Das Vermächtnis

(2006)

 

Ging ich durch die Straßen von Arkham, schienen mir aus den Ritzen der Gebäude leichenblasse Hände zuzuwinken und sich grinsende Fratzen gegen die staubigen Fenster zu drücken. Der Wind wehte nicht, er flüsterte meinen Namen. Der Vollmond besaß in dieser Nacht das Gesicht meines Vorfahren, der diesem Ort zum Dasein verholfen hatte. Ich liebte Arkham, für das ich nicht nur meinen Job gekündigt, sondern auch meine Beziehung zu Juliana aufgegeben hatte. Meine vernarrte Idee, wie sie monatelang geschimpft hatte, wollte meine Gattin nicht unterstützen. Dabei hatte ich ihr nur einen Teil erzählt. Für sie galt mein Plan als willkommener Anlass, mir die Schuld für eine gescheiterte Ehe in die Schuhe zu schieben. So war sie nun einmal, Juliana, die Frau, mit der ich einst hatte alt werden wollen und die sich nach anderen Männern nicht nur umgesehen hatte, sondern oft genug daran hängen geblieben war. Ohne, dass sie Schuld traf, natürlich. Ich lachte befreit auf. Mein Atem produzierte kleine Dunstwolken. Ich beschleunigte meinen Schritt und klappte den Kragen meiner Jacke hoch. Unnatürlich kalt war es für Mitte August, aber das mochte mit dem kühlen Wind der Ostküste zusammenhängen.

Von Weitem erkannte ich den Grund meines Kommens: Das Wachsfigurenkabinett.

Ein neues Schild leuchtete über dem Eingang, gestern erst hatte es Mr. Smith mit seinen Jungs installiert. Dabei waren einige Birnen durchgebrannt, und Ronald, der Lehrling, hatte sich die Finger verbrannt. Später hatten wir am Tresen direkt neben Robert E. Howard gestanden, uns zugeprostet, darüber gelacht und dem Ort die Schuld gegeben; nicht, ohne uns zuzuzwinkern, mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen.

Als ich den verrosteten Schlüssel im Schloss herumdrehte, hieß es mich quietschend willkommen. Ich hatte keine Zeit gefunden ein neues Schloss einzubauen; außerdem passte das alte weitaus besser zu der, mit Eisenbeschlägen beschwerten, Holztür. Die Scharniere knarrten, als ich die Tür aufstieß und in die Eingangshalle trat. Perfekt!

Ich tastete an der Wand hinab, zu dem tief sitzenden Lichtschalter vor. Wie in vielen Bauten aus der Jahrhundertwende, war auch das Kabinett mit elektrischem Licht nachgerüstet worden. Doch bei den Installationen musste ein Dilettant am Werk gewesen sein, der nicht nur billiges Material verarbeitet hatte, sondern durch dessen schwerwiegende Fehler ein Brand hätte entstehen können. Ich hatte sie auswechseln lassen müssen und keine Kosten gescheut.

Die Steckdosen und Schalter saßen, aufgrund der eingebauten Stahlträger, knapp eine Handbreit über der Fußleiste, ich hätte sie umsetzen lassen können, aber ich wollte so wenig wie nötig an dem Haus verändern. Es sollte den Besuchern eine stimmige Atmosphäre vermitteln. Eine Weile hatte ich darüber nachgedacht, die Leitungen nicht auszuwechseln, sondern herausreißen zu lassen und den ursprünglichen Zustand des Hauses wieder herzustellen. Doch dann hätte ich konsequenterweise auch die Heizkörper entfernen müssen. Aber die Räume durften nicht auskühlen. Die durch die undichten Sprossenfenster herein kriechende Feuchtigkeit sollte sich nicht auf den Wänden niederlassen. Nur bei einer konstanten Temperatur von 18 Grad schmolzen die Wachsfiguren nicht und setzten auch keinen Grünspan an. Ob es ausreichte, die Wände trocken zu halten, sollte sich herausstellen. Noch roch es nicht schimmelig, sondern nach frischer Farbe und Wachs, mit dem der Dielenboden imprägniert worden war.

