9. KAPITEL

Bisher hatte ich auf der Farm drei übersinnliche Erlebnisse. Das Letzte während der vergangenen Nacht. Ich verspürte eine unendliche Trauer. Am Bett brannte eine Kerze, und einen Augenblick lang glaubte ich neben dem Fenster eine Gestalt wahrzunehmen, die reglos dastand und in die Nacht hinausblickte. Während ich die Trauer in mir fühlen konnte, sah ich sie bei dieser anderen Person. Die Gestalt war von ihrer Trauer eingehüllt wie von einer Aura. Zuerst dachte ich, es handle sich um Shane, und wollte schon aufstehen, um zu ihm zu gehen. Aber er lag schlafend neben mir. Und als ich den Blick wieder aufs Fenster richtete, war niemand mehr da.

Plötzlich wusste ich, dass ich wieder Sarah und John gesehen hatte. Ihr Sohn war tot. Ich wusste es schon, bevor Shane begann, sich ruhelos neben mir im Bett hin und her zu werfen. Er hat dieselben Träume wie ich, aber er weigert sich, darüber zu sprechen. Die Menschen, die früher hier gelebt haben, sind ein Teil von ihm, in gewisser Weise sind sie wohl nie von hier weggegangen. Nicht nur, dass ihr Blut durch seine Adern fließt, auch ihr Geist ist Teil seines Geistes. Ich frage mich allerdings, warum sie auch ein Teil von mir zu sein scheinen.”

Als sie das freudige Bellen der Hunde und Stimmen hörte, speicherte Rebecca rasch ihren Text und schaltete den Computer aus. Nur wenig später kam Devin, zwei Jungen und die Hunde im Gefolge, zur Küchentür herein.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie bei der Arbeit störe. Wir wollten nicht so einfach reinplatzen.”

„Das macht doch nichts.” Sie strich den Hunden, die schwanzwedelnd zu ihr kamen, über den Kopf. „Ich war gerade fertig und wollte sowieso eine Pause machen.”

„Cassie kommt mit den anderen Frauen nach. Sie scheint zu glauben, dass ihr hier am Verhungern seid.” Er stellte ein Kuchenblech auf dem Tisch ab. „Ein Apfelkuchen.”

„Cassies Apfelkuchen schmeckt toll”, erklärte Bryan. Sich offensichtlich ganz zu Hause fühlend, inspizierte er den Kühlschrank.

„Schreiben Sie ein Buch?” Connor kam etwas zögernd heran, den Blick auf den Laptop geheftet.

„Im Moment sitze ich erst an den Vorarbeiten. Benutzt du auch einen Computer?”

Er betrachtete den nagelneuen Laptop mit blankem Neid. „In der Schule manchmal. Aber der ist nicht halb so gut wie Ihrer.”

„Sind da Spiele drauf?”, erkundigte sich Bryan.

Rebecca lachte. „Nein.”

Bryan verlor umgehend das Interesse und schaute begehrlich auf den Kuchen.

„Vergiss es”, warnte Devin ihn, als er bemerkte, was der Junge gerade im Sinn hatte. Dann wandte er sich erneut an Rebecca. „Wir wollten Shane beim Heumachen helfen.”

„Oh.” Sie schaute zum Fenster hinaus. „Ich glaube, er ist schon draußen auf dem Feld.”

„Los, Jungs, lasst uns gehen. Wir werden jetzt euren Onkel suchen und ihm helfen. Ihr stört Dr. Knight nur.”

Sie folgte den dreien nach draußen auf die Veranda. „Darf ich Sie etwas fragen, Devin?”

„Aber selbstverständlich.”

„Haben Sie hier jemals übersinnliche Erfahrungen gemacht?”

„Sie wollen wissen, ob es meiner Meinung nach hier spukt? Aber sicher.”

Sie schüttelte den Kopf. „Sie sagen das so ganz nebenbei, als wäre es nichts Besonderes, sondern das Selbstverständlichste der Welt.”

