Was einmal ausgesprochen wird
(1999)
»Was machst du eigentlich?«
Überrascht drehte ich mich um. Die Stimme kam mir entfernt bekannt vor. Aber sie hatte sich verändert, sie war tiefer geworden. Zwanzig Jahre. Eine lange Zeit. Da waren nicht nur die Stimmlagen gereift, auch das Äußerliche hatte sich dem Lauf der Jahre angepasst. Als ich dem Mann ins Gesicht schaute, der mir diese Frage gestellt hatte, erkannt ich ihn dennoch sofort. Es war Peter. Der Spargelpeter, so hatten wir ihn genannt. Aber er hatte anscheinend in den vergangenen Jahren weniger Gemüse als mehr die mit Butter angerührte Soße verzehrt, denn er pflegte einen dicken Bauch und seine Haut wirkte ungesund. Er trug einen schwarzen Anzug, der teuer gewesen sein musste. Für ein Klassentreffen unpassend, obwohl sich viele der alten Kameraden und Kameradinnen mit ihrem Können und erworbenen Statussymbolen brüsteten. Peter war also kein Einzelfall. Er war aber der Einzige, den ich früher bescheuert fand. Heute würde ich meine Meinung höchstens in einer förmlicheren Vokabel ausdrücken. Er grinste mich an und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. Was wollte Peter von mir? Er wollte wissen, was ich machte. Ging ihn das etwas an? Vielleicht war er einer meiner Fans und wollte ein Autogramm? Aber er sah nicht aus, als läse er zweitklassige Krimis.
»Hallo, Peter. Schicker Anzug.«
»Ja, so was leistet man sich als Anlageberater!«
Er streckte seinen aufgeblasenen Körper und wirkte wie der Zwillingsbruder eines ehemaligen Bundeskanzlers.
Oha, daher wehte der Wind. Er wollte also doch ein Autogramm, aber unter irgendeiner unsinnigen Versicherung, die er mir aufschwatzen wollte. Aber da war er bei mir falsch gewickelt.
»Anlageberater? Bei mir gibt’s nichts anzulegen«, antwortete ich und hoffte ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich wandte mich an Susanne, die mir gegenübersaß und mit der ich mich zuvor unterhalten hatte. Aber Peter war hartnäckig, musste er wohl sein, bei seinem Beruf.
Wieder klopfte er mir auf die Schulter. Dieses Antatschen nervte mich.
»Ich hab da was anderes gehört.«
»Ach ja?«
»Na ja, als erfolgreiche Schriftstellerin hast du bestimmt den ein oder anderen Batzen Geld unterm Kopfkissen liegen. Ich könnte dir ein paar gute Tipps liefern und dich noch reicher machen!«
Aha, er hatte seine Frage also nur gestellt, um an mich ranzukommen. Nun, ich war in der Tat nicht arm, allerdings auch nicht übermäßig reich. Reichtümer waren mir nicht wichtig. Damit erreichte ich nicht das, was ich mit dem Schreiben Tag für Tag und viele Nächte versuchte. Was mir, Gott sei Dank, immer häufiger gelang. Schreiben, so schnell meine Finger es aushielten, über all das Schreckliche, all die Grausamkeiten und Abartigkeiten, all die Brutalitäten und Misshandlungen – nur, um sie zu verhindern. Aber was wusste er schon davon. Peter, der schmierige Anlageberater.
»Peter,« bat ich, »ich bin nicht aus beruflichen Gründen hier, nicht um eine Lesung abzuhalten.« (Die ich so sehr hasse, fügte ich in Gedanken hinzu, dienten sie doch nur als Mittel zum Zweck.) »Und ich will mein Geld nicht anlegen. Also, bitte! Lass mich in Ruhe, ich möchte mich gerne weiter unterhalten. Okay?«
Peter zögerte und ich dachte, gewonnen zu haben, als er sich von mir entfernte. Aber ich hatte nicht mit seinem beruflichen Ehrgeiz gerechnet, denn er zog sich einen Stuhl heran.
