bringen könnte, doch er wusste genau, wo er ansetzen musste.”

„Aber er hat es nicht allein gemacht.”

„Nein.” Um ihre Mundwinkel spielte ein kleines Lächeln, als sie die Hand an die Türklinke legte. „Ich habe auch gute Arbeit geleistet.” Sie öffnete die Tür. „Sieh nur selbst.”

Das kann man wohl sagen, dachte Rebecca beeindruckt, als sie die große Halle betrat. Der spiegelblanke Parkettboden glänzte golden im Sonnenlicht, und an den Wänden schimmerten Seidentapeten. Die antiken Möbel, auf Hochglanz poliert, waren so harmonisch angeordnet, dass man das Gefühl hatte, sie seien eins mit dem Raum.

Rebecca folgte Regan in den Salon, wo vor dem gemauerten Kamin mit dem Marmorsims ein einladendes Sofa mit kunstvoll geschwungener Rückenlehne stand. Die beiden leuchtenden Blumensträuße auf dem Kaminsims brachten den Spätsommer ins Haus, und ihr Duft erfüllte das Zimmer.

„Man erwartet direkt, Reifröcke rascheln zu hören”, bemerkte Rebecca hingerissen.

„Genau das war die Idee. Die Möbel stammen alle aus der Zeit des Bürgerkriegs, und auch die Farben, die wir für die Stoffe und Tapeten gewählt haben, sind Originalfarben. Selbst die Bäder und die Küche vermitteln diesen Eindruck, auch wenn natürlich alles modernisiert und mit der neuesten Technik ausgestattet ist.”

„Ihr müsst geschuftet haben wie die Wilden.”

„Das haben wir wirklich”, gab Regan versonnen zurück. „Aber meistens kam es uns gar nicht vor wie Arbeit, wahrscheinlich weil wir bis über beide Ohren verliebt waren. Am Anfang war unsere Liebe die reinste Explosion.”

„Explosion?” Rebecca wandte sich lächelnd zu Regan um. „Das hört sich ja richtig gefährlich an.”

„Das war es auch. Wenn man es mit einem MacKade zu tun bekommt, fühlt man sich wie in einem Wirbelsturm.”

„Und das gefällt dir offensichtlich daran.”

„Ja. Wer hätte das gedacht?”

„Nun, offen gestanden war ich immer davon überzeugt, dass du eines Tages an einen kultivierten Mann geraten würdest, der Squash spielt, um in Form zu bleiben. Es freut mich aber sehr, dass ich mich offenbar geirrt habe.”

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite”, gab Regan herzlich zurück und schüttelte den Kopf. „Squash?”

„Oder Polo. Vielleicht auch Tennis.” Jetzt lachte Rebecca laut auf. „Es hätte zu dir gepasst, du warst doch immer so schick … wie aus dem Ei gepellt.” Sie deutete auf die messerscharfe Bügelfalte in Regans Hose.

„Und bist es immer noch.”

„Ich hoffe, das ist ein Kompliment”, gab Regan trocken zurück.

„Ich glaube, ich habe Stimmen gehört.” Rebecca ging zur Tür und sah eine zierliche blonde junge Frau mit einem Baby, das sie sich in einem Tuch vor die Brust gebunden hatte, die Treppe herunterkommen.

„Ich habe mir schon gedacht, dass du oben bist.” Regan ging ihr entgegen und warf einen Blick auf den schlafenden Säugling. „Cassie, du hast wieder mit dem Kleinen auf dem Arm die Laken gewechselt, gib’s zu.”

„Ich wollte frühzeitig fertig werden. Und Ally war quengelig. Das muss deine Freundin sein.”

„Ja, das ist Rebecca Knight, das Wunderkind.” In Regans Stimme lag so viel Zuneigung, dass Rebecca lächeln musste. „Cassandra MacKade, unersetzbare Managerin des MacKade-Inn.”

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.” Cassie nahm ihre Hand vom Geländer und hielt sie Rebecca hin.

