Das Boulder Castle

Eine irische Liebesgeschichte

(1998)

 

Es ist etliche Jahre her, dass mir der alte Mann begegnete. Sein wahres Alter blieb unter seiner gegerbten und mit Falten durchzogenen Haut ein Geheimnis, so wie viele der Geschichten und Legenden geheimnisvoll waren, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hatte und die ich nun wiedergeben möchte.

 

Aber ich sollte mich zuerst vorstellen, bevor ich von einem Mann erzähle, dessen Namen ich nicht kenne und dessen Alter ich nicht zu schätzen vermag. Ich bin Pat Duggan, alleinstehend; natürlich hatte ich Frauen, wunderbare, schöne Frauen. Aber ich war nie verheiratet, denn die wahre Liebe habe ich nicht gefunden. 64 Jahre lang führte ich meinen Pub und bin nie weiter als bis zu den umliegenden Geschäften gekommen. Ich hatte nie das Bedürfnis zu verreisen, denn die fremden Besucher haben mich mit Neuigkeiten, Kuriositäten und Geschichten versorgt.

Nun läuft meine Lebensuhr ab. Mit 93 Jahren werden die Tage unendlich und werden kurzfristig in der Ewigkeit enden.

Viele sind vor mir gestorben, kaum jemand wird um mich trauern. Aber für die wenigen, die mich noch kennen und mit mir ein Ale getrunken haben, für die und ihre Kinder, schreibe ich die Geschichten auf, die mir der alte Mann bei seinen Besuchen erzählt hat.

 

Es war ein nebeliger, regnerischer Tag. Jeder Gast, der meinen Pub betrat, hinterließ eine nasse Fußspur. Gegen Abend öffnete sich die Tür und ein Mann trat herein. Es war das erste Mal, dass ich ihn traf. Ein Fremder. Und Fremde hatten oft einen Koffer voll Ärger dabei. Doch dieser Fremde war anders. Es war sein Blick, ein freundlicher, fast zärtlicher Ausdruck lag in seinen Augen. Zärtlich ist nicht das passende Wort für einen Mann, aber ein anderes will mir nicht richtig erscheinen.

Er setzte sich zu mir an die Bar, bat um einen Teller Suppe und fragte nach einem Zimmer.

Ich vermietete eine kleine Kammer an Reisende, die sich die Pensionen nicht leisten konnten. Diesen kärglich ausgestatteten Raum bot ich ihm an, während ich ihm eine warme Mahlzeit zubereitete.

Erst als er seinen Hunger gestillt hatte, sagte er mir, dass er kein Geld habe. Ich war nicht wütend, wie es sonst der Fall war und ich warf ihn auch nicht raus, wie ich es mit jedem anderen Gast gemacht hätte. Dieser alte Mann war anders, er war etwas Besonderes. Sein wettergegerbtes, runzeliges Gesicht wirkte, als hätte jemand mit einem scharfen Messer Tausende von Furchen in die Haut geritzt, um es als Landkarte und nicht als Antlitz betrachten zu können. Ein Gefühl bäumte sich wild in mir auf, dass das Gesicht des alten Mannes ein Märchenbuch sei, die Falten der Weg zu all den vielen Orten, die der Alte durchwandert hatte, um neue Geschichten zu hören.

Geschichten von Schlössern und Menschen, von Morden und Liebe, von Geheimnissen und Abenteuern. Die Augen des alten Mannes waren die Quelle – die Oase des Wissens; klar und blau und lebendig. Die Art, wie er um eine Mahlzeit bat, wie er seine Hände dabei bewegte, faszinierte mich. So, als erzählte er eine Geschichte damit. Wie schön wäre es gewesen, diese Hände zu beobachten, wenn der Mund des Mannes die dazu passenden, geheimnisvollen Worte preisgäbe?

Seine Kleidung war mit Dreck und Staub bedeckt und wies zahlreiche Risse und Löcher auf, die zerschlissenen Sachen wirkten nicht abstoßend, sondern schienen davon zu berichten, in welchen Ländern und Städten der alte Herr gewesen war. Und ich kann Ihnen sagen, es müssen eine Menge gewesen sein. Ich wollte davon hören, von diesen Erfahrungen und Erlebnissen. Dieser alte Mann entfachte eine Gier in mir. Ein längst gelöschtes Feuer von kindlichen Gefühlen entbrannte beim Anblick dieses Mannes, kräftig und zehrend, dass ich die Geschichten in mein Inneres aufnehmen und nie mehr vergessen wollte. Nur deshalb wies ich ihn nicht zur Tür, als er mir sagte, er habe kein Geld, sondern antwortete: »Dann bezahle in Geschichten. Eine fürs Schlafen und eine fürs Essen, zwei pro Tag.« Doch weil mich plötzlich eine Unsicherheit überkam, die ich bis heute nicht erklären kann, fügte ich hastig hinzu: »Du kannst doch Geschichten erzählen?«