Ich tastete im Dunkeln an der Wand entlang. Obwohl ich schon unzählige Male hier gewesen war, benötigte ich mehr als eine halbe Minute, bis ich den Drehschalter fand. Vermutlich wartete mein Unterbewusstsein auf eine Klaue, die mein Handgelenk umschloss und mich in die unendliche Düsternis zog. Ich kicherte. Und drehte. Das Licht flackerte auf.

Drei zwölfarmige, schlichte Kronleuchter erhellte die Vorhalle. Simultan gingen die in den Wänden hinter Milchglas eingebauten Glühbirnen mit geringer Leistung an, die sich im gesamten Haus verteilt wiederfanden, sodass nicht ein einziger Raum dunkel blieb.

Und da stand er, der Herr und Meister, die Hand zum Gruß erhoben. Zu Lebzeiten hatte er nie erfahren, dass er Nachkommen gezeugt hatte, die sein wahres Lebenswerk eines Tages entdecken und weiterführen sollten:

Howard Philipps Lovecraft.

Das längliche Gesicht hatte ich eindeutig von ihm, und weder meine Mutter noch mein Vater besaßen dieses markante Kinn. Glücklicherweise hatten mir die Gene eine kleinere Nase vermacht. Trotz meiner Verehrung – diesen Zinken hätte ich um keinen Preis haben wollen. Auch sonst besaß ich nicht viel Ähnlichkeit mit meinem Opa. Wir teilten das Interesse für Literatur, bizarre Ideen und den Hang zum Wahnsinn.

Er wusste nicht, dass meine Oma – Sonia Greene – schwanger war, als er sich, obwohl er sie liebte, scheiden ließ. Sie selbst mochte ihn damit nicht konfrontieren. Howie, wie sie ihn in ihren Erzählungen liebevoll genannt hatte, wäre nicht stark genug gewesen, zwischen ihr und seiner Familie zu stehen. Sie erzog meinen Vater Stephen Greene allein, der am 22. September 1930 zur Welt kam.

Er arbeitete später als Chirurg und lernte meine Mutter im Krankenhaus bei einem Schichtwechsel kennen. Beide hatten schon eine Ehe hinter sich. Gezeugt wurde ich während einer Nachtschicht im Ruheraum. Und so erblickte ich das Licht der Welt am 1. Oktober 1967 als Enkel des legendären H.P. Lovecraft. Meine Oma, mit der ich mehr Zeit verbrachte als mit meinen Eltern, erzählte viel über ihn. Doch ich verlangte mehr über den kränklichen, hochintelligenten Mann zu erfahren, mit dem ich in kindlichen Jahren oft verglichen worden war. Jede Neuauflage seiner Bücher kaufte ich und studierte sein Werk, bis ich in seinen Erzählungen ein System entdeckte und damit eine Karte entwarf, die mich zu Arkham brachte – dem Ort, der nur für diejenigen fiktiv blieb, denen es nicht gelang, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch ich wollte mehr und nahm, nach Rücksprache mit meinen Eltern, die ich nicht verletzen wollte, seinen Nachnamen an. Nur wenige Jahre später starben meine Eltern, und nach einer sechswöchigen Trauerzeit erfüllte mich Stolz, der einzige noch lebende Nachfahre Lovecrafts zu sein.

Juliana hatte sich immer geweigert, mir ein Kind zu schenken. Vielleicht gelang es mir, meinem Opa – und somit auch mir selbst – ein Denkmal zu setzen – eines, das es in dieser Form noch nie zuvor irgendwo auf der Welt gegeben hat.

Vorsichtig griff ich in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Kamm heraus, mit dem ich die Haare meines Großvaters ordentlich zur Seite strich.

»So siehst du besser aus. Was machst du immer, wenn ich nicht da bin, Opa?« Zärtlich strich ich ihm über die Wange. Bevor ich den Kamm zurücksteckte, ordnete ich meine Frisur, die ich – angesichts des bevorstehenden Ereignisses – der meines Großvaters angepasst hatte.

Die Eingangshalle maß gut 20 Quadratmeter. An dem weiß gestrichenen Mauerwerk hingen ordentlich nebeneinander gereiht Schaukästen, in denen seltene Buchausgaben auslagen. Auch Lovecrafts erster Füllfederhalter, Briefe, die er später geschrieben hatte, seine Schreibtischunterlage, der schwarze Lieblingsbinder, den Sonia ihm stets akkurat um den Hals geschnürt hatte, eine Brille, die er nur selten getragen hatte und ähnliche Utensilien durften betrachtet, jedoch nicht berührt werden.