„Und ich freue mich schon seit Wochen auf diesen Besuch. Das muss ein recht aufreibender Job sein, dieses Hotel hier zu führen.”

„Mir kommt es überhaupt nicht wie Arbeit vor. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause hier, Rebecca. Ich nehme an, Sie möchten sich erst einmal in aller Ruhe umsehen, stimmt’s?”

„Oh ja. Ich sterbe vor Neugier.”

„Ich will nur noch rasch oben die Zimmer fertig machen. Sagt mir Bescheid, wenn ihr etwas braucht. In der Küche ist frischer Kaffee, und ein paar Muffins sind auch noch vom Frühstück übrig.”

„Das dachte ich mir.” Regan lachte und fuhr Ally zärtlich mit der Hand über das dunkle Haar. „Gönn dir doch eine Pause, Cassie, und trink eine Tasse Kaffee mit uns. Rebecca lechzt nach ein paar Geschichten, erzähl ihr doch bitte einige.”

„Nun, ich …” Cassies Blick schweifte die Treppe nach oben, ganz offensichtlich machte sie sich Sorgen über die ungemachten Betten.

„Ich bin wirklich schon sehr gespannt”, schaltete sich Rebecca ein.

„Regan hat mir erzählt, dass Sie einige recht seltsame Erlebnisse hatten. Ich würde sehr gern Näheres darüber erfahren. Stimmt es, dass Sie tatsächlich einen Geist gesehen haben?”

„Ich …” Cassie errötete. Hier handelte es sich um etwas, das sie nicht jedem erzählte – und das nicht etwa deshalb, weil das Erlebnis so merkwürdig gewesen war, sondern weil es sich um eine sehr persönliche Angelegenheit handelte.

„Ich habe vor, meinen Aufenthalt dazu zu nutzen, diese Geschichten aufzuschreiben.”

„Ja. Ich hab’s schon gehört.” Cassie holte tief Luft. „Ich habe den Mann gesehen, den Abigail Barlow geliebt hat. Er hat zu mir gesprochen.”

Faszinierend, dachte Rebecca ein ums andere Mal, während sie zu dritt durchs Haus gingen und Cassie ihre Geschichte mit ruhiger, leiser Stimme erzählte. Es war eine tragische Geschichte von Liebe und Tod. Angesichts der Vorstellung von ruhelos umherwandernden Geistern überlief Rebecca ein Schauder, aber sie verspürte nicht die tiefe Verbundenheit, die sie nach ihrem gestrigen Erlebnis auf der Herfahrt erwartet hatte. Interesse, das wohl, und auch brennende Neugier, aber keine Vertrautheit.

Später, als Rebecca allein durch den Wald wanderte, gestand sie sich ein, dass sie gehofft hatte, eine tiefe persönliche Erfahrung zu machen, etwas zu sehen oder zumindest zu spüren, für das es auf den ersten Blick keine rationale Erklärung gab. Sie nährte ihr Interesse an Übersinnlichem schon eine ganze Weile, doch bis jetzt war alles nur Fantasie. Langsam wurde Rebecca ungeduldig. Bisher war es ihr nur in ihren Träumen gelungen, sich aus der existierenden Welt fortzustehlen und in weite Fernen zu entrücken.

Das Haus, in dem sie eben gewesen war, bewahrte ein Geheimnis aus lang zurückliegender Zeit in sich, das sich nur dem öffnete, der auf ganz bestimmte Weise zu sehen, zu hören und zu fühlen verstand. Sie aber hatte nur die schöne Oberfläche gesehen, es war ihr nicht gelungen, tiefer einzudringen. Die Geister oder was auch immer es sein mochte, das in diesem Haus herumspukte, hatten sich ihr nicht zu erkennen gegeben.

Doch sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Ihre Ausrüstung würde heute eintreffen, und Cassie hatte ihr für die nächsten paar Tage im Inn ein Zimmer angeboten mit der Zusicherung, dass sie mehr als will kommen sei.

