6. KAPITEL

Rebecca saß in ihre Arbeit vertieft vor dem Computer und versuchte sich in das Leben der Barlows hineinzuversetzen – in die unglückliche Abigail, den grausamen Charles, die Kinder, die in zartem Alter die Mutter auf so tragische Weise verloren hatten. Dank Cassie hatte sich ihre Geschichte nun noch um eine zusätzliche Figur erweitert. Es handelte sich um den Mann, den Abigail geliebt und den sie weggeschickt hatte. Rebecca vermutete, dass er in Antietam während des Bürgerkriegs eine Autoritätsperson gewesen war.

Vielleicht der Sheriff. Sie hätte schon blind sein müssen, um die Parallelen, die sich damit zur Gegenwart auftaten, zu übersehen. Möglicherweise waren sie tatsächlich mehr als ein Zufall. Auf jeden Fall war sie entschlossen, den Dingen sorgfältig auf den Grund zu gehen.

Sie war so beschäftigt, dass es mehrere Minuten dauerte, ehe ihr schließlich auffiel, dass ihr Computer, an den sie auch die Sensoren angeschlossen hatte, laut brummte. Erschrocken zuckte sie zurück und starrte auf den Monitor.

Was war das denn? Sie sprang auf. Plötzlich überlief sie ein eisiger Schauder. Sie warf einen Blick auf das hochsensible Temperaturmessgerät und sah voller Bestürzung, dass die Quecksilbersäule rapide sank.

Rebecca legte wärmend die Arme um sich. Es wurde immer kälter.

Und sie spürte nichts außer dieser Kälte. Nichts. Sie hörte nichts, sie roch nichts.

Die Lady kommt nie hier rein.

Das hatte Emma ihr erzählt. Aber vielleicht kam ja der Hausherr? Es musste Charles sein. Sie hatte so viel über ihn gelesen, und wenn sie an ihn dachte, hielten sich Zorn, Angst und Erwartung die Waage.

Rebecca eilte durchs Zimmer und überprüfte sowohl den Rekorder als auch die Kameras auf ihre Funktionstüchtigkeit. Die Lämpchen, die Aufnahmebereitschaft signalisierten, blinkten, und einen kurzen Moment nahm sie noch etwas anderes wahr.

Einen Augenblick später war alles vorbei, und die Wärme strömte in den Raum zurück.

Halb von Sinnen vor Aufregung über das Erlebnis griff Rebecca sich ihr Diktiergerät.

„Das Geschehen ereignete sich um zwei Uhr acht und fünfzehn Sekunden morgens. Es begann mit einem dramatischen Temperatursturz von zweiundvierzig Grad Fahrenheit, gefolgt von einem leider nicht messbaren Energieschub, dem der umgehende Temperaturanstieg auf normale Zimmertemperatur folgte. Das Geschehen endete um zwei Uhr neun und zwanzig Sekunden morgens. Dauer fünfundsechzig Sekunden.”

Sie stand einen Moment mit dem Diktiergerät in der Hand reglos da und versuchte mit aller Kraft, das Geschehen mit Gedanken noch einmal herbeizuzwingen. Sie war überzeugt davon, dass es Charles gewesen war, sie hatte es ganz deutlich gespürt. Ihr Puls spielte noch immer verrückt. Sie überlegte, wie hoch ihr Blutdruck im Moment wohl sein mochte.

„Los, mach schon, du Feigling! Zeig dich. Ich weiß doch genau, dass du da bist. Komm heraus aus deinem Versteck!”

Du steigerst dich zu sehr in die Sache hinein, warnte sie sich. Sie war dabei, ihre Objektivität zu verlieren, und sie wusste, dass ohne Objektivität jede wissenschaftliche Untersuchung zum Scheitern verurteilt war.

Deshalb zwang sie sich jetzt, sich hinzusetzen, den Blick auf ihre Geräte geheftet, die sie für die nächsten dreißig Minuten nicht aus den Augen lassen wollte. Doch nichts geschah. Bevor sie ihren Computer ausschaltete, machte sie sich gewissenhaft an ihre Aufzeichnungen.