Heute war ein besonderer Tag, und darum überzeugte ich mich noch einmal davon, dass sich alles an dem von mir zugewiesenen Platz befand. Meine Schritte hallten dumpf von dem gewachsten Holzboden zurück, als ich in den ersten Raum rechts neben mir trat. Die einzelnen Räume besaßen die Größe einer kleinen Wohnung, dieser hier maß rund 45 Quadratmeter. Vor einer Woche hingen noch überall Schilder, die den Besucher darauf hinwiesen, was sie in den einzelnen Räumen erwartete, doch ich hatte sie entfernt. Jede Wachsfigur stellte eine Überraschung dar:

Links, direkt neben dem Eingang stand Robert Bloch so lebensecht, dass ich jedes Mal einen Schreck bekam, wenn ich ihn sah. In seiner rechten Hand hielt er ein Messer erhoben, gerichtet auf einen Duschvorhang, hinter dem sich ein weiblicher, wohlgeformter Schatten abzeichnete, der Juliana mehr als ähnelte. Ich lächelte. Sie würde es nie sehen.

Vor der Fensterreihe, mehrere Meter weiter, lehnte an der Bar (an der ich gestern Abend noch mit Smith und seinen Leuten getrunken hatte) Robert E. Howard. Unverkennbar mit dem leicht düster-melancholischen Blick und seinem Stetson, den er nicht einmal zum Sex abnahm – hatte meine Oma erzählt. Selbstmord beging er, hatte die offizielle Mitteilung gelautet. Hier durfte er weiter leben, wenn auch in eingeschränkter Form. Ich nickte ihm freundlich zu. Woodburn Harris studierte zwei der siebzig Seiten in den Händen – ein Brief, den mein Opa ihm einst schrieb. Die restlichen Blätter bedeckten seine Schuhe. Daneben hockte Paul Cook an seinem Schreibtisch. Auf der rechten Seite saßen an einem Spieltisch weitere Freunde von Opa, die er aus New York kannte. Sie nippten scheinbar an ihren Whiskygläsern oder hielten Karten in der Hand.

Auf einer Tafel neben dem Eingang jedes Raumes erhielt der Besucher Auskunft über die einzelnen Personen: persönliche Daten, Beruf, Familie – und in welcher Beziehung sie zu meinem Opa gestanden hatten.

In wenigen Tagen, am 20. August – dem Geburtstag meines Großvaters – sollte die Eröffnung des Lovecraftschen Vermächtnisses stattfinden.

Hier schien alles in Ordnung.

Ich wandte mich dem nächsten Raum zu und betrat das Familienzimmer. Als Erstes traf ich auf meine Uroma Sarah Susan Philips Lovecraft und meinen Uropa Winfield Scott Lovecraft, denen ich es auf ihrem eigenen Sofa bequem gemacht hatte. Ich betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Hatte sich ihre Miene verändert? Ich schüttelte den Kopf. Unmöglich! Ich musste mich irren.

Mein Ururgroßvater Whipple Van Buren Philips saß auf einem Schemel, zu beiden Seiten flankierten die Tanten meines Opas, bei denen er gelebt hatte: Lillian D. Clark und Annie E. Philipps Gamwell.

Abseits ruhte auf ihrem Lieblingssessel eine der schönsten Figuren dieses Kabinetts: Meine Oma, die nie von der Familie meine Opas akzeptiert worden war. Sie war eine liebenswerte Person gewesen und hatte die Fehden gegen sich nicht verdient.