Noch war nicht alles verloren. Sie würde forschen, so lange forschen, bis das Haus auch ihr sein Geheimnis preisgab.

Hier irgendwo hatten die beiden jungen Soldaten aufeinander geschossen. Sie lauschte angestrengt, aber sie vernahm weder das Krachen von Gewehrsalven noch Schmerzensschreie. Sie hörte nur das Zwitschern der Vögel, Blätterrascheln, verursacht von eilig herumhuschenden Eichhörnchen auf der Suche nach Nüssen, und das leise Summen der Insekten. Kein Lüftchen regte sich.

Sie folgte Cassies präziser Beschreibung und erreichte die Stelle, an der die beiden Soldaten aufeinandergetroffen waren. Dort ließ sie sich auf einem Felsblock nieder, nahm ihr Notizbuch aus ihrer Handtasche und begann ihre Gedanken niederzuschreiben: „Heute hatte ich lediglich ein paar ganz leichte Deja-vu-Erlebnisse.

Nichts, was dem vergleichbar wäre, was ich gestern in der Nähe der MacKade-Farm empfunden habe. Es ist wundervoll, endlich wieder einmal mit Regan zusammen zu sein, ihr Glück aus nächster Nähe zu beobachten und ihre Familie kennenzulernen. Ich glaube, es ist wahr, dass manche Menschen ihre vollkommene Ergänzung in einem anderen Menschen finden. Bei Regan ist das zweifellos der Fall. Rafe MacKade ist ein wunderbarer Mann, er strahlt so viel Stärke und Selbstsicherheit aus, dass ihm wohl kaum eine Frau widerstehen könnte. Es tut wirklich gut, mit anzusehen, wie sehr er Regan und die Kinder liebt. Die beiden scheinen ihr Glück gefunden zu haben.

Cassie MacKade ist eine kompetente, tüchtige Frau mit gesundem Menschenverstand und einer Ausstrahlung, die ich fast unschuldig zu nennen versucht bin. Sie ist Mutter dreier Kinder, hat einen aufreibenden Job und eine – wie Regan mir anvertraut hat – sehr traurige Vergangenheit. Ich mochte sie auf Anhieb und fühle mich in ihrer Gegenwart sehr entspannt. Eine Art von Entspanntheit, wie ich sie nur sehr wenigen Menschen gegenüber empfinde.

Ich freue mich schon darauf, Devin MacKade, ihren Ehemann, kennenzulernen. Devin ist der Sheriff von Antietam. Ich bin sehr gespannt auf ihn.”

Rebecca hielt inne, überflog das Geschriebene noch einmal und schüttelte amüsiert über sich selbst den Kopf. Ihre Aufzeichnungen waren alles andere als wissenschaftlich.

„Auf jeden Fall fiel mir im MacKade-Inn nichts Außergewöhnliches auf. Cassie und Regan zeigten mir die Braut-Suite, einst Abigail Barlows Zimmer, einen Raum in einem entlegenen Teil des Hauses, wo sie die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte. Hier ist sie auch gestorben – zumindest Cassies Meinung nach durch eigene Hand. Ich bekam Gelegenheit, mir das Herrenzimmer, Charles Barlows Refugium, anzusehen und das ehemalige Kinderzimmer, das jetzt ein hübsches Schlafzimmer ist. In der Bibliothek behaupteten sowohl Regan als auch Cassie, starke übersinnliche Wahrnehmungen gehabt zu haben, was ich nicht anzweifle; ganz im Gegenteil, ich beneide sie um ihre Offenheit solchen Dingen gegenüber.

Leider scheint es so zu sein, dass mein Verstand zu sehr im Rationalen wurzelt, als dass es mir gelingen könnte, ins Unterbewusste vorzudringen.