„Ich bin damit aufgewachsen, man gewöhnt sich daran.”

„Nicht jeder.”

Er folgte ihrem Blick hinüber zu der großen Wiese, wo Shane eben mit seinem Traktor angefahren kam. „Shane ist ein harter Bursche.”

„Ja. Er weigert sich aber einfach strikt, bestimmte Dinge zur Kenntnis zu nehmen.”

„Dabei ist er im Grunde genommen der Sensibelste von uns.” Devin grinste wieder. „Aber sagen Sie bloß nichts zu ihm. Er schlägt mir dafür die Nase blutig. Doch es stimmt wirklich. Da hat der Junge sein ganzes Leben auf der Farm verbracht und leidet noch immer wie ein Hund, wenn eins seiner Tiere krank wird oder gar stirbt. Hier in diesem Haus stecken eine Menge alter Gefühle. Manchmal kommt es mir so vor, als zöge vor allem Shane sie auf sich wie ein Magnet.”

„Vielleicht weil er hier lebt.”

„Weil er das Haus liebt”, entgegnete Devin schlicht. „Jeden Stein und jedes Stück Erde, das hier liegt. Oder können Sie ihn sich woanders vorstellen als hier?”

Sie ließ den Blick über die Wiese schweifen und lächelte. „Nein. Nein, das kann ich nicht.”

Devin sah sie nachdenklich an. Sie war anders als alle, deren Herz Shane im Sturm erobert hatte. Er bezweifelte, dass sie am Ende unverletzt von dannen ziehen würde. „Ich sollte ihm jetzt wohl besser ein bisschen zur Hand gehen.”

Während Devin über die Wiese schlenderte, sagte er sich, dass er gut daran tun würde, sich nicht in Shanes Angelegenheiten einzumischen. Und daran hielt er sich auch während der nächsten halben Stunde. Die beiden Brüder arbeiteten schweigend, bis Shane schließlich den lauten Traktormotor ausschaltete.

„Kommen Rafe und Jared auch?”

„Sie müssten schon unterwegs sein.”

Shane nickte und warf einen Blick zum Himmel. „Es wird bald anfangen zu regnen. Wir haben wahrscheinlich nicht mehr als zwei Stunden, um das Heu einzufahren.” Sein Blick schweifte zum Haus und verweilte dort.

„Verdammt noch mal, Shane.” Devin konnte nicht länger an sich halten.

Er zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Du schläfst mit ihr.”

„Mit wem?”

„Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Gibt es hier herum nicht genug Frauen, mit denen du dich vergnügen kannst? Warum, zum Teufel, musst du dich ausgerechnet an Regans Freundin vergreifen? Sie ist außerdem sowieso nicht dein Typ.”

Shane versuchte, seine aufkommende Wut im Zaum zu halten. „Wie kommst du denn bloß darauf? Du hast immer behauptet, ich hätte keinen bestimmten Typ.”

„Du weißt genau, was ich meine. Rebecca ist eine ernsthafte Frau. Und ernsthafte Frauen haben ernsthafte Gefühle. Wenn sie noch nicht verliebt ist, kann es auf jeden Fall nicht mehr lange dauern. Und was willst du dann machen?”

Shane hatte es bisher immer verstanden, sich aus seinen Beziehungen zurückzuziehen, ehe er zu viel Schaden anrichten konnte. Er wollte niemandem wehtun. Aber er wusste sehr gut, dass mit Rebecca al es anders war.

„Das geht nur mich etwas an, kapiert? Mich und Rebecca. Ich habe mich ihr nicht aufgedrängt.”

Um unwillkommenen Ratschlägen aus dem Weg zu gehen, ließ er den Motor wieder an.

Er hatte keine Lust, dieses Thema weiter zu vertiefen, und ganz bestimmt würde er sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Er würde tun, was er immer getan hatte, und das hieß in diesem Moment, das Heu einzubringen, bevor es anfing zu regnen. Al es andere war erst mal zweitrangig.