Ich zog mir einen Hocker heran und setzte mich zu ihr. So hatten wir manche Abende verplaudert. Nachdem ich ihr von meinem Tag erzählt hatte, verabschiedete ich mich und betrachtete kurz meine Eltern, die ebenfalls einen Platz in der Ahnenriege erhalten hatten, bevor ich in einen kleinen Nebenraum ging. Dort wartete eine einzige Figur, geschützt hinter gesichertem Panzerglas: Der Araber Abdul Alhazred. Seinen Turban hatte ich von einem gebürtigen Araber binden lassen, denn die Technik erwies sich als kompliziert. Mehrfach hatte ich mich bei meinen Erstversuchen verheddert und einen Wutanfall bekommen, bei dem ich Abdul die Haare ausgerissen hatte. Ich hatte sie nicht wieder in die Kopfhaut einknüpfen lassen; unter dem Turban sah sie eh niemand. Der buschige Bart umrahmte sein Gesicht von einer Schläfe zur nächsten. Nur wer genau hinsah, erkannte die Ähnlichkeit. Abdul saß an einem runden, massiven Holztisch, vor ihm aufgeschlagen lag das Necronomicon. Niemand besaß das Original – bis auf Sonia Greene, die es mir mit den Worten vermacht hatte: »Abdul Alhazred war niemand Anderer als dein Großvater selbst. Dahinter verbarg sich sein dunkles Ich. Hätte er seine Gedanken nicht aufschreiben können, wäre er verrückt geworden.«

Wenn sie von Abdul sprach, schaute sie mir niemals in die Augen. Sie hatte sich vor dieser Seite ihres Geliebten gefürchtet.

Nun befand sich das Necronomicon – der Schlüssel zu den zahlreichen Formeln, die sich aus den Zwischenräumen der Zeilen seiner Bücher ergaben – in meinem Besitz. Abdul las natürlich aus einer von mir eigenhändig angefertigten Kopie. Das Original benötigte ich selbst.

Mein Weg führte eine steile Wendeltreppe zehn Meter hinunter in ein Gewölbe. Das künstliche Licht der Lampen reichte nicht weit, doch schon während des Abstiegs sandten die Wände einen bläulichen Glanz aus und erhellten die Katakomben. Nur diejenigen, die ein Gefühl für Lovecrafts Fähigkeiten besaßen, ahnten, dass sie am Ende der Treppe K´n-Yan erreichten, das Höhlensystem am nordamerikanischen Kontinent. Niemandem zuvor war es gelungen, die Besucher eines Museums innerhalb des Rundgangs in eine neue Umgebung zu teleportieren. Mein Opa hatte eine Theorie entwickelt. Ich habe sie umgesetzt und wusste, dass nur hier an dieser Stelle – in Arkham und in diesem Haus – die Teleportation möglich sein konnte. Millionen werden herkommen, um dies zu erleben.

Einige meiner Testpersonen kehrten mit Nasenbluten und geplatzten Äderchen zurück, nur wenige blieben verschwunden. Aber dieses Risiko erschien mir tragbar.

Das Höhlensystem habe ich, entgegen dem Ansinnen meines Großvaters, für all seine erschaffenen Kreaturen verwendet. Der Besucher traf auf Cthulhu, Nyarlathotep, Tsathoggua, auf all die Großen Alten und wunderbaren Gottheiten, die den Welten meines Opas Leben eingehaucht und es wieder genommen hatten. Ich schuf das einmalige Erlebnis, die Charaktere eines Weltklasseautors zu treffen.

In einem Gewölbe wimmelte es von Sternengezücht, das äußerlich dem Tentakelgesichtigen Cthulhu ähnelte.

Hinter nachträglich eingebauten Glaswänden in einem langen Tunnel schlängelten sich die Tiefen Wesen auf dem künstlich angelegten Meeresgrund. Ich hatte sie nicht präpariert, sondern ihre amphibische Natürlichkeit hinter Glas gesperrt.

In riesigen Glaskästen, aufgespießt wie Schmetterlinge, befanden sich die Mi-Go, ebenfalls menschengroße Kreaturen, mit mehreren Gliedmaßen und Flügeln einer Fledermaus gleich.

Auch bei den in einem überdimensionalen Terrarium zur Säule erstarrten Schlangenmenschen erschien alles in Ordnung. Daher schritt ich mehrere Steinstufen tiefer und durch einen schmalen Höhleneingang. Dort lag nicht nur das wahre Necronomicon, es wartete auch jemand auf mich, den ich vor gut einem Jahr heraufbeschworen hatte.