Hier, in den Wäldern, in denen es seit fast einem Jahrhundert spukt, verspüre ich nur die Kühle des tatsächlich existierenden Schattens und sehe lediglich das, was auch wirklich mit Händen zu greifen ist – Bäume, Sträucher und Felsen. Vielleicht wird mir die Technik zu Hilfe kommen. Ich hoffe, dass meine Ausrüstung heute eintrifft. In der Zwischenzeit werde ich der MacKade-Farm einen Besuch abstatten. Irgendetwas in mir drängt mich dazu, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dort auch wirklich willkommen bin.

Mein Eindruck war, dass Shane MacKade übersinnlichen Dingen gegenüber wenig aufgeschlossen ist, während ich entschlossen bin, mich ihnen zu nähern, um sie, wenn möglich, am eigenen Leibe zu erfahren. Doch willkommen oder nicht, ich bin bereits unterwegs zur Farm und gespannt, was mich dort erwartet. Wenn schon nichts aus dem Reich der Geister, so wird es zumindest interessant sein, einmal eine Ranch aus nächster Nähe besichtigen zu können.

Zumal es (eine persönliche Anmerkung) mir ein Vergnügen sein wird, einen zweiten Blick auf den Farmer zu werfen. Er ist traumhaft.”

Erneut über sich selbst schmunzelnd, klappte Rebecca ihr Notizbuch zu und verstaute es in ihrer Umhängetasche. Was wohl Shane dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass sie ihn als traumhaft bezeichnet hatte? Nun, wahrscheinlich war er schon an derartige Komplimente gewöhnt.

Als Rebecca aus dem Wald trat, fiel ihr Blick auf das Farmhaus. Es lag auf der anderen Seite eines Feldes, von dem ein strenger Jauchegestank aufstieg. Rebecca störte sich nicht an dem Geruch, im Gegenteil, er machte sie neugierig. Aber sie achtete sorgfältig darauf, wohin sie ihren Fuß setzte.

Der Anblick, der sich ihr bot, strahlte Ruhe und Frieden aus. Über den blauen Sommerhimmel zogen vereinzelt weiße Wölkchen, und ganz in der Nähe plätscherte ein kleiner Bach. Das Korn stand schon hoch und leuchtete golden in der Sonne. Hinter dem Feld entdeckte sie eine alte verwitterte Scheune, und daneben ragte ein blauer Turm auf, von dem sie annahm, dass es sich dabei um ein Getreidesilo handeln musste.

Und es gab noch mehr Schuppen, Silos und Koben. Auf einer eingezäunten Weide grasten friedlich schwarz-weiße Kühe.

Aus der Ferne erinnerte das Bild an ein Stil leben auf einer Postkarte.

Man hatte den Eindruck, dass hier alles schon immer so gewesen war und dass sich auch nie etwas verändern würde. Das Herzstück des Ganzen war zweifellos das Wohnhaus.

Als sie sich ihm näherte, begann ihr Herz sofort schneller zu schlagen.

Sie blieb stehen.

Auf den ersten Blick erinnerte das Haus mit seinen dicken Mauern fast an eine Festung. Stark und unverwüstlich. Die Fenster waren relativ klein, und die große Holzveranda auf der Rückseite hätte einen neuen Anstrich vertragen können. Rebecca fragte sich, ob es vorn wohl auch eine Veranda gab. Es war anzunehmen. Vermutlich stand ein Schaukelstuhl darauf, und ein Vordach hielt Sonne und Regen ab, sodass man bei jeder Witterung draußen sitzen konnte.

Rebecca setzte ihren Weg fort und zögerte nur kurz, als zwei große Hunde auf sie zugerast kamen. Regan hatte ihr schon von ihnen erzählt, sie waren die Eltern des Golden Retrievers ihrer Freundin und tollten jetzt, übermütig mit den Schwänzen wedelnd, um sie herum und bellten sich die Kehlen heiser.

„Brave Hunde.” Zumindest hoffte sie, dass sie das waren, während sie vorsichtig die Hand ausstreckte, um ihnen übers Fell zu streichen. „Brave Hunde. Ihr seid Fred und Ethel, nicht wahr?”