Und als wäre die Sonne direkt über uns aufgegangen, erhellte sich das Gesicht des Alten. Die Augen glänzten noch frischer, und die Falten gruben sich tiefer in die Haut. Er grinste. Dann lachte er laut, ein tiefes Lachen, voller Würde. Er beruhigte sich schnell und verriet mir: »Wenn ich dir all die Geschichten erzählen soll, die ich kenne, wirst du niemals mehr das Zimmer an jemand anderen vermieten können, und du würdest darüber dein Leben lassen. Denn ich habe so vieles erlebt und gehört, dass ich drei Menschenleben über 80 Jahre hinweg täglich unterhalten könnte.«

Dann beugte er sich über den Tresen. Mit einer winzigen Flamme der Heiterkeit, die weit hinten in seinen Pupillen flackerte, flüsterte er: »Ich bin ein Geschichtenerzähler!«

Er hatte leise gesprochen, so leise, dass ich dachte, nur ich hätte diese letzten Worte hören können. Doch im Pub wurde es mit einem Schlag ruhig. Alle sahen zu dem alten Mann hinüber.

 

Ich sollte noch erwähnen, dass ich aus Irland stamme. Irland ist das Land der Geschichten, der Sagen und der Legenden. Die Moderne ließ die Geschichtenerzähler verstummen, sie nahmen ihre wundersamen und einzigartigen Erzählungen mit ins Grab, um den Toten die Langeweile zu vertreiben. So die Legenden. Nur deshalb verstummten die Gespräche, und nur aus diesem Grunde schien jeder Anwesende fieberhaft darauf zu warten, was der alte Mann als Nächstes sagen würde. Nach unzähligen, spannungsschwangeren Minuten enttäuschte er uns nicht: Er bezahlte. Jeden Tag, an dem er blieb. Und er blieb lange.

Jeden Tag erzählte er zwei Geschichten. Es kamen täglich neue Gäste, viele davon aus den Nachbarorten, nur um den Worten des Geschichtenerzählers zu lauschen. Die Einnahmen in dieser Zeit stiegen, und ich hätte mir ohne Verluste zwei oder drei Angestellte leisten können. Doch ich wusste, eines Tages würde uns der alte Mann verlassen. Und dann würde er mir sehr fehlen, nicht nur weil mir seine Geschichten ans Herz gewachsen waren, auch nicht, weil er mir in der Zeit ein Freund geworden war, sondern weil er dann seine Geheimnisse und die Menschen, die sie zu hören erhofften, mit sich nehmen würde. Deshalb sparte ich das Geld für die eintönige Zeit danach.

Wenn der Geschichtenerzähler seine Unterkunft und seine Mahlzeit bezahlte, brauchte ich weder in der Küche, noch hinter dem Tresen zu stehen, alle Gäste klebten mit den Augen an seinen Lippen oder folgten seinen runzeligen Händen, wenn er diese zum Ausführen mancher Geschichten benötigte. Niemand wollte dann essen oder trinken.

Es war eine wunderbare Zeit.

Als er uns nach einigen Monaten verließ, versprach ich ihm, dass ich seine Geschichten weitergeben würde. Und nun sitze ich hier, in meinem mit den Jahren herunter gekommenen Pub. Meine Kraft hat mich ein wenig verlassen, sodass ich mich nicht mehr um alles kümmern kann. Ich habe schon über Verkauf nachgedacht, aber in dem Fall würde ich auch mein Leben verkaufen, und schließlich habe ich noch eine Aufgabe zu erfüllen, die ich einem Freund versprochen habe.

Also sitze ich hier an dem Tisch, an dem ich früher gestanden habe, wenn ich dem alten Mann lauschte – der damals vermutlich schon älter war, als ich es heute bin. Ich schaue auf den Platz, an dem er gesessen hat, umringt von all den neugierigen Männern und Frauen, die seine Erzählungen hören wollten. Wenn ich die Augen schließe, erinnere ich mich an ihn: An sein mit Falten durchzogenes Gesicht, an die hellen, intelligenten, blauen Augen, an die verschrumpelten Hände, die staubige, zerlumpte Kleidung, und an die Stimme, diese warme, beruhigende Stimme, wenn er die atemberaubendsten, schrecklichsten, schaurigsten, bösartigsten und schönsten Geschichten erzählte. Beim bloßen Gedanken daran, spüre ich dieselbe Aufregung wie damals, als ich ihn zum ersten Mal sah: Den Geschichtenerzähler.