Der mit einem Tisch und einem Hocker spärlich eingerichtete Raum pulsierte unter der Macht des Wesens. Die Luft knisterte und roch nach Ozon und Schwefel. Obwohl es nicht aus der Hölle stammte, gehörte das Wesen nicht zu den himmlischen Gottheiten. Auch hier schimmerte das bläuliche Licht, sodass sich eine Kerze oder eine künstliche Lampe als unnötig erwies.

Die Atmosphäre waberte, als herrschte tropische Hitze, tatsächlich jedoch bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen, da die Temperatur um die Null Grad lag. Ich verbeugte mich und bewies meine Untergebenheit. Als ich aufblickte, hatte sich der Raum verändert, das Wabern konzentrierte sich nun auf eine einzige Stelle, die vom Boden bis zur rund zwei Meter hohen, abgerundeten Gewölbedecke reichte. Tausende von schimmernden Kugeln in den unterschiedlichsten Größen und Farbnuancen tanzten vor mir und formierten sich zu einer Gestalt, die sich jedoch so schnell wieder veränderte, dass mein Gehirn nicht in der Lage war, die Form zu erfassen. Als ich das erste Mal auf Yog-Sothoth traf, war ich in ein Koma gefallen, in dem ich glaubte, die Kreaturen meines Opas rächten sich vorab für meinen ausgeheckten Plan. Dabei erschien mir Rache auch heute noch fehl am Platz. Wie sonst hätte ich ein solch wunderbares Denkmal ihres eigenen Erschaffers realisieren können? Aber es handelte sich eben nur um Wesen, deren Denkweise sich meiner nicht anzuschließen vermochte.

Die für das menschliche Auge nicht erfassbaren Einwohner des Höhlensystems hatten mich gefoltert, sie hatten mir meinen Willen geraubt, mich per Telepathie in die Waagerechte befördert, als läge ich auf einer unsichtbaren Rutsche, und mich durch die Katakomben gejagt. Es hatte sich schlimmer angefühlt als jede Achterbahnfahrt – schon beim Anblick einer solch komplexen Konstruktion mit all den Kurven, Abzweigungen und Windungen hatte ich Übelkeit verspürt.

Furchtbar hatten sich die Zwischenstopps vor jeder Kreatur gestaltet, die ich in den Höhlen zur Schau zu stellen beabsichtigte und die ihre Kräfte mental oder körperlich an mir ausprobiert hatten.

Als ich aus der Trance erwacht war, hatte ich Schmerzen verspürt. Überall. Mein Körper war übersät mit blauen Flecken. Mein Hals hatte zahlreiche rote Striemen aufgewiesen, die von den Tentakeln des Cthulhu stammten, und ich hatte Wachsreste auf meiner Haut entdeckt, die zudem stellenweise Verbrennungen aufgewiesen hatte. Doch selbst die Albträume, die mich in jeder Nacht heimgesucht hatten, lenkten mich nicht von meinem Vorhaben ab. Jeden Tag kehrte ich hierher zurück und trotzte der Macht des Yog-Sothoth. Schon vor Monaten hatte sie keine negativen Einflüsse mehr auf mich ausgeübt und ich konnte mir die Eigenschaften dieses Äußeren Gottes zu eigen machen. Schmiegte ich mich in seine schimmernde Kugelform, geriet ich in Ekstase und fühlte mich zugleich von Todesangst gebeutelt. Willensstark gelang es mir, an den Ort zu denken, zu dem ich gelangen musste, um meine Aufgabe zu vollenden. Yog-Sothoth – der Wächter der Zeitreise – brachte mich überall hin. Niemals kehrte ich allein zurück.

Meinen Großvater besuchte ich zunächst zu spät, sein Körper sah ausgemergelt aus – nicht geeignet für das einzigartige Lovecraftsche Vermächtnis. Ich musste ihn früher aus seiner realen Welt entführen. Es gelang mir, ihn zu überzeugen, überlappten sich doch unsere Gedanken. Problemlos brachte ich ihn in die von ihm selbst erfundene Welt. Beim Anblick Yog-Sothoths schrie er, bis er dem wahren Wahnsinn verfiel. Doch ich wusste, er war mir zu Dank verpflichtet, denn so hatte ich ihm erspart, qualvoll an Darmkrebs zu sterben.