Zu aufgewühlt, um an Schlaf überhaupt nur zu denken, verließ sie ihr Zimmer. Im Flur blieb sie lauschend stehen, doch um sie herum waren nur Dunkelheit und Stil e.

Als sie die Treppe nach unten ging, blieb sie auf halber Höhe, da, wo der Soldat erschossen worden war, stehen und dachte an den unglücklichen jungen Mann, der verletzt ins Haus gekommen war, und die entsetzte Abigail, an die verängstigten Sklaven und den kaltblütigen Schurken Charles Barlow.

Doch die Gestalten weigerten sich, zum Leben zu erwachen. Sie waren und blieben nichts als Gedanken.

Sie gab sich in jedem Raum, durch den sie ging, alle erdenkliche Mühe, ihre übersinnlichen Wahrnehmungskräfte herauszufordern, doch ohne Erfolg. Die Erfahrungen, die Cassie, Regan, Rafe und Devin MacKade hier gemacht hatten, blieben ihr verschlossen, sosehr sie sich auch um Zugang bemühte.

Gegen ihre Entmutigung ankämpfend, schlug sie schließlich den Weg zur Küche ein. Ein Erlebnis hatte sie immerhin schon gehabt heute Nacht.

Man durfte nicht alles auf einmal erwarten. Geduld war bei der ganzen Sache eine ebenso wichtige Tugend wie Offenheit und Neugier.

Als sie die Küche betrat, wurde sie sogleich fast magisch vom Fenster angezogen. Sie stellte sich davor und ließ den Blick über den Rasen und die dahinterstehenden Bäume schweifen. An den Wald grenzten die Felder der MacKade-Farm, wie sie wusste, und dort stand auch das Haus, in dem Shane jetzt wahrscheinlich schlief.

Der Drang, der sie plötzlich überfiel, war so stark, dass sie erschrak. Der Drang hinauszugehen, über das Gras zu laufen, über die Felder. Es zog sie in dieses Haus, hin zu ihm.

Was für ein verrückter Einfall, versuchte sie sich zur Ordnung zu rufen.

Sicher war er nicht allein. Sie stellte sich vor, wie er sich an die schöne Brünette oder eine ähnlich attraktive Frau schmiegte.

Rebecca ging rasch aus der Küche, nach oben in ihr Zimmer und legte sich ins Bett.

Im Nu war sie eingeschlafen und begann sofort zu träumen.

Ein Mann legte die Arme um sie, und sie rollten beide zusammen über eine weiche Matratze. Zärtliche Finger kämmten ihr langes, zerzaustes Haar.

„Nicht so laut, John, du weckst das Baby.”

„Du bist es doch, die so viel Lärm macht.” Erfahrene Hände glitten unter ihr Baumwollnachthemd. „Du hast wirklich viel zu viel an, Sarah, ich möchte, dass du nackt bist.”

„Ich bin doch noch so dick von der Schwangerschaft.”

„Du bist überhaupt nicht dick. Du bist perfekt. Und der Kleine ist auch perfekt. Oh Sarah, ich begehre dich, Sarah. Wie sehr ich dich begehre. Ich liebe dich. Komm, lass mich dich lieben.”

Und die weiche Matratze wiegte sich im Rhythmus der Liebe …

Am nächsten Tag war Rebecca völlig ermattet, und das nicht etwa, weil sie zu wenig geschlafen hatte, sondern weil der Traum sie nicht loslassen wollte. Rebecca verbrachte fast den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer und rief sich per Modem Daten über die Einwohnerschaft von Antietam um 1862 ab.

Ihr Drucker spuckte gerade eine lange Liste mit Namen, Geburts- und Sterbedaten aus, als Cassie an die Tür klopfte.

„Entschuldige, dass ich dich störe.”

„Du störst nicht.” Rebecca warf Cassie über den Rand ihrer Lesebrille einen freundlichen Blick zu. „Ich versuche gerade, den Namen von Abigails Geliebtem herauszufinden – falls sie einen hatte.”

„Oh.” Cassie, die ganz offensichtlich aufgeregt war, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und blickte neugierig zum Drucker. „Wie machst du das denn?”