 

»Vielleicht kennen Sie den Ort, von dem ich erzählen werde. Sollte dem nicht so sein, dann rate ich Ihnen, es sich gut zu überlegen, ob sie ihn kennenlernen möchten – diesen geheimnisvollen, grausigen Ort. Heute entführe ich euch in ein Schloss, das Boulder Castle, und stelle euch zwei sich Liebende vor, die heute noch, nach über Hunderten von Jahren dort glücklich vereint miteinander leben.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Kein Mensch konnte so alt werden! Keiner, außer einem Geschichtenerzähler. Der alte Mann wartete ab, bis sich seine Zuhörer vom Staunen erholt hatten.

Mary O`Brien und John McCorthy heirateten am 30.11.1975 im Boulder-Castle. Sie gehörten zu den  glücklichsten Paaren, die ich vor ihrer Hochzeit kennen gelernt hatte. Das Castle suchten sie sich aus gutem Grund aus. Auf dem Schlosshof stand auf einem großen Felsen ein kleinerer – der Kindness Stone. Der Stein war von einer hohen Mauer umgeben, und konnte nur nach einer Kletterpartie erreicht werden. So manch einer war dabei schon zu Tode gestürzt. Die Mauer, so wird erzählt, sollte den Stein vor Souvenirsammlern schützen, denn um den Kindness Stone ranken sich zahlreiche Legenden. Er verleiht ewige Liebe und Freundschaft, so die schönste dieser Legenden. Aber nur den beiden Liebenden, die gemeinsam das kalte Gestein küssen. Mit dieser romantischen Legende wollten John und Mary ihre Ehe beginnen, und als sie herausfanden, dass das Boulder – Castle vor vielen Jahren die McCorthy-Burg hieß, sahen sie darin – verliebt, wie sie waren – die richtige Entscheidung, das Schloss zu mieten. John verfügte über ausreichende finanzielle Mittel.

Er ließ eines der Zimmer herrichten, das noch nicht eingestürzt war, staffierte es mit Blumen, einem wunderschönen Bett und Stoffen aus. Der Raum wirkte wie vor Hunderten von Jahren, für eine Prinzessin – seine Liebste – gemacht.

Da die beiden keine Familie hatten und auch der Freundeskreis klein war, heirateten sie in aller Stille vor einem ortsansässigen Pfarrer. Es war eine der schönsten Zeremonien. Sie gaben sich das Ja-Wort am Fuße des Kindness Stones und küssten, nach einer Kletterpartie, erst das kalte Gestein, dann die warmen Lippen des Anderen. Sie liebten sich sehr. Aber wie das mit der Liebe ist, den Schlössern und den Geschichten – die Liebe geht oft seltsame Wege.

 

In ihrer Hochzeitsnacht liebten sie sich in dem romantischen Himmelbett. Aus diesem Akt der Liebe sollte neun Monate später ein Baby geboren werden. Doch bis dahin würde sich Mary fürchten müssen und viele Tränen vergießen.

Am nächsten Morgen war John verschwunden. Mary rief nach ihrem Liebsten, lauter und lauter, bis sein Name von den hohen Wänden zurückhallte. Sie fror, eine eisige Kälte breitete sich im Zimmer aus, als hätte jemand ein Fenster geöffnet. Doch der Raum war fensterlos und im Kamin flackerte ein Feuer. Nur zu Mary drang es nicht vor. Sie fürchtete sich. Zitternd zog sie die Decke höher, als sich  die eiserne Klinke der schweren Holztür bewegte. Dann erkannte sie den Eindringling und lächelte erleichtert. Die Kälte schien schlagartig verschwunden. Sie ließ die Decke sinken. Mary gab einen makellosen Körper preis und John, der ein Tablett mit Brötchen, Saft und Kaffee ins Zimmer trug, vergaß das Frühstück. Einige Zeit später, der Kaffee war längst kalt, saßen sie aneinander geschmiegt im Bett und knabberten an einem Brötchen. Hunger hatten sie beide kaum.

»Warum hast du eben so laut geschrien?«, fragte John.

Keck fragte sie zurück: »Was meinst du mit eben?«

John räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: »Als ich das Frühstück geholt habe.«

»Du warst weg, es war so kalt und ich hatte Angst. Es war ein seltsames Gefühl.«

»Das alte Gemäuer, die hohen Wände, draußen Winter. Das Feuer im Kamin habe ich erst angezündet, bevor ich in die Stadt gefahren bin, um Brötchen zu holen. Mach dir keine Sorgen. Hier ist alles in Ordnung.«

Beleidigt verschränkte Mary ihre Arme über der Brust. »Es war nicht kalt wegen des Gemäuers oder weil es draußen kalt war. Es fühlte sich unnatürlich an. Aber du verstehst mich ja eh nicht.«

»Komm her. Ich wärme dich.« Mary ziemte sich noch ein bisschen, doch dann konnte sie den Verführungen ihres Mannes nicht wiederstehen.