Meine Eltern musste ich betäuben, meine Urgroßeltern und Großtanten hatte ich getötet. Sie hatten es nicht anders verdient. Waren sie es doch gewesen, die meine Oma verstoßen und mich meines Opas beraubt hatten. Diese Vier präparierte ich nicht nur von innen, sondern auch von außen, denn der Verwesungsgeruch lockte Ungeziefer an, die ich den Besuchern nicht zumuten wollte.

Die Lovecraftschen Wesen in die Katakomben zu entführen und nach Arkham zu bringen, erwies sich als leicht. Ich bediente mich einfacher Netze. Ihre Fähigkeiten konnten mir, da ich Yog-Sothoths Gedanken und Mächte durchlebt hatte, nichts mehr anhaben.

Robert E. Howard weigerte sich zunächst und versuchte sich umzubringen, doch ich startete eine neue Reise und rettete ihn, bevor er starb. All meine Ausstellungsstücke bearbeitete ich sorgfältig, indem ich ihnen ein lähmendes Gemisch unter die Haut spritzte, so lebten sie ewig, sofern sie nicht schon tot waren. Sie sollten alles miterleben: die Bewunderung der Gäste, die Begeisterung über das Werk ihres Freundes, ihres Sohnes oder Erfinders. Welche Ehre! Die Mixtur hatte mein Großvater erfunden, ich optimierte sie basierend auf seinen Aufzeichnungen und meinem Genie.

Welch wunderbare Schöpfung, sich selbst ein Andenken zu setzen. Nirgends lebten realere Figuren als in meinem Kabinett.

Dem Lovecraftschen Vermächtnis und der Eröffnung des Wachsfigurenkabinetts stand nun nichts mehr im Wege – außer mir selbst.

 

 

Ein halbes Jahr später

 

»Hey. Der Typ sieht aus, als hätte er den Wahnsinn persönlich betrachtet. Ist das schaurig!«

»Logisch, der Typ war wahnsinnig, wie sonst hätte er solche verrückten Geschichten schreiben können?!«

Dean nahm Susan bei der Hand und zog sie an dem Raum mit Lovecrafts Freunden vorbei in den Familiensaal.

»Ich finde, die Gesichter sehen furchtbar verfallen aus. Kümmert sich keiner hier drum?«, fragte Susan.

»Hast du jemanden gesehen oder Eintritt gezahlt?«

Susan zuckte mit den Achseln. Sie entfernte sich ein Stück von ihrem Freund. »Schau mal, der sieht noch gut aus, richtig zufrieden, im Gegensatz zu den Anderen, die aussehen, als wären sie gezwungen, hier zu sein.«

»Das ist Morgan Lovecraft, der Enkel«, erklärte Dean.

»Woher weißt du das?« Sie drehte sich zu Dean um, der am Eingang eine Tafel studierte.

»Das steht hier.«

Susan wandte sich wieder der toten Figur zu und schrie auf.

»Was ist los?« Dean eilte auf sie zu.

»Er hat sich verändert, da bin ich mir sicher. Er hat gelächelt.«

Dean nahm seine Freundin in die Arme und lachte. »Jaja, ist klar. Hey, das sind Wachsfiguren, die sind alle tot.«

»Komm, lass uns in den anderen Räumen nachsehen. Wie bist du eigentlich auf dieses Arkham gestoßen?« Susan klammerte sich an Dean. Sie zitterte leicht.

»Mom hat mir davon erzählt. Sie hat gesagt, mein Vater wäre einer von ihnen gewesen. Er wäre des Nachts aus der Zukunft gekommen, hätte sie geschwängert und wäre wieder verschwunden.«

»Deine Mutter trinkt zu viel.«

»Ja, du hast Recht, aber dennoch sind wir hier.«

»Und der Name deines Vaters?«

»Den hat sie mir nie genannt.

Dean wirkte erleichtert, als Susan ihn auf den Araber Abdul Alhazred aufmerksam machte und somit von seinem Vater ablenkte.

»Das ist aber doch nicht das echte Necronomicon?«

»Nein, nein, das liegt unten.«

Erstaunt blickte Susan zu ihrem Freund auf. »Was?«

Voller Panik schrie sie auf und riss sich von Dean los, als sie den gleichen Wahnsinn in seiner Mimik erkannte, der nicht dem H.P. Lovecrafts glich, sondern dem seines Enkels.