Telefonkontakt

(1995)

 

Maren versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder schaute sie auf die Uhr, die über dem Fernseher hing. Steve müsste längst da sein. Sie waren für halb sieben verabredet gewesen, jetzt war es zehn nach acht. Hoffentlich war nichts geschehen. In ihrer Fantasie stellte sie sich ihren Freund blutverschmiert am Straßenrand vor, überfahren von einem rasenden LKW, erschossen von einer Horde Wahnsinniger, erschlagen von einem Stein, der von einer Brücke geworfen worden war; er könnte mit dem Auto in Flammen aufgegangen sein, vom Zug überrollt oder in einen Fluss gefahren und bitterlich ertrunken sein. Die Angst schnürte ihre Kehle zu und ließ ihren Blick verschwimmen. Sie hatte Angst, Steve zu verlieren.

Plötzlich ließ das Klingeln ihres Handys Marens Herz so heftig schlagen, dass es lauter zu sein schien als der Aufprall des Buches, welches ihr vor Schreck vom Schoß gerutscht war.

Das Gerät lag direkt neben ihr auf der Couch. Sie griff danach, stellte den Kontakt her und meldete sich mit zittriger Stimme und fragendem Ton, als hätte sie ihren eigenen Nachnamen vergessen: »Simon?!«

»Maren!«

Es war Steve. Imaginäre Lawinen rollten von Marens Seele und hinterließen pure Erleichterung. Ihm war nichts geschehen, er lebte.

Er lebte!

»Maren, ich hatte einen Unfall!«

Die Steine der Lawine kullerten schwerfällig wieder bergauf.

»Geht es dir gut? Wo bist du?«

»Es ist alles Okay, mir ist nichts passiert. Das Auto ist Schrott, aber ich bin heil rausgekommen. Weiß auch nicht, wie ich das geschafft habe.«

»Wie ist das passiert?« Maren war beruhigt. Steve ging es gut, das Auto war ihr egal.

»Mich hat ein LKW abgedrängt, ich bin durch die Leitplanke eine Böschung runter. Der Wagen hat sich überschlagen und – ich weiß nicht mehr. Vielleicht war ich auch einen Moment ohnmächtig.«

»Und dir geht es wirklich gut?«

»Ja, es ist alles noch dran.«

»Soll ich kommen und dich abholen? Was ist mit dem Wagen? Hast du die Polizei verständigt?«

»Das habe ich versucht, aber dort erreiche ich keinen.«

»Wie? Dort erreichst du keinen?

»Nein. Es ertönt nur so ein merkwürdiger Piepston.«

»Wo bist du? Ich komm und hole dich!«

Steve erklärte Maren den Weg zur Unfallstelle, bat sie vorsichtig zu fahren und auf sich aufzupassen.

»Ich werd langsam fahren, keine Sorge. Steve?«

»Ja?«

»Ich liebe dich!«

»Ich dich auch!«

Auch wenn der jeweils Andere es nicht sah, spürten sie, dass sie sich gegenseitig anlächelten.

Maren raste in den Flur, schlüpfte in Schuhe und Jacke, steckte ihr Handy in die Jackentasche, griff nach Papieren, Geld und Schlüssel und machte sich auf den Weg zu Steve.

Der Vollmond begleitete sie und erhellte ihr die Straße, auf der nur wenig Verkehr herrschte. In zehn Minuten war sie an der Unfallstelle. Die Leitplanke war zerfetzt. Maren stellte den Motor ab und die Warnblinkanlage an. Vorsichtig stieg sie aus dem Wagen und ging zum Seitenstreifen, zu der Stelle, die der Wagen passiert haben musste.

Wo war Steve? Ein Windhauch durchwühlte ihre Haare und ließ die Blätter an den Bäumen leise zu ihr flüstern.

»Steve?«, rief sie. »Wo bist du?«

Die Nachtluft schien ihr den Hals abzudrücken. Der Wind pustete ihr eine nicht erklärbare Angst über den Körper. Sie fror.

Maren ging zur Beifahrertür ihres Wagens, öffnete sie und kramte in dem Ablagefach herum. Eine Taschenlampe blitzte im hellen Mondlicht auf.

Geführt von dem Lichtkegel der Taschenlampe und begleitet von Wind und Mondschein, machte Maren sich auf den Weg die Böschung hinunter.

Sie rief nach Steve, doch er antwortete nicht. Dann entdeckte sie den roten Wagen. 