Nach einer Weile trennten sich die beiden frisch Vermählten voneinander und verließen das gemeinsame nächtliche Lager. Sie wuschen sich mit einer Schüssel heißem Wasser, das sie auf einem Campingkocher erwärmt hatten, kleideten sich an und gingen auf Entdeckungsreise.

»Ich habe noch ein Geschenk für dich!«, flüsterte John.

»Du hast mir doch schon genug Geschenke gemacht, Liebster!«

»Es sollte aber noch etwas Besonderes für dich sein.«

»Du machst mich neugierig. Was ist es?«

»Erst einen Kuss.«

»Elender Erpresser!«

Sie lachte und küsste ihn auf den Mundwinkel, doch John forderte mehr. Mary erwiderte seine aufbrausende Zärtlichkeit. Außer Atem ließen sie voneinander und Mary wollte wissen: »Und? Was ist es?«

»Nun, wie gefällt es dir hier?«

»Wie meinst du das?«

»Gefällt dir das Schloss?«

»Natürlich, es ist toll. Geheimnisvoll, gruselig, romantisch. Warum?«

»Ich habe einen Teil gekauft.«

Für einen Moment war Mary sprachlos. Dann fühlte sie sich verraten und Wut wischte das Glück fort.

»Du hast einen Teil davon gekauft? Hätten wir das nicht gemeinsam besprechen müssen? Ich will hier nicht hin!«

Enttäuscht drehte sie sich weg und rannte den Weg zurück, den sie eben noch Hand in Hand gegangen waren.

»Baby, warte! Ich dachte, du würdest dich darüber freuen.«

»Freuen? Das ist wohl ein Scherz!«, rief sie zurück.

Sie weinte. Ärgerlich wischte sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht. John holte sie ein, packte sie am Oberarm und drehte sie zu sich. Sein Gesicht spiegelte eine Wut wider, die Mary bisher nicht an ihm gekannt hatte. Er drohte ihr mit der erhobenen Hand, doch er beruhigte sich, ballte seine Hände zu Fäusten und versteckte sie in den Hosentaschen. »Ich wollte dir damit eine Freude machen. Und du heulst hier rum. Weißt du, was das gekostet hat?«

»Nein, aber genau deshalb hättest du mich fragen können!«, schrie Mary ihn an. Sie rannte in den Garten hinaus.

Trotz der Kälte hatten sich Touristen eingefunden und betrachteten den Kindness-Stone. Erst gestern hatten sich John und Mary ewige Treue und Liebe geschworen; besiegelt mit dem Kuss der Liebe, in der Hoffnung und der absoluten Gewissheit, wie es nur frisch Verliebte oder Jungverheiratete besaßen, dass die Sage bei ihnen eintraf.

Mary weinte und ging zurück ins Zimmer. John saß auf dem Bett, hielt das Gesicht in den Händen versteckt. Als Mary hereinkam, sah er nicht auf. Bei dem Anblick milde gestimmt, trat Mary auf ihn zu, legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter und sagte beschwichtigend: »Du hast es gut gemeint, aber sieh, die Touristen, die hier herumlaufen. Sie werden uns stören. Nie wird der Garten für uns alleine sein. Immer werden uns neugierige Blicke verfolgen. Willst du das?«

John sah sie an. Und Mary erschrak. Seine Augen waren kalt, kälter als die winterliche Luft draußen, kälter noch als der alte Stein, den schon viele Menschen geküsst hatten. Der Ausdruck verschwand in wenigen Sekunden und Mary redete sich ein, sich dieses Gefühl nur eingebildet zu haben.

»Ich habe vier Zimmer und die Küche gekauft. Wir können alles umbauen, natürlich unter gewissen Vorschriften. Wir haben den Teil des Schlosses, in den keine Touristen kommen und in dem uns keine neugierigen Blicke stören werden. Aber wenn du nicht willst, bitte!«

John stand auf und packte einige Kleidungsstücke zusammen, die von der Nacht zuvor verstreut im Zimmer herumlagen.

Nervös kaute Mary an einem Fingernagel herum und beobachtete ratlos den Mann, den sie vor wenigen Stunden noch innig geliebt, mit dem sie sich vor ihrer Hochzeit nie gestritten hatte.