Ich versuchte ihn zu ignorieren und widmete mich meiner Gesprächspartnerin. Aber Peter interessierte das nicht die Bohne. Er quatschte dazwischen, versuchte mir begreiflich zu machen, was ein Investmentfonds ist und wie viel Geld damit zu machen sei; dass auch Aktien eine feine Sache wären, aber zeitweise riskant. Ich hörte nicht zu, Peter redete weiter.
»Jetzt reicht's!«, herrschte ich ihn an. Die ehemaligen Klassenkameraden verstummten, einige grinsten. Anscheinend hatten sie Peters Laberei schon hinter sich.
Leise zischte ich: »Ich wünsch' dir nichts Böses, aber lass mich in Ruhe!« Ich stand auf, nickte Susanne zu und verließ den Raum, um auf die Toilette zu gehen. Dorthin konnte mir Peter nicht folgen. Es sei denn, er unterzog sich einer sekundenschnellen Geschlechtsumwandlung. Aber das sollte nicht sein Schicksal sein.
Ich hatte es gesehen, kurz bevor ich aufgestanden war, bevor ich den Raum verlassen hatte. Es war nur ein blitzschneller Gedanke, so schnell, dass er kaum greifbar war, aber ich hatte es gesehen – so wie immer. Aber hier hatte ich keinen Computer, keine Schreibmaschine, nicht einmal einen Stift, um ihn vor dieser Gefahr zu warnen. Manchmal war das Schicksal stärker. Manchmal konnte ich nichts dagegen unternehmen. Manchmal war ich zu schwach. Ich stützte mich auf das Waschbecken, atmete tief durch. Und wenn ich es ihm sagte? Dann hätte ich ihn für den Rest des Abends an meiner Seite kleben. Er würde mich mit seinem Geschwätz nerven, aber ich hätte ihm das Leben gerettet. Eindeutig. Ich blickte meinem Spiegelbild in die Augen. Es waren dunkelblaue, mit ein paar grünen Sprenklern darin. Es waren schöne Augen. Auch sonst war ich hübsch. Aber ich hatte keinen Mann, dafür blieb keine Zeit. Ich musste schreiben, schreiben, meine Arbeit war wichtiger als mein Leben. Eine Stunde Liebe bedeutete das Leben vieler Unschuldiger. Damit konnte ich nicht leben.
Ich riss mich von meinem Anblick los und eilte aus dem Toilettenraum heraus.
Mein Blick schweifte hektisch über die 27 Anwesenden. Der mutierte Spargelpeter mit seinem teuren Anzug war nicht darunter. Ich war zu spät, das wusste ich. Meine Knie zitterten ein wenig, als ich mich setzte. Es war also wieder geschehen. Hätte ich ihn nicht so angefaucht, wäre er vielleicht geblieben. Peter, berichtete Susanne, hatte den Raum fluchtartig verlassen. Ich war die letzte Person dieses Abends gewesen, bei der er versucht hatte, seine beruflichen Neigungen unterzubringen. Er hatte bei niemandem Erfolg gehabt und er würde auch zukünftig keinen Erfolg mehr haben.
Er würde zu schnell fahren und die Linkskurve nicht nehmen können. Sein Auto würde die Leitplanke durchbrechen und einen steilen Abhang hinunterstürzen. Peter würde schon tot sein, wenn der zerbeulte Wagen zum Stehen kam und in Flammen aufging. Wenigstens die Qualen des Verbrennens blieben ihm erspart! Vielleicht hatte er es schon hinter sich.
Ich fühlte mich schlecht. Wieder hatte ich es nicht verhindern können. Natürlich, das geschah oft. Ich konnte nicht alle Verbrechen, alle Unfälle dieser Welt aufs Papier bringen und dem Schicksal einen anderen Drall geben. Aber diesmal war ich selbst daran schuld. Ich hätte es wissen müssen; ja, das hätte ich.
Ich hätte ihm wenigstens sagen müssen, dass er noch bleiben sollte.
Aber er war schon weg, als du von der Toilette kamst, sprach eine innere Stimme zu mir.
Ja, aber ich hätte ihm hinterherrennen können. Hättest du nicht. Hätte ich doch!