Er war dankbar, als der Rest der Familie eintrudelte. Er konnte die Hilfe gut gebrauchen, und im Übrigen bedeutete es, dass alle viel zu beschäftigt waren, um ihn mit Fragen nach seinem Privatleben zu nerven. Und ein Mann hatte schließlich ein Anrecht auf sein Privatleben.

„Ganz schön anstrengend.” Rafe holte tief Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn und trank einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche. „Ich habe Rebecca noch gar nicht begrüßt. Was macht die Geisterjagd?”

„Sie nimmt sie schwer in Anspruch.” Shane stemmte einen Heuballen hoch. „Dafür, dass es nur ein Hobby von ihr ist, betreibt sie die Sache ganz schön intensiv.”

„Na ja, manche Leute spielen Golf, sie geht auf Gespensterjagd”, warf Jared ein.

„Golfspielen ergibt zumindest noch einen Sinn. Wenn man den kleinen Ball ins Loch schießt, hat man gewonnen.”

„Ich glaube, für sie ist es wie ein Puzzle.”

„Dann sollte ich ihr vielleicht lieber ein richtiges kaufen, das macht wahrscheinlich mehr Spaß”, meinte Shane.

„Es passt dir wohl nicht, was sie da treibt, wie?” Rafe grinste amüsiert und drehte seiner Arbeit den Rücken zu. „Hast du in letzter Zeit womöglich Kettenrasseln gehört? Oder ein Stöhnen nicht erkennbaren Ursprungs?”

„Du kannst mich mal.”

„Und wie läuft’s sonst?”, versuchte Jared, der einen Streit witterte, abzulenken. Die ersten Regentropfen fielen bereits, und sie hatten noch einiges vor sich. „Schließlich ist es das erste Mal seit Moms Tod, dass du mit einer Frau in einem Haus zusammenlebst. Fühlst du dich eingeengt?”

Um Shanes Mundwinkel zuckte es verräterisch. „Das könnte ich nicht behaupten.”

„Ah – zum Teufel.” Rafe hatte Shanes Blick aufgefangen und ließ den Heuballen fallen, den er eben hochgestemmt hatte. „Du schläfst mit ihr.”

„Steht mir das auf der Stirn geschrieben oder was?”

„Kannst du nicht ein einziges Mal deine Hosen oben lassen?” Rafe ließ angewidert den Heuballen von der Schulter rutschen. „Regan fühlt sich für sie verantwortlich.”

Shane verspürte Schuldgefühle in sich aufsteigen. Das machte ihn wütend. „Warum, zum Teufel, sollte sich irgendwer für sie verantwortlich fühlen? Sie ist eine erwachsene Frau. Hört auf, euch da einzumischen. Es geht niemanden etwas an außer sie und mich.”

„Alles, was Regan betrifft, betrifft auch mich. Und Rebecca geht Regan etwas an. Was weißt du denn schon von ihr? Du hast doch keinen Schimmer, wie sie aufgewachsen ist.”

„Na und?” Plötzlich interessierte sich Shane weder für Regan noch für seine Arbeit. Wütend starrte er seinen Bruder an. „Sie hat einen Verstand, und den benutzt sie.”

„Das ist auch alles, was man ihr in ihrem bisherigen Leben zu benutzen erlaubt hat. Sie hat doch mit ihren Erfahrungen überhaupt keine Chance gegen dich.”

„Worum geht’s denn eigentlich?” Devin war vom Heuboden heruntergeklettert und gesellte sich jetzt zu seinen beiden Brüdern. Der Regen wurde immer stärker. „Bringen wir das Heu rein, bevor es völlig durchnässt ist, oder soll es lieber draußen bleiben?”

„Halt du dich da raus”, wiederholte Shane und starrte Rafe finster an, ohne Devin zu beachten. „Mein Privatleben geht niemand was an.”