Beide gaben ein zustimmendes heiseres Bellen von sich und rasten dann zurück zum Haus. Rebecca fasste es als Einladung auf und folgte ihnen.

Schweine, dachte sie, als sie an einem Koben vorüberkam. Sie blieb stehen und betrachtete sie eingehend. Als sie zu grunzen begannen und anfingen, mit ihren Schnauzen den Erdboden in der Nähe des Zauns, vor dem sie stand, aufzuwühlen, lächelte sie. Sie wollte gerade die Hand durch die Zaunlatten stecken, da ließ eine Stimme sie mitten in der Bewegung innehalten.

„Sie beißen.”

Rebecca zog erschrocken ihre Hand zurück. Als sie aufschaute, sah sie Shane zwei Meter entfernt vor sich stehen, in der Hand einen großen Schraubenschlüssel.

Shane lächelte. Ein Lächeln, von dem er wusste, dass es seine Wirkung auf Frauen nicht verfehlte, dessen war sich Rebecca sicher.

„Sie beißen also”, wiederholte sie und versuchte sich seiner erotischen Ausstrahlung zu entziehen.

„Ganz richtig, Schätzchen.” Er verstaute den Schraubenschlüssel in seiner Gesäßtasche, während er näher kam. „Sie sind gierig.” Ganz zwanglos nahm er ihre Hand und betrachtete sie eingehend. „Hübsche Finger. Lang, schlank und feingliedrig.”

„Ihre sind schmutzig.”

„Ich bin bei der Arbeit.”

„Wie man sieht.” Sie lächelte freundlich und entzog ihm ihre Hand. „Ich wollte Sie nicht stören.”

„Halb so schlimm.” Er streichelte die Hunde, die zurückgekommen waren. „Ich bin gerade dabei, einen Rechen zu reparieren.”

„Dabei wird man so schmutzig?”

„Ich rede nicht von einem putzigen kleinen Rechen mit einem Holzstiel, Stadtmädchen. Waren Sie drüben im Inn?”

„Ja. Ich habe Cassie kennengelernt. Sie hat eine Führung mit mir gemacht und wollte mich eigentlich anschließend wieder zu Regan zurückfahren, doch da ich gerade in der Gegend war …” Sie unterbrach sich und warf einen Blick in den Schweinestall. „Ich habe noch nie in meinem Leben Schweine aus der Nähe gesehen. Ich wüsste gern, wie sie sich anfühlen.”

„Sie haben Borsten”, erklärte er ihr. „Wie eine harte Bürste. Es fühlt sich nicht besonders gut an.”

„Oh.” Sie drehte sich um und ließ ihren Blick schweifen. „Da drüben ist noch eine Menge freies Feld. Warum bauen Sie dort nichts an?

„Weil sich das Land immer wieder für einige Zeit erholen muss.”

Er schaute auf das Feld neben dem Wald. „Sie sind doch nicht etwa hergekommen, um etwas über Ackerbau und Viehzucht zu lernen?”

„Vielleicht.” Sie lächelte. „Aber nicht jetzt.”

„Aha. Und warum sind Sie dann gekommen?”

„Ich wollte mich nur ein bisschen umschauen. Falls ich Ihnen nicht im Weg bin.”

„Hübsche Frauen sind mir nie im Weg.” Er nahm sein Stirnband ab und wischte sich die Hände daran ab, bevor er es in die Tasche steckte.

„Kommen Sie.”

Noch bevor sie reagieren konnte, nahm er ihre Hand und zog sie mit sich. Nachdem sie um den Schuppen herumgegangen waren, fiel ihr Blick auf eine große, gefährlich aussehende Maschine mit heimtückisch scharfen Zähnen.

„Das ist ein Rechen”, klärte er sie in mildem Ton auf und lächelte sie an.

„Und was haben Sie mit ihm gemacht?”

„Repariert.”