So diskutierte ich still hin und her und wurde erst aus meinem inneren Zwist gerissen, als sich ein weiterer Klassenkamerad zu mir setzte und mich leise ansprach.
»Hi, Trish!«
Eigentlich heiße ich Patrizia, aber ich hasse diesen Namen. Deshalb bekam ich in der Schulzeit eine Menge Kosenamen zugeteilt. Trish hatte mir am besten gefallen, doch ich hatte ihn fast vergessen. Nicht nur den Namen, auch die Person, die ihn ausgesprochen hatte. Damals wie heute.
Und nun, als ich diesem Menschen in die Augen blickte, empfand ich ein zwiespältiges Gefühl. Ich freute mich, ihn zu sehen, aber es war schwierig, den Namen zu finden. Denn früher, als wir enge Freunde gewesen waren, hatte er lange Haare und Brüste gehabt. Er sah meine Verblüfftheit und half mir: »Ich heiße jetzt Stefan. Ist nicht sonderlich einfallsreich, ich weiß. Aber es schien mir für meine Familie am Einfachsten.«
Ich hatte meine Sprache noch nicht wiedergefunden, aber jetzt wusste ich wieder den Namen – den von damals: Stefanie, ja. Mein Gott, was hatten wir alles miteinander erlebt. Wir waren die besten Freundinnen gewesen. Das waren wir wirklich. Wieso nur hatte ich sie vergessen? Jetzt erinnerte ich mich, dass sie sich wie ein Junge gekleidet, kurze Haare getragen und versuchte hatte, kein Mädchen zu sein. Jedes Jahr zu Weihnachten hatte sie sich gewünscht, ein Junge zu werden, sonst nichts. Wir wussten damals nicht, dass so etwas überhaupt möglich war. Als Kind hatte ich dem Ganzen nicht solche Bedeutung beigemessen, vermutlich hätte ich das als Erwachsener auch nicht. Mein Gott, Stefanie war zu Stefan geworden.
Wir umarmten uns. Es war schön, seine alten Freunde wiederzusehen. Diese Unbeschwertheit aus Kindertagen noch einmal zu spüren. Die Last, die heute auf mir lag, für wenige Stunden zur Seite zu schieben und nicht daran zu denken.
»Du hast es wirklich getan?«
»Ja!«, antwortete Stefan mit einer hohen, aber eindeutig männlichen Stimme. »Ich habe nach der Schule zwei Selbstmordversuche hinter mir, weil ich nicht mit diesem, mir zugedachten weiblichen Part klar kam. Das war nicht ich. Irgendwann bin ich dann zu einer Therapie gekommen, und da wurde mir klar, dass meine Hormone, meine Gene mehr Mann als Frau sind. Das ist alles sehr kompliziert zu erklären, und es war auch kein leichter Schritt. Vor allem war es nicht leicht, diese Operationen über mich ergehen zu lassen. Aber jetzt bin ich ich. Jetzt geht's mir gut!«
Ich schüttelte den Kopf. Nicht, weil ich ihm nicht glaubte, nicht, weil ich es abartig und die Vorstellung einer Geschlechtsumwandlung grausam fand, sondern weil ich den Mut bewunderte. Den Mut, sich gegen das einem vom Schicksal zugedachte Leben zu stellen. Ich fühlte mich nicht dazu in der Lage. Ich kämpfte zwar gegen das Schicksal Anderer, fügte mich aber meinem eigenen. Stefan musste sich wohlfühlen in seiner Haut. Eine Geschlechtsumwandlung würde mir aber nicht helfen. Nur mein eigener Tod gäbe mir die Erlösung. Es war meine Aufgabe – eine, die niemandem bewusst war, und das war gut so. Wie glücklich war ich doch, wenn ich die Täter auf einen anderen Weg brachte, wenn ich ihre Verbrechen erzählte, bevor sie geschahen und unschuldige Opfer vor Grausamkeiten bewahrte. Das war meine Bestimmung, aber sie quälte mich, immer dann, wenn ich nicht schnell genug geschrieben hatte, wenn ich die Menschen nicht vor ihrem Schicksal bewahrt hatte. Dann stürzte ich diesen Abhang hinunter, so wie Peters Auto. Aber ich hatte nicht das Glück, daran zu sterben, sondern musste versuchen, wieder hinaufzuklettern, allein. Niemand reichte mir ein Seil oder eine Leiter. Ich hätte die Unterstützung auch abgelehnt. Aber heute saß ich hier, wollte in die Vergangenheit reisen und noch einmal klein und unter ehemals vertrauten Menschen sein, nur darum war ich zu diesem Klassentreffen gegangen.