Sie ging auf John zu und versuchte ihn zu umarmen. Doch er wehrte sie ab und stopfte eine Socke in die Reisetasche.

»Was ist nur mit dir, John? – John! – Bitte sieh mich an.«

Mary wünschte sich im gleichen Augenblick, sie hätte nichts gesagt, denn als John sie ansah, war sein Blick wieder eisig. Sie fröstelte und schlang schützend ihre Arme um ihren Oberkörper.

Für einen Moment spürte sie Angst in ihrem Magen, gefolgt von der unnatürlichen Kälte, die sie schon am Morgen bemerkt hatte. Was war nur geschehen?

Sie ließ die Arme sinken und trat entschlossen einen Schritt auf John zu.

Was Mary nicht bemerkte: Die Kälte fraß sich langsam durch ihren Körper. Aber – und das war schlimmer – sie wusste nicht, was geschah, wenn sie es zuließe, dass sich ihr Inneres mit einem frostigen, toten Nebel überzog. Noch wusste sie es nicht.

Für einen Moment funkelten John und Mary sich gegenseitig kalt und böse an. Plötzlich hob John die rechte Hand und ohrfeigte Mary. Sie kämpfte nicht gegen ihn an, sondern zuckte erschrocken zurück und die boshafte Kälte glitt aus ihr heraus, wie ein Regenwurm aus seinem Loch.

Sie spürte wieder eine Wärme in sich. Doch nun konnte Mary ihre Tränen nicht zurück halten.

»Nun heulst du wieder! Mein Gott, wen habe ich da nur geheiratet!«, sagte John sarkastisch, während er seine restlichen Sachen in die Tasche packte.

»Du bist…«, begann Mary mit zittriger Stimme. »Du bist eisig, fremd, schau dich an, merkst du das nicht? Du bist nicht mehr du selbst. Los! Schau in einen Spiegel und sieh deine Augen an, sie versprühen Kälte. Das ist nicht der John, den ich geheiratet habe. Du nicht!« Sie drehte sich herum, griff im Vorbeigehen nach Jacke und Schal und eilte aus dem Schloss heraus. Weg von der geheimnisvollen Kälte, die sie selbst empfunden hatte, und die John ihr entgegen schleuderte.

Sie rannte in den frostigen Tag hinein, bis sie keine Luft mehr bekam und Seitenstiche sie quälten. Vor einem angrenzenden Wald drehte sie sich um und betrachtete das Schloss aus der Ferne. Sie erblickte einen Teil des Steins, der verlassen emporragte und weitere Verliebte ins Unglück stürzen wollte. Was war nur geschehen? Sie harrte mehr als eine Stunde in der Kälte aus. Aber John suchte sie nicht. Traurig und allein ging Mary schließlich zurück. Sie wählte jedoch den direkten Weg zum Kindness Stone. Dort hatte alles begonnen.

Vorsichtig kletterte sie an dem glatten Gestein empor. Sie stöhnte vor Anstrengung. Leise flüsterte sie vor sich hin: »Wie habe ich das gestern nur mit dem langen Kleid geschafft?«

Schließlich stand sie an der zerfallenen Mauer, die noch einen Teil des Kindness Stones einzäunte. Sie legte die Hand auf die geschichteten Steinreste. Mit einem Mal durchzuckte sie ein wohliger, angenehmer Schauer. Überrascht zog sie ihre Hand zurück. Mit der anderen rieb sie die Finger, als hätte sie ein elektrischer Schlag getroffen. Nervös schaute sie sich um, aber es war niemand zu sehen. John schien nicht nach ihr zu suchen. Das enttäuschte sie sehr.

Bevor sie das Schloss betreten hatten, war ihr Leben harmonisch und glücklich gewesen, doch dieses alte Anwesen hatte alles zunichtegemacht. Warum? Was war seit gestern nur geschehen? Mary konnte an nichts anderes denken, doch eine Antwort fand sie nicht.

Sie verspürte Wut. Wut, die durch Enttäuschung entstand. Sie schimpfte auf den Kindness Stone, der keine Liebe schenkte. »Nur Lüge! Alles nur Lüge!«, rief sie und schlug mit der Faust gegen den  Fels. Dorthin, wo sie gestern noch einen flüchtigen Kuss hinterlassen hatte. Ein Schmerz fuhr durch ihre Hand. Ärgerlich rieb sie die pochende Stelle.