„Durch einen einfachen Eliminierungsprozess – Alter, Familienstand und so weiter.” Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihre Lesebrille noch aufhatte. Sie nahm sie ab. „Und du bist dir wirklich sicher, dass er nicht verheiratet war?”

„Absolut. Er kann ganz unmöglich eine Frau gehabt haben.”

„Und er war nicht bei der Armee, aber du hast erzählt, dass er irgendeinen Posten bei der Gemeinde an den Nagel gehängt hat, als er die Stadt verließ.”

„Irgendwie komisch, dich so reden zu hören”, sagte Cassie belustigt. „Du sprichst von ihnen, als ob sie gerade eben erst aus dem Zimmer gegangen wären.”

Rebecca lächelte und lehnte sich zurück. „Sind sie das nicht?”

„Nun, ja, vermutlich schon. Irgendwie.” Cassie schüttelte den Kopf. „Du musst mich später über die Sache auf dem Laufenden halten. Ich bin zu dir raufgekommen, weil ich dir sagen wollte, dass ich ganz schnell ins Krankenhaus muss.”

„Ins Krankenhaus?” Alarmiert sprang Rebecca auf. „Hat eins der Kinder einen Unfall gehabt?”

„Oh nein, nein. Shane …”

„Er hatte einen Unfall.” Rebecca wurde blass. „Wo ist er? Was ist passiert?”

„Beruhig dich, Rebecca. Es geht um Savannah. Sie liegt in den Wehen.”

Neugierig beobachtete Cassie, wie Rebecca auf ihren Stuhl sank. „Ich wollte dich nicht erschrecken.”

„Schon gut”, sagte Rebecca und seufzte erleichtert. „Man sollte eben nie voreilige Schlüsse ziehen.”

„Shane hat mich vorhin angerufen und mir Bescheid gesagt. Ich wollte nur noch rasch einen Babysitter für die Kinder organisieren. Ich werde sie bei Ed im Café absetzen. Du hast Ed noch nicht kennengelernt, sie ist ein wunderbarer Mensch. Ally kann sie allerdings nicht auch noch nehmen, das wird ihr zu viel, weil im Café um diese Zeit Hochbetrieb herrscht. Aber im Krankenhaus haben sie eine Kinderkrippe.”

Langsam erholte sich Rebecca von ihrem Schreck.

„Ich möchte nur nicht, dass du dir verlassen vorkommst. In der Küche findest du kalten Braten und Kuchen, wenn du Hunger hast. Ich muss das Auto nehmen, aber wenn du irgendwohin fahren musst, geh rüber zur Farm oder zu Jared und borg dir einen Wagen aus.”

„Ich muss nirgends hin.” Rebecca lächelte. „Savannah bekommt ihr Baby. Das ist wundervoll. Ist bis jetzt alles in Ordnung?”

„Bestens, zumindest nach dem letzten Stand. Es ist einfach nur so, dass wir alle da sein wollen, wenn das Baby kommt.”

„Aber natürlich. Das kann ich gut verstehen. Übermittle den Eltern meine besten Wünsche. Und wenn du möchtest, kann ich gern auf Ally aufpassen, bis du wieder da bist. Es würde mir großen Spaß machen.”

„Das ist schrecklich lieb von dir. Aber ich stille noch, und ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs sein werde.” Cassie nagte an ihrer Unterlippe, während sie die Dinge in ihrem Kopf zu ordnen versuchte. „Wir erwarten heute keine neuen Gäste, und für die, die hier sind, habe ich dir ein paar Sachen aufgeschrieben, die erledigt werden müssen, falls doch etwas …”

„Mach dir keine Gedanken, Cassie, ich kümmere mich um alles. Ich sehe doch, dass du fast stirbst vor Aufregung.”

„Es gibt nichts Wunderbareres als ein Baby.”

„Ja, da bin ich mir sicher.”

Zwei Stunden später saß Rebecca noch immer vor ihrem Computer, doch bald darauf trieb sie der Hunger nach unten in die Küche.