Er führte sie hinüber zum Stall. Leute aus der Stadt interessierten sich dafür immer in erster Linie. Als sie am Hühnerstall vorbeikamen, blieb Rebecca stehen.

„Hühner züchten Sie also auch. Wegen der Eier?”

„Wegen der Eier, sicher. Und zum Schlachten.”

„Sie essen Ihre eigenen Hühner?”

„Da weiß man wenigstens, was man hat, Schätzchen. Warum sollte ich mir meine Hähnchen auf dem Markt kaufen? Möchten Sie zum Essen bleiben?”

„Oh, nein, danke”, gab sie matt zurück.

„Waren Sie schon mal bei einem Schlachtfest? Wir halten einmal im Jahr eins ab, das wir mit einer Spendenbeschaffungsaktion für die örtliche Feuerwehr verbinden. Morgens gibt’s immer ein Riesenfrühstück, und dann geht’s los.”

Sie presste sich eine Hand auf den Magen, der plötzlich zu rebellieren begann. „Sie machen sich bloß über mich lustig.”

„Nein, wirklich, Sie müssen mal von einer Wurst kosten, die …”

„Ich überlege gerade, ob ich nicht vielleicht Vegetarierin werden sollte”, erwiderte sie schnell.

Rebecca betrat den Stall und ließ den Blick über die Boxen und Verschläge schweifen. Der Zementboden fiel zur Mitte hin leicht ab. Aus dem Heu stiegen Staubpartikel auf, die ihr einen Juckreiz in der Nase verursachten. Es war dämmrig und roch streng nach Tieren.

Rebecca schlenderte an den Boxen entlang und stieß einen erstickten Schrei aus, als überraschend ein Rind seinen Kopf hob und sie anblökte.

„Sie hat eine Infektion”, erklärte Shane und unterdrückte ein Lächeln.

„Deshalb muss ich sie derzeit von dem anderen Vieh getrennt halten.”

Rebecca beruhigte sich wieder. „Oh. Sie ist ja riesengroß.”

„Ach, das kommt Ihnen nur so vor. Im Verhältnis zu den anderen ist sie sogar eher klein. Sie können sie anfassen. Hier oben.” Er nahm Rebeccas Hand und legte sie der Kuh auf die Stirn.

„Wird sie wieder gesund werden?”

„Aber ja. Sie befindet sich schon auf dem Weg der Besserung.”

„Sie behandeln Ihre Tiere selbst? Lassen Sie keinen Tierarzt kommen?”

„Nicht bei jeder Kleinigkeit.” Es gefiel ihm, ihre Hand unter seiner zu spüren, die Art, wie sie sich verkrampfte und dann langsam wieder entspannte. Die Art, wie sich jetzt ihre Finger spreizten, um der Kuh das Fell zu kraulen.

Merkwürdig, wie sie ihn ansah. Sie stellte für ihn eine Herausforderung dar, der er nur schwer widerstehen konnte. Mutwillig streifte sein Blick ihren Mund. „Was machen Sie denn mit all diesen akademischen Graden, von denen Regan mir erzählt hat?”

„Einfach nur sammeln.” Sie hatte Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten.

„Warum?”

„Weil Wissen Macht bedeutet.” Er flirtete jetzt ganz unverhohlen mit ihr.

Dem musste sie ein Ende bereiten. Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück und holte tief Luft. „Hören Sie, ich bin wirklich sehr interessiert an der Farm, und ich hoffe, dass Sie mir demnächst alles noch ein bisschen ausführlicher zeigen. Aber jetzt würde ich mir gern noch das Farmhaus ansehen, insbesondere die Küche, wo der junge Soldat gestorben ist.”

„Die Blutlache haben wir aber schon lange aufgewischt.”

„Beruhigend zu hören.” Sie hob den Kopf. „Gibt es ein Problem?”

Ja, es gab ein Problem. „Regan hat mich gebeten, kooperativ zu sein, also tue ich mein Bestes. Ihr zuliebe. Allerdings muss ich gestehen, dass mir die Vorstellung, dass Sie auf der Suche nach Gespenstern in meinem Haus herumschnüffeln, nicht besonders behagt.”

