Seelennahrung

(2002)

 

Das Licht einer Straßenlaterne spiegelte sich in ihren Augen. Ein Vogel kreischte erschrocken und flatterte aus seinem Versteck. Neugierig schaute sie ihm nach. Majestätisch streifte sie durch den Park. Angst verspürte sie keine. Sie war stark. Niemand konnte ihr etwas anhaben. Und selbst wenn, wäre der Tod ihre Erlösung. Erstarrt blieb sie stehen. Ein Eichhörnchen hangelte sich von Ast zu Ast. Ihre Muskeln waren angespannt. Sie überlegte, haderte mit sich und ihrem Handeln. Was war geschehen, dass sie sich hier befand, auf der Suche nach Beute, voller Gier danach, ihnen das Wichtigste zu rauben, das sie besaßen. Die Starre fiel von ihr ab, die Gedanken wurden mit der dicken Plane der Lust zugedeckt. Sie schlich weiter, so wie jedes Mal in den Neumondnächten.

Da stand er. An der Ecke eines kleinen Cafés. Er sah in die Nacht, träumte oder wartete auf sie.

Sie umgarnte ihn, bis er ihrem Charme nicht mehr standhalten konnte. Sie liebte den Geschmack der Küsse, die kreisenden Bewegungen nach ihrer Vereinigung und das Gefühl, wenn ihre Opfer ihr alles gaben. Freiwillig. Sie saugte es gierig auf. In ihren Ekstasen merkten ihre Opfer nichts, erst viel später, wenn sich der Herzschlag beruhigt hatte, spürten sie die Leere, die sich wie ein langsam zufrierender See in ihrem Körper verteilte. So wie sie selbst es erlebt hatte und seitdem ihrem Drang und ihrer Verwandlung nachgeben musste.

Seit dieser einen Nacht ähnelte sie einer graziösen Katze, mit langen roten Haaren, durch die sich weiße Strähnen schlängelten. Auf Fotos, die sie mit Wehmut betrachtete, trug sie schwarze Haare. Ihre einstigen blauen Augen waren nun grün. Früher war sie mollig, heute verführte sie mit einem schlanken, weiblichen Körper und anmutigen Bewegungen.

Er war ein Stück größer als sie gewesen. Seine Augen waren grün, so wie ihre jetzt. Seine Haare waren schwarz, so wie ihre es einst gewesen waren. Sie war ihm verfallen, vom ersten Tag an. Doch sie sträubte sich zunächst, ihm alles zu geben. Er umwarb sie, ließ nicht von ihr ab, bis sie sich ihm hingab. Nach der ersten gemeinsamen Nacht verschwand er ohne ein Wort, so wie sie heute keine Worte mehr verlor. Seitdem wandelte sie in den Nächten ruhelos umher, nicht auf der Suche nach ihm, sondern nach dem, was er ihr genommen hatte. Wie ein Vampir jagte sie nur in den Nächten des Neumondes nach Beute und saugte sie aus, wie eine Katze den Atem eines Kindes stahl.

Wenn sie ihre Opfer beraubt hatte, fühlte sie sich für die Nacht wie neu geboren, bis die Sonne die Nacht vertrieb. Dann übergab sie sich, würgte und spuckte alles aus, was nicht ihr gehörte. Dennoch konnte sie nicht anders. Wann würde der Kreislauf durchbrochen werden?

Gib mir meine Seele zurück, schrie sie in die kalte Nacht. Gib sie mir wieder. Doch er, der sie beraubte, hörte sie nicht, niemand hörte sie, denn ihre Schreie gingen in ein klägliches Mauen über.