Die übrigen Gäste hatten den Apfelkuchen, den Cassie hingestellt hatte, fast aufgegessen, aber in der Kaffeemaschine war noch etwas Kaffee, und Rebecca goss sich eine Tasse ein. Sie dachte daran, sich ein Sandwich zu machen, entschied sich dann jedoch für ein Blaubeertörtchen.

Als das Telefon läutete, nahm sie ohne zu überlegen ab. „Hallo … Oh – MacKade Inn.”

„Du hast wirklich eine sehr sexy Telefonstimme, Rebecca.”

„Shane?”

„Und ein gutes Ohr. Wir dachten, es interessiert dich vielleicht, dass die MacKades Zuwachs bekommen haben.”

„Oh, wie schön! Was ist es denn? Ein Mädchen oder ein Junge? Und wie geht es Savannah?”

„Ein Mädchen, und beiden geht es prächtig. Miranda MacKade wiegt acht Pfund und zweihundert Gramm.”

„Miranda.” Rebecca seufzte. „Was für ein hübscher Name.”

„Cassie ist auf dem Heimweg, aber es wird noch ein bisschen dauern, weil sie erst die beiden Kinder bei Ed abholt. Ich dachte mir, dass du dir vielleicht schon Gedanken machst.”

„Das habe ich natürlich. Vielen Dank für deinen Anruf.”

„Ich habe Lust zu feiern. Möchten Sie mit mir feiern, Dr. Knight?”

„Nun …”

„Nichts Großes. Ich hab nicht mal Zeit, mich vorher umzuziehen. Ich könnte bei dir vorbeikommen und dich abholen. Dich zum Bier einladen.”

„Das klingt fast unwiderstehlich, aber …”

„Gut. In einer halben Stunde bin ich da.”

„Ich habe nicht gesagt…” Da ertönte schon das Freizeichen.

Sie würde sich nicht zurechtmachen. Aus reiner Eitelkeit hatte Rebecca einen Blick in den Spiegel geworfen und ihr Make-up etwas nachgebessert, doch das war alles, was sie an Aufwand zu investieren bereit war. Die Leggings und der dünne helle Pullover waren bequem und auf jeden Fall gut genug, um auf die Schnelle mit Shane ein Bier zu trinken.

Sie hinterließ Cassie eine Nachricht auf dem Küchentisch und setzte sich auf die Veranda, um auf Shane zu warten. Es war mittlerweile bereits dunkel geworden, und obwohl der Tag heiß und windstill gewesen war, begann es langsam kühl zu werden. Der Herbst kündigte sich an. Ab und zu rumpelte ein Wagen draußen auf der holprigen Straße vorbei, dann wurde es wieder ganz ruhig um sie herum.

Rebecca genoss die Stille. Als sie ihre Reise angetreten hatte, war sie überzeugt gewesen, dass sie den nie abebbenden Großstadtlärm vermissen würde, doch jetzt nahm sie mit Erstaunen zur Kenntnis, dass ihr New York überhaupt nicht fehlte.

Es ging ihr gut. Sehr gut sogar. Sie saß hier auf der Veranda eines schönen alten Hauses und wartete auf einen äußerst attraktiven Mann, der sie zum Bier einladen wollte. Al es in allem nicht das schlechteste Ende eines produktiven Tages.

Als sie einen Wagen mit großen Scheinwerfern näher kommen sah, vermutete sie, dass es sich um Shanes Truck handelte, und stand auf. Sie schulterte ihre Umhängetasche und ging auf die Straße.

Shane öffnete die Beifahrertür und steckte lächelnd den Kopf heraus.

„Das lobe ich mir. Eine Frau, die schon sehnsüchtig vor der Tür auf mich wartet.”

„Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.” Sie kletterte in die Fahrerkabine. „Ich wollte nur noch einen Moment den herrlichen Abend genießen. Man riecht schon den Herbst.”

„Du siehst fantastisch aus.”

„Du auch. Wohin fahren wir?”

„Nur runter zu Duff’s.” Shane legte einen Arm über die Rückenlehne und setzte zurück. „Nichts Besonderes, aber dafür fühlt man sich dort fast wie zu Hause.”