Jared seufzte. „Sieht so aus, als würden wir heute nicht mehr fertig.”

„Geht es um Rebecca?” Interessiert rupfte sich Devin einen Halm aus einem Heuballen und kaute darauf herum. „Scheint so, als hätte er sich in sie verknallt.”

„Ich bin nicht verknallt.”

„Lächerlich. Sie hatte doch noch nicht mal ihre Tasche ausgepackt, da bist du ihr schon hinterhergestiegen. Ich hätte dir schon gleich damals einen Kinnhaken verpassen sollen.”

Shane kniff die Augen zusammen. „Hol’s doch jetzt nach, du Feigling. Ihr seid doch alle feige hier. Aber immer wisst ihr alles besser. Ich lebe mein Leben so, wie ich es für richtig halte, da könnt ihr euch auf den Kopf stellen. Also spart euch eure guten Ratschläge und …”

Rebecca beobachtete die vier Männer vom Küchenfenster aus. Sie war verwirrt. Zuerst sah es so aus, als würden sie ernsthaft über etwas diskutieren – irgendein Problem mit dem Heu vielleicht, doch jetzt wurde sie den Verdacht nicht los, es wäre ein heißer Streit entbrannt.

„Da draußen ist irgendetwas los”, sagte sie in den Raum hinein, und Savannah, das Baby auf dem Arm, gesellte sich zu ihr ans Fenster.

„Oh, sie beruhigen sich schon wieder.”

„Was haben sie denn?”

„Keine Ahnung.” Savannah schüttelte den Kopf und rief Regan und Cassie, die sich am Herd zu schaffen machten, herbei. „Kommt mal her und seht euch das an, unsere Jungs machen sich zum Kampf bereit.”

„Kampf?” Schockiert sah Rebecca Savannah an. „Heißt das etwa, dass sie beabsichtigen, sich zu prügeln? Sie wollen sich wirklich schlagen? Aber warum denn, um Himmels willen?”

Regan ging zur Küchentür und öffnete sie. „Ach, das machen sie eben von Zeit zu Zeit.”

„Glaubst du, man kann sie noch davon abbringen?”, fragte Cassie. „Wir können es vers…”

„Nein”, beendete Regan ihren Satz. Der erste Treffer hatte sein Ziel erreicht. „Zu spät.”

Mit schreckgeweiteten Augen beobachtete Rebecca, wie Shanes Arm vorschnellte und wie seine Faust in Rafes Gesicht landete. Einen Moment später wälzten sich die beiden auf dem Boden. „Aber … aber …”

„Hoffentlich sind genug Eiswürfel im Eisfach.” Cassie wandte sich ab und eilte zum Kühlschrank hinüber.

„Jared und Devin stehen einfach nur daneben und schauen zu”, sagte Rebecca entsetzt.

„Nicht mehr lange”, prophezeite Savannah.

Wie auf ein Stichwort bückte sich Devin. Falls er die Absicht gehabt haben sollte, dem Kampf ein Ende zu machen, war es ihm jämmerlich missglückt. Nun wälzten sich drei Männer auf dem vom Regen aufgeweichten Erdboden.

„Das ist ja lächerlich.”

Rebecca ging entschlossen zur Tür. Mittlerweile wälzten sich vier Männer im Schmutz.

Es war für sie nicht erkennbar, wer da eigentlich gegen wen kämpfte.

Alles, was sie sah, waren Arme, Fäuste, Körper. Alles, was sie hörte, waren Schimpfworte und Flüche. Eine Schlägerei kannte sie bisher nur aus dem Fernsehen.

„Will denn niemand von euch einschreiten? Schließlich handelt es sich um eure Ehemänner.”

„Nun”, Savannah streichelte Miranda den Rücken, „wir könnten wetten, wer gewinnt. Ich setze fünf Dollar auf Jared – aus Loyalität.”