Stefan und ich setzten uns abseits und unterhielten uns wie zwei Waschweiber über alte Zeiten. Als wir mit der Schulzeit fertig waren, begannen wir mit den Wegen des Einzelnen. Und Stefan hatte auf jeden Fall den größeren Sprung gemacht, vor allem äußerlich. Beruflich arbeitete er als Chirurg im Ausland. Meinen Lebenslauf kannte jeder, zumindest, wer schon einmal ein Buch von mir gelesen hatte. Stefan hatte – und wusste somit, dass ich alleine lebte, dass mein Leben aus Schreiben bestand und ich 15 Bücher und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht hatte. Allesamt Thriller, manche Horror.
»Ich mag deine Geschichten. Ich weiß nicht, ob ich alle gelesen habe,« beichtete er, »aber sie sind total lebensecht. Die Personen beschreibst du so, als gäbe es sie wirklich. Das gefällt mir, aber es ist auch ein wenig unheimlich.«
»Oh, das sind Recherchen, Beobachtungen, wenn ich im Café sitze oder so etwas. Nichts weiter. Charakterisierungen liegen mir.« Ich lachte, freute mich über sein Lob. Zumindest gaukelte ich ihm das vor. In Wahrheit schmerzte es mich, denn die Personen waren echt. Es gab sie oder hatte sie gegeben. Waren sie es doch, die mir den Stoff für all die Geschichten lieferten. Aber das wusste nur ich. Und so sollte es auch bleiben.
Stefan war besessen von meinen für ihn fiktiven Personen. Er redete und redete, und während ich ihm zuhörte, blitzte es in meinem Kopf auf, nur für einen Moment, wie immer, aber auch diesmal reichte es, um zu sehen, wer von der Hand des Teufels berührt werden sollte. Stefan. Er war nicht alleine. Doch das Gesicht der anderen Person blieb verborgen. Das war neu. Es war dunkel, nur ein helles Licht im Hintergrund.
Ich hörte nur noch nebenbei die Worte, die Stefan über meine Bücher verlor. Plötzlich sagte er etwas, das mich aus meinen Gedanken riss und mich hellhörig werden ließ. Aber ich hatte es nicht richtig verstanden, deshalb fragte ich nach: »Entschuldige, was sagtest du gerade?«
»Ich meinte, dass ich mich in einem deiner Romane wieder gefunden habe. Die Charakterisierung der Isabel, die ihren Mann aus Rache tötet, passt total auf mich.«
Es blitzte nicht erneut in meinem Kopf auf, dafür stach die Erkenntnis der Wahrheit mit Wucht in mein Herz. Es schmerzte. Und die Angst, die Angst vor dem eigenen Tod, den ich eben noch herbeigesehnt hatte, ließ jetzt meinen Magen rebellieren.
Er war Isabel? Er konnte nicht wissen, was ich sah! Das konnte er nicht, oder doch?
»Vielleicht habe ich unterbewusst weitergesponnen, wie du später mal sein würdest. Das ist reiner Zufall.«
Aber er glaubte mir nicht.
»Woher wusstest du, dass ich mal verheiratet war? Das war mein letzter Versuch, eine Frau zu sein.«
»Das wusste ich nicht!«
Ich schickte einen Hilfe suchenden Blick zu meinen anderen Klassenkameraden, doch niemand schenkte uns Beachtung. Sie waren alle vertieft in ihrer eigenen Vergangenheit.
»Du wusstest es. Woher?« Er lachte nicht mehr. Seine Augen funkelten böse. Stefanie hatte nicht nur ihre weiblichen Attribute abgelegt, auch die Ehrlichkeit und die Freundlichkeit schienen umgewandelt worden zu sein.