Die Kneipe war wirklich nichts Besonderes, wie Rebecca wenig später feststellen konnte. Ein großer, nur spärlich beleuchteter Raum mit einer langen Bar, an der sich lärmend die Cowboys aus der Umgebung drängten, und einem Dutzend Tischen, die ebenfalls bis auf den letzten Platz besetzt waren. Im Hintergrund standen Billardtische, die von Neonlampen beleuchtet wurden, deren Grellheit lediglich durch die Rauchschwaden, die in der Luft hingen, etwas gedämpft wurde. Aus der Musikbox ertönte ein Schmachtfetzen, und die Wanddekoration bestand aus Werbeplakaten für Bier sowie einem seltsam charmant wirkenden Poster, das eine Pokerrunde zeigte, die sich aus Hunden zusammensetzte. Die Luft war zum Schneiden dick.

Rebecca fühlte sich auf Anhieb wohl.

Auf dem Weg zur Bar stellte Shane sie mindestens einem halben Dutzend Leute vor.

„Wie geht’s, Duff?”

Der magere Barkeeper antwortete irgendetwas Unverständliches, während er die Kronkorken von zwei Bierflaschen abhebelte.

„Darf ich vorstellen – Rebecca, eine Freundin von Regan aus New York.”

„New York ist die Hölle.”

„Waren Sie schon mal da?”, erkundigte sich Rebecca und lächelte den Barmann höflich an.

„Nicht mal für Geld würde ich da auch nur einen Fuß hinsetzen.” Er gab den Flaschen einen kühnen Schubs, sodass sie über die Theke rutschten und genau vor den Gästen, denen sie zugedacht waren, zum Stehen kamen.

„Duff ist eine echte Plaudertasche”, bemerkte Shane trocken, während er mit ihr an einen Tisch ging. „Und außerdem der glücklichste Mann in der ganzen Stadt.”

„Das scheint mir auch so.” Sie setzte sich. „Aber ich bin ja vom Fach.”

Lächelnd hob Shane seine Flasche, um mit ihr anzustoßen. „Auf Miranda Catherine MacKade.”

Rebecca hob ihre Bierflasche ebenfalls und trank einen Schluck. „Los, jetzt erzähl mal.”

„Nun, ich war vor der Geburt ein paarmal bei Savannah, und da war sie nicht so besonders gut aufgelegt. Sie sagte, dass sämtliche MacKades hinter Schloss und Riegel gehörten – wegen gewisser Körperteile.”

„Klingt wirklich absolut verständlich, wenn man bedenkt, dass sie in den Wehen lag.”

„Ja. Wenigstens waren Regan und Cassie nicht ganz so hässlich. Savannah ist immer sehr direkt, musst du wissen. Na, wie dem auch sei. Eine Zeit lang jedenfalls hat sie Gift und Galle gespuckt. Doch nachdem alles vorüber war, war sie sanft wie ein Lamm.”

„Und Jared?”

„Wie werdende Väter eben so sind. Erst standen ihm die Haare zu Berge und der Schweiß lief ihm in Strömen von der Stirn, und hinterher war er ganz glücklich. Es ist immer dasselbe, wenn bei uns ein Baby kommt.”

„Bei uns?”

„Na klar, das betrifft doch die ganze Familie. Du hättest auch mitkommen können.”

„Ich glaube, Savannah hatte genug Gesellschaft.” Sie hob den Kopf.

„Wünschst du dir denn auch irgendwann Kinder?”

„Wie? Oh.” Er lehnte sich lächelnd zurück. „Meine Brüder geben sich schon genug Mühe, dafür zu sorgen, dass die MacKades nicht aussterben. Es gibt also wenig Grund für mich, mich auch noch fortzupflanzen. Und du? Denkst du daran, irgendwann mal sesshaft zu werden und selbst Kinder zu haben?”

„Nein.”

Shane nahm sich eine Erdnuss aus der Plastikschüssel und knackte die Schale auf. „Und was treibst du so, außer Geister zu jagen, wenn du nicht Leute analysierst oder Vorlesungen hältst?”, erkundigte er sich und sah Rebecca forschend an.