Verdutzt sah Rebecca die Frauen an. „Du lieber Himmel, ihr seid ja genauso schlimm wie sie.” Sie straffte die Schultern. „Ich gehe und setze der Sache ein Ende. Und zwar sofort.”

Nachdem Rebecca die Küche verlassen hatte, zwinkerte Savannah Regan zu. „Es hat sie ganz schön erwischt, oder was meinst du?”

„Ich befürchte es. Es macht mir Sorgen.”

„Ich denke, sie ist gut für ihn”, schaltete sich Cassie ein. „Und er ist gut für sie. Beide scheinen sie jemanden zu brauchen, auch wenn sie es noch nicht wissen.”

Das Einzige, was Rebecca im Moment wusste, war, dass sich diese vier erwachsenen Männer benahmen wie die Kinder und auf dem schlammigen Boden aufeinander einschlugen.

Als sie am Ort des Geschehens angelangt war, war sie völlig durchnässt. Sie schüttelte den Kopf über das Bild, das sich ihr bot. Die Hunde rasten schwanzwedelnd und aufgeregt bellend um die vier sich im Dreck wälzenden Männer herum.

„Aufhören!” Das bewog zwar die Hunde, stehen zu bleiben, nicht aber die Männer, innezuhalten. Fred und Ethel setzten sich gehorsam mit heraushängenden Zungen hin. „Ich habe gesagt, ihr sollt aufhören, und zwar sofort!”

Jared machte den Fehler, den Kopf zu heben, wofür er mit einem Ellbogen, der gegen sein Kinn donnerte, belohnt wurde. Er revanchierte sich dafür, indem er seine Faust in den Bauch rammte, der ihm am nächsten war.

Missbilligend stemmte Rebecca die Hände in die Hüften. Die Schimpfworte und Flüche waren verstummt. Die vier Männer lachten.

Wenn sie es wollte, trug ihre Stimme sehr weit. Sie hatte schon viele Vorlesungssäle gefüllt. „Hört sofort auf mit diesem Unsinn und steht gefälligst vom Boden auf. Im Haus sind Kinder, die euch zusehen können. Ihr gebt ein feines Vorbild ab.”

Devin, die schmutzige Hand über Rafes nicht weniger schmutzigem Gesicht, schaute auf. „Was?”, fragte er.

„Steht auf! Ihr solltet euch schämen!” Mit blitzenden Augen musterte sie alle vier der Reihe nach. „Ich sagte aufstehen. Los, stehen Sie auf.” Sie deutete mit dem Finger auf Devin. „Sie sind der Sheriff, um Himmels willen. Sie sind dafür da, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, und nun wälzen Sie sich hier im Dreck wie ein Halbstarker.”

„Ja, Ma’am.” Devin schluckte und befreite sich aus dem Gewirr von Armen und Beinen. „Ich weiß wirklich nicht, was in mich gefahren ist.”

„Und Sie.” Jetzt deutete ihr mahnender Zeigefinger auf Jared. „Ein Anwalt. Was haben Sie sich dabei gedacht?”

„Nichts.” Jared rieb sich seinen geschwollenen Kiefer, ehe er sich aufrappelte. „Absolut nichts.”

„Rafe MacKade.” Sie hatte das Vergnügen, ihn zusammenzucken zu sehen. „Ein Geschäftsmann und eine Säule der Gesellschaft. Ehemann und Vater. Was glauben Sie, was Sie den Kindern für ein Vorbild sind?”

„Ein schlechtes.” Rafe räusperte sich und stand auf. Am liebsten hätte er laut aufgelacht, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn dann womöglich übers Knie gelegt hätte.

„Und du”, fuhr sie nun mit solcher Wut in der Stimme fort, dass Shane beschloss, lieber im Matsch liegen zu bleiben. „Von dir hätte ich wirklich ein bisschen mehr erwartet.”