Mary kletterte von dem Stein herunter und schlich leise ins Schloss zurück. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, wenn sie in der Nähe des Felsens war. Im Gegenteil: Eine immer wiederkehrende Wut stieg in ihr auf, die sie nicht zu verdrängen wusste. Leise bewegte Mary sich durch die Räume. Nirgends konnte sie etwas entdecken, auch John war nicht aufzufinden. War er abgereist? Oder beobachtete er sie aus einem versteckten Winkel? Bei dem Gedanken blickte sie um sich. Sie fürchtete sich vor ihrem Ehemann, ihrem Geliebten. Gestern war er das noch gewesen. Heute schien er ein anderer zu sein. Sie durchforschte die Räume. In einer kleinen, verwinkelten Kammer entdeckte sie einen gelben, ausgebleichten, zerschlissenen Vorhang. Sie verspürte Angst und ihr Herz klopfte schnell. Was verbarg sich dahinter? John, der Kälte und Wut an ihr auslassen wollte? Ein Sarg? Oder etwas anderes Gruseliges, Mysteriöses, was in dieses Schloss passen würde? Zögernd ging sie auf den Vorhang zu. Sie lauschte. Es war totenstill. Nur Marys Herzschlag drang laut und aufdringlich an ihre Ohren. Für einen kurzen Moment hielt sie den Atem an und war von der Panik befallen, jemand stünde hinter ihr, einen Dolch in der Hand, eine Axt, ein Gewehr. Sie drehte sie ruckartig um, doch da war niemand.

Sie beruhigte sich, summte ein Lied vor sich hin und zog den Vorhang zurück.

 

An dieser Stelle zog der Geschichtenerzähler einen imaginären Vorhang zur Seite. Alle Köpfe schnellten mit weit aufgerissenen Augen neugierig ein Stück vor, als wollten sie sehen, was sich dahinter befand. Die Gäste erkannten natürlich nichts. Aber ihre neugierigen Blicke ließen darauf schließen, dass sich ihre Ungeduld schier ins Unerträgliche steigerte. Der alte Mann schien diese besonderen Augenblicke, in denen seine Zuhörer ihn vor Begierde mit Blicken verschlangen, zu genießen.

Die Augen der Zuhörer klebten an der Stelle, an der der alte Mann den Vorhang geöffnet hatte. Dann erzählte er endlich weiter.

 

Hinter dem Vorhang befand sich eine nach unten führende Treppe. Nur die ersten Stufen konnte Mary erblicken. Der untere Teil war in Dunkelheit gehüllt. Wieder schaute sie hinter sich. Sie war allein. Die Neugier siegte. Zitternd legte sie eine Hand auf das alte, eiserne und verschnörkelte Geländer. Sie hatte damit gerechnet, dass es kalt und rau sein würde. Doch es war angenehm warm und glatt. Während sie langsam eine Stufe nach der anderen tiefer in das Dunkel trat, strömte Wärme durch ihre Finger und vertrieb die innere Kälte.

Weiter und weiter stieg sie die Stufen hinab. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, trotzdem hätte sie beinahe das Ende der Treppe übersehen. Sie stolperte, konnte sich aber noch vor einem Sturz fangen und hielt sich am Geländer fest. Tastend bewegte sie sich an der Wand entlang. Wieso hatte sie auch keine Kerze oder Taschenlampe mitgenommen. Sie schimpfte mit sich und hoffte, einen Lichtschalter zu finden Sie erkannte Möbelstücke, die sich in grauen Schemen abzeichneten.

Alte, ausgediente Möbel? Oder vielleicht ein Gästezimmer für unerwünschte Gäste?

Sie dachte an John, daran, wo er stecken mochte, was er machte und ob es ihm gut ging. Noch während sie ihren traurigen Gedanken nachhing, stieß sie einen spitzen, erschrockenen Schrei aus. Ihre Hände hatten nicht mehr das kalte Gestein berührt, sondern eine andere Oberfläche. Mary beruhigte sich wieder und tastete nun die Veränderung in der Wand ab. Sie fühlte raues, unebenes Holz und eine Klinke, die sie nach unten drückte. Es knarrte, doch die Tür ging nicht auf. Mary versuchte es noch einmal, stemmte sich gegen das Holz, und mit einem lauten Knarren schwang die Tür auf.

Für einen Moment blieb sie überrascht stehen. Dann stieg sie vorsichtig drei Stufen hinab und staunte erneut über die Einrichtung dieses Raumes, der mit zahlreichen, hell erleuchteten Fackeln versehen war, die ausreichend Licht spendeten. Hier musste ein Teil der Bibliothek gewesen sein. Ringsherum standen Regale, bestückt mit Büchern, deren Geschichten von dicken Ledereinbänden geschützt wurden.

Woher kamen diese Fackeln? Wer hatte sie entzündet? Irgendwer musste hier sein. Sie fröstelte. Langsam ging sie tiefer in den Raum hinein. Dann vernahm sie eine Stimme.