„Ich lebe in der Hölle, oder hast du das vergessen? Da gibt’s immer viel zu tun. Mein Leben ist ausgefüllt.”

Er fuhr mit dem Daumen über ihren Handrücken. „Gibt’s da irgendjemanden, der dabei hilft, es auszufüllen?”

„Nein. Nicht direkt.” Sie lächelte und lehnte sich vor. „Wie geht’s Daria?”

Er räusperte sich und versuchte Zeit zu gewinnen, indem er einen Schluck Bier trank. „Gut, soweit ich weiß.”

Er fand es nicht der Rede wert zu erwähnen, dass er die gute alte Daria, kurz nachdem sie aufgetaucht war, freundlich wieder hinauskomplimentiert hatte – trotz ihres großzügigen Angebots, Essen zu kochen und ihm auch sonst zu Willen zu sein. „Hast du schon Fortschritte erzielt bei der Geisterjagd?”

„Das ist aber kein besonders eleganter Themenwechsel.”

„Ich habe auch nicht versucht, elegant zu sein.” Er legte seine Hand auf ihre und verschränkte seine Finger mit ihren, bevor sie reagieren konnte.

„Also, hast du die Gespenster schon mal gehört oder sogar gesehen?”

„Du wirst es kaum für möglich halten, aber das habe ich tatsächlich.” Es bereitete ihr Vergnügen zu sehen, wie das Lächeln aus seinen Augen verschwand.

„Unsinn.”

„Nein, wirklich. Ich habe al es genau aufgezeichnet. Ein Temperatursturz von zweiundvierzig Grad Fahrenheit in weniger als zwei Minuten.”

Er trank noch einen Schluck aus seiner Flasche. „Du solltest deine Geräte überholen lassen.”

Seine Reaktion amüsierte und interessierte sie zugleich. „Wogegen wehrst du dich? Fühlst du dich bedroht?”

„Warum sollte ich mich von etwas bedroht fühlen, das gar nicht existiert?”

„Warum wehrst du dich dann?”

„Weil …” Er unterbrach sich und kniff die Augen zusammen. „Analysierst du so deine Patienten?”

„Fühlst du dich wie ein Patient?”

„Lass den Unsinn.”

„Entschuldige.” Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich führe normalerweise keine Einzeltherapien durch, aber du bist wirklich ein gefundenes Fressen. Hast du nicht Lust auf ein bisschen freie Assoziation?”

„Nein.”

„Du hast doch nicht etwa Angst, oder? Es ist ganz einfach. Ich sage ein Wort, und du antwortest mit der ersten Sache, die dir dazu einfällt.”

„Glaubst du wirklich ernsthaft, ich hätte vor solchen dummen Gesellschaftsspielchen Angst? Na los, von mir aus machen wir dein Spielchen. Fang an.”

„Zuhause.”

„Familie.”

Sie musste lächeln. „Vogel.”

„Federn.”

„Auto.”

„Truck.”

„Stadt.”

„Lärm.”

„Land.”

„Boden.”

„Sex.”

„Frauen.” Jetzt hob er ihre ineinanderverschlungenen Hände an den Mund und streifte mit den Lippen leicht ihre Finger. „Rebecca.”

Sie bemühte sich, darüber hinwegzusehen, dass sich ihr Pulsschlag beschleunigte. „Du sollst nur das sagen, was dir als Erstes in den Kopf kommt. Ich würde behaupten, du bist ein sehr bodenständiger Mann, der mit sich selbst im Reinen ist. Aber diese Analyse ist wirklich nur sehr grob über den Daumen gepeilt. Man darf daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen.”

„Kann ich es bei dir auch mal versuchen?”

„Nach dem Examen, Farmboy.” Seine Lippen berührten noch immer ihre Finger. Unauffällig rückte sie jetzt mit ihrem Stuhl näher und beugte sich zu ihm hinüber. „Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich bei ein paar Bieren in deiner Stammkneipe verführen?”

„Es ist immerhin einen Versuch wert.” Seine Lippen streiften ihr Handgelenk. „Ihr Puls rast, Dr. Knight.”

