Heiligtum

(2000)

 

»... könntest du das für mich erledigen?«, fragte Tanja und drückte ihre schmerzenden Hände gegen die Brust. Sie hatte Handschuhe vergessen, aber die Erde brannte auf ihrer Haut.

»Die Blumen einpflanzen?«

»Bitte!«

»Damit ich mir auch meine Hände versaue?« Sandra lachte. »Gib die Töpfe her, und die Schaufel!«

»Danke, das ist lieb von dir. Ich hol Wasser und halte die Hände unter den Kran.«

Mit der Gießkanne ging Tanja zum Friedhofsbrunnen. Sie hasste diesen Ort. Um hier Ruhe zu finden, musste sie vermutlich tot sein. Dann würde ihr Körper in diese Erde gebettet werden, die nach Verwesung stank und ihr die Haut verbrannte. Die Vorstellung war ihr zuwider. In den letzten Jahren hatte sie einen Besuch auf dem Friedhof vermieden, doch ihre Mutter war krank und hatte sie gebeten, sich um die Gräber ihrer Großeltern zu kümmern. Die Hoffnung auf eine Genesung ihrer Mutter hatte sie noch nicht aufgegeben, obwohl sie tief in ihrem Herzen ahnte, dass sie bald sterben würde. Sie war schwer krank, schon viele Jahre.

Mit einem Seufzer hielt sie ihre Hände unter den kalten Wasserstrahl und wusch sich den Dreck ab. Rote Flecke hatten sich auf den Handtellern und an den Fingern gebildet. Eine allergische Reaktion oder doch Verbrennungen. Vielleicht war der Erdboden verseucht? Sie musste Sandra warnen.

Die Gießkanne ließ sie zurück und rannte los.

»Sandra! Fass die Erde nicht an!«

Sandra sah fragend an. »Was ist denn los? Ich bin fertig. Es ist alles in Ordnung! Was bist du heute so hysterisch?«

Sie betrachtete ihre Hände, aber die Flecke waren verschwunden.

»Friedhöfe machen mich nervös. Lass uns gehen.« Sie griff nach der Schaufel und ließ sie mit einem Aufschrei fallen.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Mich hat was gestochen!«

»Du spinnst heute. Komm!«

Erst im Auto entspannte sich Tanja.

»Was ist los mit dir?«, fragte Sandra.

»Ich weiß nicht, der Friedhof, die Gräber. Das macht mich nervös!«

»Wegen deiner Mutter?«

»Nein. Es ist diese Erde. Ich kann sie nicht anfassen. Ich ekle mich davor!«

»Beim nächsten Mal denken wir an Handschuhe. Deine Hysterie ist ja nicht normal.« Sandra lachte und ahnte nicht, was sie mit ihrem Satz anrichtete: … ist ja nicht normal.

Tanja fühlte sich nicht mehr normal, seit ihre Mutter krank geworden war.Jeden Morgen weckte sie die Angst, die sie zwang, aus dem Bett zu springen und nach ihrer Mutter zu schauen. Bei dem Gedanken, ihre Mutter zu verlieren, fühlte sie sich schutzlos.

 

Tanjas Mutter hatte gewartet; sie lag im Bett, blass. Ihre Atmung war flach. »Setz dich zu mir«, bat sie ihre Tochter.

»Sofort. Ich muss nur schnell ins Bad. Soll ich dir noch einen Tee machen?«

Sie schüttelte den Kopf. Tanja ließ die Badtür offen stehen und hörte, wie ihre Mutter Sandra bat, sich zu ihr zu setzen. »Du musst gut auf Tanja aufpassen, wenn ich nicht mehr bin. Es wird schwer für sie sein, wenn sie es erfährt.« Ihre Mutter hatte geflüstert, aber Tanja hatte dennoch alles verstanden.