»Oh, mein Gott!« Maren rannte, sprang über Baumwurzeln, einen alten Autoreifen, kickte beim Rennen leere Bierdosen zur Seite und betete, nicht hinzufallen.

Plötzlich stoppte sie ihren Lauf abrupt ab. Das Handy in ihrer Jacke klingelte. Zitternd und außer Atem nahm sie das Gespräch entgegen: »Ja?«

»Maren! Alles in Ordnung?«

»Steve! Gott sei Dank. Wo bist?«

»Ich war gerade ... Naja, du weißt schon!«

»... für kleine Jungs!«

»Ja. Ich komm jetzt zum Auto zurück. Bist du schon da?«, fragte Steve.

»Ja, ich stehe direkt daneben. Wie hast du es nur geschafft, da raus zu kommen?«

»Ich weiß es nicht. Muss wohl einen Engel bei mir gehabt haben. Dabei warst du doch zu Hause!«

Maren lächelte. Steve war der erste Mann, mit dem sie sich vorstellen konnte, alt zu werden. Ein halbes Jahr waren sie erst zusammen, doch es kam beiden vor, als wäre es eine Ewigkeit. Sie gehörten zusammen.

»Hey, Schatz! Wo bist du? Ich seh dich nirgends.«

»Ich steh direkt neben dem Autowrack. Hier, ich leuchte dir, wo immer du auch bist.« Maren schwenkte die Taschenlampe.

»Ich sehe dich nicht. Ich sehe auch keine Licht. Jetzt gehe ich um den Wagen herum. Kaum zu glauben, dass ich da lebend rausgekommen bin. Ich bin einmal rum. Maren. Ich sehe dich nicht!«

»Oh, Steve, hör auf mit dem Mist. Wo bist du?«

»Wo bist du

»Ich stehe direkt neben der Fahrertür!« Maren wurde langsam sauer.

»Aber ich auch!«

Sie ließen beide ihre Handys sinken, starrten in die vom Mondlicht erhellte Dunkelheit, drehten sich gemeinsam um die eigene Achse und dennoch sahen sie den Anderen nicht.

»Was bedeutet das?«, sagten beide gleichzeitig.

Maren begann plötzlich, hysterisch zu schluchzen.

»Schau doch, da ... du bist tot. Du bist tot!«

Sie zeigte auf einen gekrümmten, zerquetschten Körper im Inneren des Autowracks.

»Aber ich steh hier draußen, laufe um den Wagen herum.« Dann erkannte er sein eigenes Gesicht, das ihn aus toten Augen anstarrte. Und er sah sein Gesicht, das sich im Mondlicht in den Splittern der Glasscheibe widergespiegelte. Beide Gesichter waren eindeutig seines – das eine blutverschmiert, das andere leichenblass.

»Ich bin tot! Da. Und hier lebe ich?«, hauchte er in das Handy.

»Oh, mein Gott!«, schrie Maren. »Oh, mein Gott!« Sie sank auf den feuchten Waldboden, riss sich an den Haaren und weinte voller Verzweiflung.

»Bitte, Liebes. Hör auf, bitte. Ich bin doch da. Ich bin doch da.« Steve schluckte und wischte sich über das Gesicht. »Bitte, Maren, wir müssen... wir sind... wir brauchen... Oh, Scheiße! Lass uns reden. Die ganze Nacht lang, lass uns – solange wir noch dürfen – einfach miteinander reden, ja? Ich bin bei dir.«

»Ja.« Leise.

Und Steve erzählte. Sie redeten die Nacht hindurch, berichteten aus den Jahren, in denen sie noch nicht zusammen gewesen waren, auch wenn sie es sich schon erzählt hatten, erinnerten sich gemeinsam an ein gutes Essen, an einen Witz, eine lustige Fernsehsendung, einen spannenden Film; liebten sich in Gedanken ein letztes Mal, bis der Akku in Marens Handy aufgab und den Kontakt zu Steve für ewig trennte.

Dann weinte sie nur noch. Eine Polizeistreife fand sie am frühen Morgen, doch aus ihrem Gestammel konnten die Polizisten keine Anhaltspunkte entnehmen. Maren wurde in ein Krankenhaus gebracht.

Eine Woche später gab es eine Beerdigung. Ein Leben danach schien noch nicht möglich. Und doch gab es etwas, was Maren für immer in sich trug. Das Geheimnis eines einzigartigen Telefonkontaktes, der ihnen geschenkt worden war.