„Eine ganz normale Reaktion auf einen Stimulus. Nichts Persönliches.”

„Wir könnten etwas Persönliches daraus entstehen lassen.” Er schaute über die Schulter zu den Billardtischen hinüber. Ein Tisch war frei. „Was hältst du von einer Wette?”

„Kommt ganz darauf an, um was es dabei geht.”

„Wir spielen eine Runde Billard, und wer gewinnt, darf sich was wünschen.”

Sie zog die Brauen zusammen. „Billard? Ich kenne ja noch nicht einmal die Spielregeln.”

Umso besser, dachte er. „Ich erkläre sie dir.”

„Okay. Und was wünschst du dir?”

„Wenn ich gewinne, setzen wir uns gleich in meinen Truck und schmusen ein bisschen. Ich hab wirklich große Lust dazu.”

Sie holte tief Atem und versuchte die Fassung zu wahren. „Und wenn ich gewinne, möchte ich, dass du mich nicht behinderst, wenn ich mit meinen Geräten auf die Farm komme, sondern mir bei meiner Arbeit hilfst.”

„Aber sicher.” Nun stand er auf und führte sie mit dem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck eines Berufsspielers an den Billardtisch. „Weil du Anfängerin bist, gebe ich dir natürlich fairerweise einen Freistoß.”

„Sehr großzügig”, erwiderte sie spöttisch.

Da er ein fairer Spieler war und zudem einer, der nur sehr selten verlor, erklärte er ihr die Spielregeln sehr sorgfältig. Als er ihr demonstrierte, wie sie das Queue halten musste, nutzte er die günstige Gelegenheit, sich eng an sie zu drängen und ihr seine Anweisungen ins Ohr zu flüstern.

„Man muss den Stoß mit viel Gefühl führen”, raunte er, während er sich dicht hinter ihr über den Tisch beugte und tief ihren Duft einatmete. „Du brauchst keine Kraft, nur Gefühl. Geschmeidigkeit ist das A und O.”

Sie versuchte ihn, so gut es ging, zu ignorieren und stieß mit dem Queue, das sie beide in der Hand hielten, zu.

„Sehr gut”, sagte er. Sie richtete sich auf. Als sie sich zu ihm umwandte, legte er die Hände auf ihre Hüften. „Warum tun wir nicht einfach so, als sei das Spiel schon zu Ende, und gehen sofort zum gemütlichen Teil des Abends über?”

„Eine Wette ist eine Wette, die wird jetzt wie verabredet ausgetragen. Finger weg, Farmboy.”

„Ich kann warten”, gab er gut gelaunt zurück. Er sah es schon vor sich, wie sie im Truck in seinen Armen lag. „Ich gebe dir zwei Bälle Vorsprung. Fang an.”

„Ich lasse dir den Vortritt.” Sie trat einen Schritt zurück und rieb ebenso wie er die Queuespitze mit Kreide ein.

Die Spielregeln waren einfach genug.

Als Shane sich nun über den Tisch beugte, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Lange Beine, lange Arme, große Hände. Seine Augen faszinierten sie so, dass sie vergaß, darauf zu achten, wie er den Stoß führte, aber sie sah das Resultat. Drei Bälle fielen nacheinander ins Loch.

Mit zusammengekniffenen Augen studierte sie seine Technik, die Geschwindigkeit und die Richtung, in der die Bälle über das grüne Spielfeld sausten. Natürlich hatte sie schon öfter beim Billard zugeschaut. In dem Country-Club, in dem ihre Eltern Mitglied waren, gab es auch einen Billardtisch. Aber besonders viel Aufmerksamkeit hatte sie diesem Spiel bisher noch nicht gewidmet.

Shane versenkte noch zwei weitere Bälle, ehe er ihr einen Blick zuwarf.

Sie hatte die Brauen hochgezogen und den Kopf leicht schräg gelegt. Es war interessant, sie beim Denken zu beobachten. Noch interessanter würde es allerdings sein, ihr Gesicht zu betrachten, wenn sie vor Lust fast verging.

Aber es war nicht sehr fair von ihm, den Tisch leer zu räumen, noch bevor sie überhaupt in Aktion getreten war.