„Sie klingt wie Mom”, meinte Shane, und seine Brüder nickten respektvoll. „He, ich hab nicht damit angefangen.”

„Typisch. Wirklich ganz typisch. Löst du deine Probleme immer so?”

Er wischte sich Schmutz aus dem Gesicht. „Ja.”

„Das ist erbärmlich. Ihr alle seid erbärmlich.”

Drei Männer scharrten mit den Füßen im Dreck. Shane grinste verlegen.

„Gewalt ist keine Antwort. Nie. Es gibt kein Problem, das man nicht mit dem Verstand und einem Gespräch aus der Welt schaffen könnte.”

„Wir haben miteinander gesprochen”, gab Shane zurück und erntete einen bösen Blick.

„Ich erwarte, dass ihr euch wieder wie zivilisierte Menschen aufführt. Wenn ihr euch nicht zügeln könnt, müsst ihr eben Abstand voneinander halten.”

„Ist sie nicht himmlisch?” Shanes Tonfall bewog seine Brüder, ihn überrascht anzusehen. „Habt ihr schon mal eine Frau wie sie kennengelernt?”, schwärmte er strahlend. „Komm her und gib mir einen Kuss, Schätzchen.”

„Wenn du denkst, du kannst dich über mich …” Sie stieß einen Schrei aus, als er sie zu sich herunter auf den Boden zog. „Du Idiot! Du hirnloser …”

Dann lag sie auf dem Rücken, und ein nasser, muskulöser Mann lag über ihr. Lachend drückte er ihr einen Kuss auf den Mund. „Sie ist das süßeste Ding, das ich jemals kennengelernt habe.”

Er küsste sie wieder, während sie spürte, wie der Schlamm ihre Bluse durchnässte.

„Geh runter von mir, du Affe!” Sie bäumte sich auf, zappelte und gab ihm dann eine schallende Ohrfeige.

„Gewalt.” Jetzt wurde er von Lachen geschüttelt. „Sie hat Gewalt angewandt. Sie hat ihr Problem nicht mit dem Verstand und einem Gespräch gelöst.”

Ihre Faust traf daneben und streifte lediglich sein Ohr, ehe sein Mund sie erneut ablenkte.

Und dann küsste er sie mit aller Leidenschaft. Dicke Regentropfen platschten auf sie nieder, doch sie nahmen von diesem Umstand ebenso wenig Notiz wie davon, dass man sie mit großem Interesse beobachtete.

Rafe grinste in sich hinein. „Ich will verdammt sein. Sie hat ihn am Haken.”

„Sieht ganz danach aus.” Devin rieb sich sein blutiges Kinn an seiner schlammverschmierten Schulter. „Ich habe noch nie gesehen, dass er eine Frau so angeschaut hat wie sie. Glaubst du, dass er es weiß?”

„Mir scheint, sie wissen es beide nicht.” Jared wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Das wird ein Riesenspaß.” Rafe hakte seine Daumen in die Hosentaschen und beobachtete grinsend, wie sein Bruder mit Rebecca am Boden rangelte. „Der Sündenfall des Shane MacKade.”

„Meint ihr, wir sollten reingehen und sie allein lassen?” Devin legte beim Nachdenken den Kopf leicht schräg. „Oder sollen wir ihm noch eins verpassen?”

Rafe betastete behutsam mit dem Finger sein Auge. Shanes Fausthieb war nicht von schlechten Eltern gewesen. Er würde besser daran tun, sich aus weiteren Aktivitäten herauszuhalten, ins Haus zu gehen und das Auge mit Eis zu kühlen.

„Ich hätte nichts dagegen, aber ich vermute, sie würde sich gleich wieder einmischen.”

„Sie werden sich eine Lungenentzündung holen.” Jared wiegte bedenklich den Kopf.

„Nicht bei der Hitze”, widersprach Devin und bedeutete seinen Brüdern, ihm ins Haus zu folgen.