»Bitte geh nicht weiter, schöne Frau, du würdest dich nur erschrecken. Ich hause schon so lange hier unten, dass mein Anblick deines Blickes nicht würdig ist.«

Die Stimme klang nicht unangenehm, alt und krächzend hätte sie auch von einem alten Papagei stammen können. Doch es war eine Frau, die zu Mary sprach.

»Wo sind Sie?«

»Das ist nicht wichtig. Interessanter ist es doch, was du hier unten machst. Du bist Mary, nicht wahr?«

»Woher weißt du das?«

»Das hat mir jemand geflüstert!«, krächzte die Alte aus der dunklen Ecke.

Wieder fror Mary und sie wünschte sich, John wäre bei ihr. Zumindest der John, der er war, bevor sie geheiratet hatten.

»Setz dich hin, Mädchen, dann werde ich dir sagen, was du hören möchtest!«

Mary schaute sich im Halbdunkel um, ging ein paar Schritte zurück und setzte sich auf einen alten Tisch. Mary wusste nicht, was diese Frau ihr sagen wollte. Sie wusste nichts mehr, seit John verschwunden war.

»Gut so«, hörte sie die Stimme sagen. »Nun hör zu, ich rede bis meine Stimme versagt, denn sie ist an lange Erzählungen nicht mehr gewöhnt.«

Mary nickte und starrte mit großen Augen in die Dunkelheit, in der sie die geheimnisvolle Frau vermutete.

»Du bist gekommen, um eine Antwort zu erhalten, eine Antwort darauf, warum sich dein Gatte so veränderte.« Die Alte schwieg einen Moment und schmatzte laut, als müsste sie ihre Lippen befeuchten.

»Das Geheimnis liegt in der Burg. Vor vielen hundert Jahren regierte hier eine liebe, friedliche Familie, die Galligans. Sie waren sehr beliebt, weil sie gut und menschlich waren. Niemand hungerte oder litt unter ihrer Macht. Es herrschte Frieden. Besonders taten sich die jungen Galligans hervor. Der junge Sohn David und seine Frau Sahira. Sie war eine bezaubernde Maid aus dem Volke. Dies störte weiter niemanden, schließlich war es die Liebe, die beide miteinander verband. Ein Band, welches so stark gewesen sein muss wie Stahl, doch so zärtlich wie eine Feder. Ihre Hochzeit wurde, wie deine, am Fuße des Kindness Stones abgehalten. Dies war für sie ein Ort der Ruhe und Freundschaft. Sie lernten sich dort kennen und lieben und sie küssten sich dort das erste Mal. Es war nicht so romantisch, wie es klingt. Denn die Zwei wollten den damals noch nicht eingezäunten Felsen erklimmen. Das gelang ihnen. Sie beugten sich beide vor, weil sie sich ihren ersten Kuss geben wollten, doch plötzlich rutschte Sahira aus. David verlor das Gleichgewicht und ihre Lippen, vorbereitet auf einen zärtlichen Kuss, fanden nur den kalten Stein. Doch es geschah ihnen nichts und sie lachten über dieses Missgeschick und ihre klopfenden Herzen. Dann küssten sie sich und es war ein langer, liebender und wärmender Kuss, der die Blüten eines Kirschbaumes zum Erblühen hätte bringen können.

Eines Tages kam Unglück über diese Burg und die hier lebende Familie. Die McCorthys –«

Mary atmete lautstark ein.

»Die McCorthys waren habgierig und böse. Sie hatten bereits Burgen erobert ohne auf Verluste zu achten. Sie töteten und nahmen sich das, was sie wollten. Ob sie es benötigten, interessierte sie nicht. Die Burg der Galligans sollte die nächste sein. Sie töteten alle, die auf dieser Burg lebten, außer Sahira. Der Anführer tötete ihren Geliebten vor ihren Augen und erfreute sich an ihren Schreien. Seit diesem Tage hieß die Galligans-Burg nach ihren Eroberern, den McCorthys, bis vor einigen Jahrzehnten ein gütiger Mann kam und der Burg einen freundlichen Namen verlieh. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die McCorthys lebten nicht dort, es ging ihnen lediglich um den Besitz, um den Reichtum.