»Was soll ich erfahren?« Ihre Hände waren rot und zerkratzt. Sie hatte versucht, das Gefühl von Dreck und Feuer mit heißem Wasser und der harten Seite einer Nagelbürste zu entfernen. Es war ihr gelungen.

»Es ist an der Zeit, ich muss es dir sagen!«

Tränen schossen Tanja in die Augen, ein dicker Kloß setzte sich in ihrem Hals fest, ihre Atmung schmerzte. Jetzt ging es zu Ende. Sie wusste, dass ihre Mutter ihr noch etwas über ihren Vater verraten wollte.

Schwerfällig kniete sie vor dem Bett ihrer Mutter nieder, nahm deren Hand und wartete. Trauer umspülte ihre Gedanken, vermischt mit einer großen Portion Furcht. Sandra saß dicht bei ihr und berührte ihre Schulter.

»Liebes. Wie war es auf dem Friedhof?«

»Alles okay!«

Sandra stieß sie von hinten an. »Sag es ihr schon!«

»Hör auf!«

Sandra wich ein Stück von Tanja zurück, denn ihre Augen funkelten böse.

»Ihr dürft euch nicht streiten! Bitte! Erzähl mir, was auf dem Friedhof war!«

Zögernd berichtete Tanja von ihrem Ekel gegen Friedhofserde, gegen den Ort an sich. Deutete auf ihre Hände und erzählte von den eingebildeten Schmerzen und den roten Flecken.

»Das war keine Einbildung! Glaubst du an Gott?«

»Warum fragst du mich das?«

»Gib mir eine Antwort!« Diese Bestimmtheit in der Stimme ihrer Mutter hatte Tanja seit Monaten nicht mehr gehört.

»Ja, ich glaube an Gott ... und an den Teufel. Das weißt du doch, wir haben viele Male darüber geredet!«

»Glaube an Gott. Der Teufel darf keine Macht über dich bekommen!«

»Oh, Mutti!« Tanja konnte die Tränen nicht zurückhalten. Ihre Mutter redete wirres Zeug.

»Ich bin nicht verrückt und bei klarem Verstand. Bitte hör mir zu. Und unterbrich mich nicht! Du hast keinen Vater gehabt. Keinen menschlichen Vater. Du hast einen Vater, der –«

Sie stockte, bat um einen Schluck Wasser, indem sie schwach auf das Glas zeigte, das auf der Kommode stand. Sie vermied jeden Blickkontakt.

Als sie weiter sprach, war ihre Stimme heiserer als zuvor. Das Wasser hatte keine Wirkung gezeigt. Tanja verspürte eine schreckliche Angst.

»Alle 666 Jahre kommt er, sucht sich eine menschliche Frau und zeugt mit ihr einen Nachkommen.«

»Wer ist er?«

»...und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen.«

Da unterbrach Tanja ihre Mutter doch: »Ich versteh dich nicht. Was meinst du denn?«

»Dein Vater, mein Kind, ist der Teufel!«

Tanja dachte, ihre Mutter sei verrückt geworden oder sprach kurz vor ihrem Tod im Wahn.

»Am Anfang habe ich mich gewehrt, aber diese Augen, diese Männlichkeit, dann habe ich mich ihm doch hingegeben. Nur weil ich mich ihm freiwillig gab, nicht mehr kämpfte, sondern ihn liebte, für diesen Moment, konntest du, seine Tochter, geboren werden.«

Scham überdeckte das Entsetzen in ihrem Gesicht.

»Wenn ich jetzt sterbe, wird er versuchen, Macht über dich zu bekommen und dich zu benutzen. Das darfst du nicht zulassen, Tanja!«

»Oh, Mama, hör auf damit! Bitte! Hör auf!«

»Ich weiß, es ist nicht zu verstehen. Aber es ist die Wahrheit. Er gab dir nicht den Namen Tanja, für ihn bist du –«

Mit letzter Kraft stützte sie sich auf und flüsterte: »Diavola.«

Dann sank sie matt in das Kissen. »Sei stark, für dich. Bitte! Ich liebe dich, denke immer daran!«

Tanjas Mutter schloss die Augen. Ihr Körper erschlaffte. Ihr Atem flachte langsam ab, bis er aussetzte.