Rebecca gelang es, sich von Shane freizumachen, und rappelte sich auf. So würdevoll wie möglich wischte sie sich den Schlamm von ihrer ruinierten Hose und fuhr sich durchs Haar.

„Idiot.” Sie schoss ihm einen wütenden Blick zu, warf den Kopf in den Nacken und ließ ihn stehen.

Am Ende versuchte Shane es mit Blumen. Nachdem das Abendessen vorüber war und das Haus sich geleert hatte, ging Shane mit einer Taschenlampe hinaus in den Regen und pflückte einen großen Strauß Wildblumen.

Als er zurückkehrte, saß Rebecca am Küchentisch vor ihrem Laptop. Sie schaute auf und warf ihm einen von diesen kühlen Blicken zu, mit denen sie ihn schon den ganzen Abend über bedacht hatte.

Er legte die nassen Blumen auf den Tisch und setzte sich neben sie.

„Noch böse?”

„Ich bin nicht böse.” Sie fühlte sich beschämt, und das war viel schlimmer.

„Willst du mich noch mal ohrfeigen?”

„Bestimmt nicht.”

„Es war doch nur Schlamm.” Er zog ihre Hand an die Lippen. „Stand dir gut.”

Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber er hinderte sie daran. „Ich versuche zu arbeiten.”

Er griff nach dem Strauß und hielt ihn ihr hin. „Ich bin verrückt nach dir.”

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. War es wirklich so wichtig, in jeder Situation Haltung zu bewahren, koste es, was es wolle? „Wenn man bei strömendem Regen Blumen pflückt, muss man tatsächlich ziemlich verrückt sein.”

„Bei meiner Mutter hat es auch immer funktioniert. Du hast mich heute sehr stark an sie erinnert, weißt du das eigentlich? Obwohl sie ein bisschen unsanfter mit uns umgesprungen ist. Wenn sie dazwischengegangen ist, fühlten wir uns hinterher jedes Mal ein paar Zentimeter kleiner.”

Rebecca konnte nicht widerstehen, steckte ihre Nase in den Strauß und atmete den Duft der Wildblumen tief ein. „Sie muss eine sehr außergewöhnliche Frau gewesen sein.”

„Sie war großartig”, gab Shane schlicht zurück. „Sie und mein Vater waren die besten Eltern, die man sich vorstellen kann. Sie waren immer für uns da.” Er streckte die Hand aus und fuhr Rebecca mit dem Zeigefinger über die Wange. „Deshalb fühle ich mich auch nie wirklich einsam.”

Sie stand auf und schob ihren Stuhl zurück. „Besser, ich stelle sie gleich ins Wasser”, sagte sie und deutete auf die Blumen. „Sonst verwelken sie noch.”

Ihm wurde klar, dass sie nicht die Absicht hatte, von sich zu erzählen, auch wenn er mit seiner letzten Bemerkung versucht hatte, das Gespräch in diese Richtung zu lenken. „Rebecca …”, begann er, aber sie unterbrach ihn sofort.

„Warum hast du dich denn mit deinen Brüdern geprügelt?” Sie lenkte ihn schnell ab, weil sie ahnte, worauf er hinauswollte.

„Ach, nur so.” Dann aber fasste er einen Entschluss. Offenheit gegen Offenheit. „Deinetwegen.”

Überrascht sah sie ihn an. „Meinetwegen? Du machst wohl Witze, was soll das denn heißen, meinetwegen?”

„Nein. Aber es war keine große Sache. Rafe hat irgendwas gesagt, das mich auf die Palme gebracht hat. So geht es immer bei uns.”

Er kam zu ihr herüber und nahm einen Glaskrug aus dem Schrank. „Sie denken, dass ich dich ausnutze.”

„Ich verstehe.” Aber sie verstand nicht. Sie nahm ihm die Vase aus der Hand und füllte sie mit Wasser. Dann begann sie mit ihrer üblichen Sorgfalt, die Blumen zu arrangieren. „Du hast ihnen erzählt, dass wir miteinander schlafen.”