Um ihr auch eine Chance einzuräumen, versuchte er sich an einem nahezu unmöglichen Stoß. Fast hätte er es geschafft, aber am Ende streifte der Ball den Rand des Lochs doch nur und rollte ins Aus.

„Du bist dran, Doc.”

Er kam um den Tisch herum, um ihr Hilfestellung zu leisten, aber sie schob ihn ungeduldig beiseite. „Ich möchte es gern allein versuchen.”

„Ganz wie du willst.” Siegesgewiss lächelte er sie an. „Der Gelbe erscheint mir vielversprechend. Du solltest es mit ihm probieren.”

„Schon gesehen.” Sie beugte sich über den Tisch, zielte sorgfältig und stieß zu. Der Ball rollte ins Loch.

„Nicht übel.” Sichtlich erfreut ging er hinüber zum Tisch, um sein Bier zu holen. „Du stehst genau richtig für den nächsten Stoß”, bemerkte er anzüglich, nachdem er zurückgekehrt war. „Wenn du …”

Sie hob den Kopf und warf ihm einen warnenden Blick zu. „Spar dir deine guten Ratschläge.”

„Oh, Verzeihung.” Er hob um Vergebung bittend die Hand. „Ich habe doch nur versucht, dir zu helfen. Aber wenn du keine Ratschläge möchtest… Du bist immer noch dran.”

Er schnalzte leise mit der Zunge, als sie die Nummer fünf ins Visier nahm. Sah die Frau denn nicht, dass der Dreier einen sicheren Treffer garantierte? Um sein triumphierendes Lächeln zu verbergen, hob er sein Bier und setzte es genüsslich an die Lippen. Wenn sie so weitermachte, hatte er sie in spätestens fünf Minuten genau da, wo er sie haben wollte.

Einen Moment später traute er seinen Augen nicht. Der Ball, den sie anvisiert hatte, prallte gegen die Bande, kam in einem scharfen Winkel zurück und schickte die Kugel mit der Nummer drei ins Loch. Sie verzog keine Miene, sah nicht einmal auf, sondern nahm sofort die Nächste ins Visier.

Ein paar Gäste, die sich zum Zuschauen um den Tisch versammelt hatten, raunten beifällig.

Sie spielte methodisch und legte zwischen den einzelnen Stößen nur kurze Pausen ein. Mit zusammengezogenen Brauen, das Spielfeld nicht aus den Augen lassend, umkreiste sie wie ein Raubtier auf dem Sprung den Tisch und landete einen Treffer nach dem anderen. Shane vergaß sein Bier.

Um das Maß seiner Demütigung vollzumachen, schickte sie schließlich auch einen seiner eigenen Bälle ins Loch.

Nachdem schließlich auch noch der Ball mit der Nummer acht in der Versenkung verschwunden war, richtete sie sich auf. „Das war s.

Tosender Beifall brandete auf. Verschiedene Männer schlugen ihr auf die Schulter und wollten sie zum Bier einladen. Shane lehnte sein Queue an den Tisch.

„Hast du dir vielleicht mal mit Billardspielen das Geld fürs College verdient?”

Rebecca, deren Wangen vor Aufregung und Stolz gerötet waren, strahlte ihn an. „Nein, ich hatte zahlreiche Stipendien. Ich habe noch nie vorher in meinem Leben Billard gespielt.”

„Ich will verdammt sein.” Er schob die Hände in die Hosentaschen und sah Rebecca kopfschüttelnd an. „Du hast den ganzen Tisch leer geräumt.

Das war nicht nur Glück, sei es nun Anfängerglück oder sonst was.”

„Nein, war es nicht. Es war Wissenschaft. Physik und Geometrie, ein bisschen Mathematik.” Hocherfreut, schon wieder etwas Neues gelernt zu haben, fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. „Was hältst du von noch einem Spiel? Ich lasse dir diesmal auch zwei Bälle Vorsprung.”

Der Fluch lag ihm schon auf der Zunge, doch dann lachte er. „Zum Teufel! Drei wären mir noch lieber!”