Tanja weinte, hielt die Hand ihrer Mutter und verschwendete keinen Gedanken an das eben Gehörte. Auch Sandra weinte, umarmte ihre Freundin und spendete ihr Trost.

 

Erst nach der Beerdigung wurde Tanja daran erinnert, was ihre Mutter zu ihr gesagt hatte, denn jemand sprach diesen ihr fremden Namen aus.

»Diavola!«

Sie war auf dem Weg zum Supermarkt, als jemand hinter ihr diesen Namen erneut rief: »Diavola!«

Abrupt blieb sie stehen, doch um sich umzudrehen, fehlte ihr jede Kraft. Es war auch nicht nötig. Der Mann, der diesen Namen gerufen hatte, war bereits bei ihr und drehte sie, indem er sie an der Schulter fasste, zu sich. Dann sagte er noch einmal: »Diavola!«, und umarmte sie herzlich.

»Sie verwechseln mich mit Jemandem.«

Tanja befreite sich aus der Umklammerung und funkelte den Mann böse an. Es war dasselbe Funkeln, das Sandra Angst eingejagt hatte. Doch dieser Mann war begeistert, beinahe erregt von ihren leuchtenden Augen.

»Doch. Du bist Diavola. Ich erkenne es an deinen Augen!«

Der Mann hatte einen leichten Akzent, italienisch oder spanisch.

»Lassen Sie mich vorbei!«, bat Tanja.

Angst verspürte Tanja keine – im Gegenteil, sie wurde jetzt böse, teuflisch böse.

»Ja! Mach weiter so!«

Der Mann schien in Ekstase zu gelangen, wenn er in Tanjas Augen sah.

»Wer sind Sie?«

»Nun, ich bin nicht dein Vater.«

»Dachte ich mir. Wer dann?«

»Dein Liebhaber!«

Tanjas Mund öffnete sich vor Überraschung, doch sie fand schnell ihre Sprache wieder:

»Tja, mein Guter, da steckst du aber im falschen Anzug. Mein Vater hat dir wohl das Gehirn verkohlt.«

Ihr Vater.

Ihr Unterbewusstsein hatte sie dazu gebracht, diese Tatsache zu glauben. Doch das wollte Tanja nicht.

»Du kannst nicht mein Liebhaber werden!«

»Warum nicht? Du wirst dich an mich gewöhnen. Wir werden Spaß haben. Teuflischen Spaß! Viele kleine, feurige Nachkommen zeugen.«

Er lachte. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab und ließ ein humorvolles, wohlklingendes, männliches Lachen aus seinem Mund ertönen. Doch genau das war sein Problem.

»Du bist ein Mann!«

»Ich verstehe nicht?«

»Ich stehe nicht auf Männer. Ich liebe Frauen!«

»Frauen? Du bist doch selbst eine Frau!«

»So ist es. Lesbisch nennen wir das hier auf Erden. Sag das meinem Vater. Er muss noch einmal 643 Jahre warten und von vorne anfangen. Ich werde ihm keine Enkel mit seinen teuflischen Gesandten schenken.«

Mit diesen Worten ließ sie den ihr zugedachten Liebhaber stehen, drehte sich um und schritt stolz davon.

Am Abend erzählte Tanja ihrer Freundin Sandra von der Begegnung. Sie lachten und küssten sich. Nur das Funkeln in Tanjas Augen erinnerte beide an ihre Herkunft. Dagegen konnte sie nicht ankämpfen, aber das störte beide nicht im Geringsten. Hatten sie doch dem Teufel mit ihrem Heiligtum – ihrer Liebe – ein paar lange Jahrhunderte des Wartens in den Weg gelegt, bevor er die Macht erlangte, die er sich wünschte.