„Das war nicht nötig.” Er wusste, was sie dachte. Schlafzimmergespräche unter Männern, Augenzwinkern und verständnisinnige Rippenstöße. „Rebecca, ich habe nie ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen, das schwöre ich dir. Aber meine Brüder kennen mich einfach zu gut. Sie haben es alle sofort erraten.”

Vielleicht hätte er etwas erzählt, wenn es sich nicht um sie, sondern um eine andere Frau gehandelt hätte. Das lag durchaus im Bereich des Möglichen.

Er war kein Mann, der mit seinen Frauenbekanntschaften herumprahlte, aber zwischen ihm und seinen Brüdern hatte es in dieser Hinsicht nie Geheimnisse gegeben. Seltsamerweise hielt er jedoch seine Gefühle für Rebecca strengstens unter Verschluss. Er wusste selbst nicht, warum es bei ihr anders war.

Und wenn sich Rafe oder sonst wer unter anderen Umständen bemüßigt gefühlt hätte, ihm die Leviten zu lesen, wäre ihm das wahrscheinlich herzlich gleichgültig gewesen. Doch diesmal betraf es Rebecca, und das hatte ihn geschmerzt …

„Was, zum Teufel, ist das nur?”, fragte er.

„Ich würde sagen, Kaffee.”

„Was?” Er sah in den Becher, den er, ohne es zu merken, in die Hand genommen hatte. „Das meine ich nicht. Nein, ich war mit meinen Gedanken woanders. Hör zu, es war keine große Sache. Unser Kampf, meine ich. So regeln wir unsere Meinungsverschiedenheiten immer.” Er lächelte. „Es macht Spaß, ab und zu ein bisschen Dampf abzulassen.”

„Aha.” Sie stellte die Vase auf den Tisch.

„Ich empfinde etwas für dich.” Shane lauschte erschrocken seinen Worten nach, die ihm unbeabsichtigt über die Lippen gekommen waren.

Schockiert hob er den Becher und leerte ihn in einem Zug. „Ich glaube, ich wollte nur nicht, dass irgendjemand denkt, ich wäre nur scharf darauf, dich ins Bett zu zerren.”

Wärme durchflutete sie. Eine gefährliche Wärme. Liebe. Sie wartete einen Moment, dann sagte sie: „Wir wissen beide, dass es nicht so ist.”

„Du bist nicht ganz auf dem Laufenden. Ich wollte dich. Natürlich war ich hinter dir her.”

„Und ich hab’s dir schwer gemacht?”

„Darum geht es nicht.” Sie lächelte, aber es gelang ihm nicht, ihr Lächeln zu erwidern. „Ich war schon hinter vielen Frauen her.”

„Prahlst du jetzt?”

„Nein, ich …” Shane fing sich wieder. Er entdeckte in ihren Augen sowohl Belustigung als auch Verständnis und dann aber noch etwas anderes, mit dem er nichts anfangen konnte. „Ich vermute mal, ich will damit sagen, dass wir nicht zwangsläufig so weitermachen müssen … ich meine … wenn du dir vielleicht alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen willst …”

Sie unterdrückte ihre Angst, doch ihre Stimme zitterte. „Ist es das, was du möchtest?”

Ohne sie aus den Augen zu lassen, schüttelte er langsam den Kopf.

„Nein. Nein, ganz bestimmt nicht. Ich kann mir im Moment nichts vorstellen, was ich lieber hätte als dich. Schon allein dich anzuschauen erregt mich.”

Die Wärme kehrte zurück, pulsierte durch ihre Adern, breitete sich aus.

Rebecca durchquerte die Küche und ging auf ihn zu. Bei ihm angelangt, legte sie ihm die Arme um den Nacken. „Und worauf wartest du dann noch?”