Sahira war zu schwach, um Rache zu üben, denn sie war allein und zu sehr in ihre Trauer gehüllt. Viele Wochen lebte sie einsam auf der Burg, strich durch die Räume, und am Ende ihres Rundganges gelangte sie jedes Mal in einen Saal, in dem sie mit aller Kraft die Toten aufgeschichtet hatte, um ihnen  die letzte Ehre zu geben. Dort küsste sie immer wieder ihren geliebten Mann. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als tot neben ihm liegen zu dürfen. Eines Tages fasste sie den Entschluss. Sie zog ihr Hochzeitskleid an und kletterte auf den Kindness Stone. Der Stein ist nicht hoch genug, dass sich ein Mensch zu Tode stürzen könnte, doch Sahira´s Herz war schon gestorben und lag zusammen mit ihrem Gatten in dem großen Leichensaal. Und so zerschellte nur ihre Hülle am Boden. Bevor sie sprang, schrie sie laut und von Schmerz gepeinigt: »Über den Tod hinaus will ich mit dir leben, David!«

Dann fiel sie und alle Menschen im Dorf spürten die Trauer, die sich über das Land senkte.

Als Sahira nach ihrem Sturz erwachte, fühlte sie Wärme und Glück. Dort stand er neben ihr... ihr Geliebter, ihr David. Du glaubst es nicht, ich merke es an deiner Nasenspitze. Aber so war es. Er hatte auf sie gewartet und nun waren sie wieder vereint und sie schworen sich, die Burg niemals mehr zu verlassen. Das haben sie auch nicht. Dafür haben sie ihre Mauern bewacht. Erst als ihr diese Schwellen überschritten habt, schworen sie Rache, denn dein Mann ist ein Nachkomme der bösen McCorthys. Es liegt ihm im Blut. Er ist böse.«

»Nein, das ist nicht wahr!«, rief Mary und sprang auf.

»Ich verstehe dich. Aber erinnere dich. Nach der Hochzeitsnacht verwandeln sie sich in menschliche Monster.«

Mary schüttelte den Kopf und widersprach erneut: »Nein, das will ich nicht glauben.«

»Du hast die Kälte und den Hass gespürt – heute morgen und bei eurem Streit. Erinnere dich, mein Kind. Du hast dagegen angekämpft. Dein Herz ist zu rein und zu gutmütig. In deinen Adern fließt keine Gewalt, selbst gegen die höheren Mächte bist du stark. Doch gegen die Boshaftigkeit von John wirst du nie stark genug sein. Glaube es mir.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Das können dir nur die Geister sagen!«

»Und die Wärme, die ich am Stein gefühlt habe, was war das?«

»Die Energie des Steins.«

»Es klingt furchtbar und geheimnisvoll. Und es ist schlimm, was geschehen ist. Aber warum ich, warum John? Ich verstehe das nicht.«

»Mit der Zeit wirst du es verstehen, glaube mir. Mit der Zeit...«

»Ich kann dich nicht sehen und weiß nicht, wer du bist. Warum sollte ich dir glauben?«

»Du spürst, dass ich recht habe.«

Tränen des Verlustes rannen über Marys Augen. Sie würde John nie wieder sehen, nie wieder so, wie er mal war. Nie würde sie wie Sahira und David bis in alle Ewigkeit mit ihrem Liebsten leben können, denn für sie gab es keinen Liebsten mehr.

»Nun geh«, hörte sie die alte Stimme sagen. »Ich bin müde. Geh, nimm deine Sachen und pass gut auf dich und das Baby in deinem Leibe auf. Nenne es nicht McCorthy, gib ihm deinen Mädchennamen und deine positive Stärke.«

»Baby?«, flüsterte Mary und legte eine Hand auf ihren noch flachen Bauch.

Doch sie bekam keine Antwort mehr.

 

Sie packte ihre Sachen und reiste ab. Monatelang trauerte sie um ihre Liebe, doch sie hielt durch: Für ihr Kind, das unter ihrem Herzen ruhte. Ihm wollte sie all das geben, zu dem John am Ende nicht mehr in der Lage gewesen war: Gefühl und Liebe.

Sie kehrte nie wieder in das Schloss zurück, noch oft dachte sie an die alte Stimme im Dunklen, an die beiden Liebenden, die Jahrhunderte gemeinsam dort spukten und heute noch dort wandelten. Eine Liebe, die es nur selten gab!

 

»Hier endet nun meine heutige Geschichte«, sagte der Geschichtenerzähler. Und wie jedes Mal verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum und zog sich in seine kleine Kammer zurück. Danach wurde stets viel getrunken und diskutiert. Ich lächelte dann vor mich hin. Nicht wegen des Gewinns, sondern wegen der Magie, die der alte Geschichtenerzähler über die Gäste verstreute.

 

Hier möchte auch ich nun enden, denn ich bin müde. Meine verknöcherten Finger schmerzen und ich brauche ein wenig Schlaf.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe, vielleicht finden wir uns morgen wieder hier ein und ich erzähle Ihnen eine neue Geschichte, die mir der alte Herr in meinem Pub hinterlassen hat.