Wie viele vermeintliche Täter hatten meine Bücher gelesen und sich wiedererkannt, fragte ich mich. Wie hatte ich so naiv sein können, die geplanten Verbrechen zu verändern, ohne entdeckt und selbst die Hauptperson einer Geschichte zu werden? Es war so lange gut gegangen! Jetzt nahm das Spiel eine Wendung.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, versuchte ich Stefan von meiner Unwissenheit zu überzeugen.
Plötzlich lachte er laut auf. Ein Schauder jagte über meinen Rücken.
»Reingefallen!«, sagte er.
Als Kinder hatten wir oft Geschichten erfunden und sie dem Anderen angehängt, bis der nervös wurde und nicht mehr wusste, was wahr, was falsch war. Stefan hatte das Spiel wieder gespielt. Aber: War es wirklich nur das Spiel? Ich war mir nicht so sicher. Die Isabel, die ich beschrieben hatte, war nicht fiktiv gewesen, und sie hatte auch tatsächlich ihren Mann getötet. Das war ein Verbrechen gewesen, das ich nicht hatte verhindern können. Die Namen der Personen erfand ich, denn ich sah nur ihre Gesichter und das Verbrechen, dem sie zum Opfer fallen sollten oder das sie selbst begehen wollten. Sollte ich meine ehemals beste Freundin nicht erkannt haben?
Ich musste hier weg, musste mein eigenes Schicksal diesmal verändern. Die Person, die ich in meinen Gedanken gesehen hatte – die bei Stefan stand, die ohne Gesicht – musste ich selbst gewesen sein. Und sicherlich würde ich nicht der Täter sein.
Ich stand auf. »Es war schön dich wiedergesehen zu haben, aber ich muss leider gehen. Hab' noch einen Roman zu Ende zu schreiben. Sonst liegt mir der Verlag in den Ohren.« Ich umarmte ihn so herzlich wie bei der Begrüßung, hoffte ich.
Seine Augen funkelten unfreundlich, kein bisschen Menschlichkeit war darin. Nicht mehr.
»Machs gut!«, sagte ich wehleidig, eilte auf die anderen Freunde zu, klopfte an das Ende des Tisches und verabschiedete mich rasch von allen. Manche schüttelten mir die Hand, andere umarmten mich. Wir sagten uns noch nette Worte, wünschten uns alles Gute, dann war ich froh, aus dem Raum heraus und in mein Auto zu kommen, nach Hause zu fahren und mein Schicksal in die Hand zu nehmen. Stefan würde ich schneller wiedersehen, als es mir lieb war.
Zuerst knipste ich überall das Licht an, dann klappte ich den Laptop auf und tippte wild auf die Tastatur ein, in der Hoffnung, das Schlimmste verhindern zu können. Ich musste die Umgebung, den Ort des Geschehens schaffen. Jetzt wurde mir auch schlagartig klar, was das Licht im Hintergrund der als ich selbst identifizierten Person bedeutete – es war der erleuchtete Monitor. Hier also sollte Stefan auf mich treffen, er würde in mein Haus, mein Heiligtum, mein »Castle« einbrechen. Vielleicht war er schon drin. Aber es nützte nichts, wenn ich ihn aufspürte, das hinderte mein Schicksal nicht daran, den für mich vorgesehenen Tod zu besiegeln.
Es fiel mir nicht schwer, meine eigene Umgebung zu beschreiben, die Geschichte bis hierhin zu erzählen. Dann aber hatte ich Schwierigkeiten.
Wie sollte ich Stefan aus meinem Haus herausbefördern, ohne dass er mir etwas anhaben konnte? Er würde immer wieder kommen. Die Worte formten sich von selbst, so war es immer, wenn mein Hirn übersprudelte. Aber es gefiel mir nicht, was dort geschah, es nahm einen Verlauf, den ich nicht wollte, der aber der einzige, für einen Krimi ziemlich langweilige Ausweg zu sein schien. Dann war ich fertig, ja! Ich würde weiterleben und das Leben anderer retten.