„Sie haben doch sicher keine Angst vor dem, worauf ich unter Umständen stoßen könnte, oder?”

„Ich habe vor überhaupt nichts Angst.” Sie hatte einen wunden Punkt berührt. „Ich habe nur gesagt, dass es mir nicht gefällt.”

„Warum gehen wir nicht einfach hinein? Sie bieten mir einen kühlen Drink an, und dann sehen wir, ob wir nicht einen Kompromiss finden.”

Dagegen ließ sich schwerlich etwas einwenden. Er nahm wieder ihre Hand, diesmal allerdings ohne Hintergedanken. Doch als sie die Hintertür erreicht hatten, beschloss er, sich noch eine zweite Chance zu geben. Für eine Wissenschaftlerin duftete sie verdammt gut.

„Ich habe Eistee, wenn Sie möchten”, bot er an.

„Großartig.” Das war alles, was sie sagte, während sie in der Tür stand und sich erstaunt umsah.

Die Küche mit dem großen Holztisch, auf dem noch die aufgeschlagene Morgenzeitung lag, den robusten Holzstühlen und den Schränken mit den Glastüren, hinter denen man das Geschirr sehen konnte, erweckte einen gemütlichen Eindruck. Sie war genau das, was sie als eine Familienküche bezeichnet hätte.

Auf dem Fensterbrett standen kleine Töpfe mit grünen Pflänzchen. Sie brauchte nicht erst an ihnen zu riechen, um zu erkennen, worum es sich dabei handelte: Rosmarin, Thymian, Basilikum.

Shane stellte zwei Gläser mit Eistee auf den Tisch, dann musterte er seinen Gast stirnrunzelnd. „Haben Sie noch nie eine Küche gesehen?”

Kühl lächelnd wandte sie sich zu ihm um. Sie musste es irgendwie bewerkstelligen, irgendwann ein paar Minuten allein hier zu verbringen, dann würde es ihr bestimmt gelingen, das aufzuspüren, was hinter den Dingen lag. „Diese mustergültige Ordnung hier überrascht mich. Das hätte ich nicht erwartet.”

Er reichte ihr ein Glas. „Meine Mutter hat uns alle darauf gedrillt, die Küche sauber zu halten. Hier wird gegessen, hier wird gekocht. Im Milchhaus muss man ja auch darauf achten, dass alles keimfrei ist.”

„Im Milchhaus”, wiederholte sie. „Ich würde gern einmal beim Melken zuschauen.”

„Gern. Wenn Sie morgens um sechs aus dem Bett finden. Warum ziehen Sie Ihren Blazer nicht aus? Es ist warm.” Und ihn interessierte, wie sie darunter aussah.

„Mir ist nicht zu warm.” Sie schlenderte durch die Küche und warf einen Blick aus dem Fenster. „Eine herrliche Aussicht. Fällt Ihnen das schon gar nicht mehr auf?”

„Nein. Sie werden sich mit der Zeit auch daran gewöhnen.” Er trat hinter sie und strich mit dem Zeigefinger leicht über ihren Nacken. Sie erstarrte.

„Sie haben wunderhübsches Haar, Rebecca. Es steht Ihnen so kurz, weil es Ihren Nacken gut zur Geltung bringt. Und Sie haben wirklich einen sehr schönen Nacken.”

Langsam drehte sie sich zu ihm um. „Wollen Sie bei mir landen, Farmboy?”

„Ich bin von Natur aus sehr neugierig.” Er stellte sein Glas hinter sich auf den Küchentresen, dann nahm er ihr ihres aus der Hand, stellte es daneben und trat dicht vor sie. „Sie nicht?”

„Wissenschaftler müssen das wohl sein.”

„Was halten Sie von einem Experiment?”

„Was denn für eins?”

„Nun, ich mache das …”