»Oh Mann, was für ein Gefühl, sein Leben zu verändern, nicht wahr?«
Ich fuhr herum. Wieso war er schon hier oben? So weit hätte er gar nicht sein dürfen! Ich hatte ihn erschossen, weil ich dachte, er wäre ein Einbrecher. Aber im Flur, nicht hier. So hatte ich es erdacht. Konnte ich meinem eigenen Schicksal nicht einen anderen Drall geben? Nicht dieses eine Mal?
Ich hatte alle Worte verloren, nicht ein einziges brachte ich nun über meine Lippen, alle befanden sich vor mir auf dem Bildschirm.
Ich hatte noch nicht abgespeichert!
Meine Hand fuhr in Richtung Maus, ich erreichte sie problemlos und führte den Mauszeiger langsam auf den Speicher-Button, doch zum Drücken kam ich nicht mehr. Stefan riss meinen Arm herum, zog mich weg von meiner eigenen Geschichte, er drückte mir die Luft ab. Ich kämpfte, ich trat um mich, zog an seinen Haaren und zerkratzte ihm das Gesicht.
Aber trotz allem, das wusste ich, sollte mein Schicksal der Tod sein. Es sei denn, es gelang mir, diese blöde Speichertaste zu drücken. Ich erschlaffte unter seinen brutalen Händen, die einst so weiblich gewesen waren. Noch glaubte Stefan nicht, gewonnen zu haben, er ließ nicht los, aber er lockerte seinen Griff. Nur ein kurzer Augenblick, in dem ich mich ruckartig aus seiner tödlichen Umklammerung wand, den Mauszeiger dirigierte und klickte.
Die Textverarbeitung speicherte das Dokument. Ich war noch nicht tot.
Stefan war kurzzeitig verblüfft, dann war er weg.
Nun war ich an der Reihe, erstaunt zu sein. Ich spürte ein Gewicht in meiner rechten Hand. Eine Schwere, die vorher nicht da gewesen war. Ich schaute darauf. Es war eine Pistole, die ich zu einer Recherche angeschafft hatte, um sie in allen Einzelheiten beschreiben zu können. Sogar einen Waffenschein hatte ich dafür beantragt. Es hatte sich nur eine Patrone darin befunden. Jetzt war auch diese verschwunden. Mit schweren Schritten schlurfte ich in den Flur.
Mir war schlecht. Ich hatte einen Menschen getötet.
Sonst hätte er dich getötet.
Stefan lag ausgestreckt auf dem Rücken. Sein Gesicht war entstellt. Ich hatte ihm in den Kopf geschossen. Jetzt übergab ich mich. Eine reale Geschichte durchs Schreiben zu verändern war das eine, sie selbst zu erleben eine andere Sache.
Ich ging zum Telefon und rief die Polizei, erzählte die schwachsinnige Geschichte vom Einbrecher, erwähnte, dass wir gekämpft hatten, dass ich an meine Waffe gekommen war und irgendwohin geschossen hatte. Die Polizei glaubte mir. So hatte ich es vorgesehen.
Mein nächster Bestseller hieß »Mein Leben« und erzählte die Geschichte, von Stefanie, der Guten, die zu Stefan, dem Bösen geworden war. Vielleicht war er auch schon immer böse gewesen, wer wusste das schon. Die Geschichte endete, als Stefan tot in meinem Flur lag. Die Leser liebten dieses Buch, erzählte es doch von Liebe und Freundschaft genauso wie von Hass und Tod. Sie liebten Stefanie, aber sie hassten Stefan, den Mann, der einst meine beste Freundin gewesen war. Ich sah sie vor mir, wie sie sich gegen Kleider wehrte, gegen Sandalen und Blusen. Ich erinnerte mich daran, dass sie nach jedem Friseurbesuch erneut selbst zur Schere gegriffen hatte, um den eh schon kurzen Haarschnitt noch weiter zu stutzen. Ich behielt Stefanie in Erinnerung, nicht Stefan.
Als der Trubel um mein neues Buch und den Toten in meinem Flur vorbei war, war ich wieder allein, so wie ich es wollte.
Das Schriftstellerdasein war ein einsames Leben, also fügte ich mich meinem Schicksal wieder und wieder und tippte dem Schicksal Anderer ein Escape zwischen sein Treiben.