Schlafveränderung

(2002)

 

Montag, 23. Juli

Als ich heute Morgen in den matten Spiegel schaute, begrüßte mich ein fremdes Gesicht. Es war nicht das Gesicht, zu dem meine Erinnerungen gehörten, es war auch nicht das Gesicht des Mannes, der sich gestern Abend zu Bett gelegt hatte. Es war ein altes Gesicht, zerfurcht mit tiefen Falten und Augen, die Geschichten erzählten, von denen mein Gehirn nicht eine einzige kennt.

Um das Aussehen eines so alten Mannes zu haben, reicht mein Erinnerungsvermögen nicht im Geringsten aus. Hat das Glas Rotwein am Abend zuvor meine Sinne getrübt? Leide ich an einer Krankheit, die mein Denkvermögen beeinträchtigt? Ich weiß es nicht. Morgen werde ich meinen alten Freund Edgar aufsuchen und ihn um Rat bitten. Für heute bin ich des Grübelns überdrüssig und lege mich zu Bett.

 

Dienstag, 24. Juli

Der Schlaf war für mich immer die wunderbarste Erholung, um meinem Schaffen das Besondere zu verleihen. Träume sandten mir stets die kreativsten Ideen. Doch seit gestern scheint alles anders zu sein. Anstelle der Erinnerung meiner Existenz, meines Namens, befand sich nun ein langer, weißer, zotteliger Bart in meinem Gesicht. Dieser war gestern – so bin ich mir gewiss – noch nicht vorhanden. Oder irre ich mich gar?

Edgar! Mein Freund, an ihn werde ich mich meinen Lebtag erinnern. Zahlreiche Abende haben wir miteinander getrunken und gelacht, gute und traurige Zeiten miteinander erlebt. Er würde wissen, was mit mir geschah.

Doch ich irrte. Als ich sein Haus erreichte, ließ er mich nicht ein. Fremde, so sagte er, dürften niemals über die Schwelle seines Hauses treten. Ich möge mich von dannen schleichen. Als ich ihm sagte, ich wäre sein alter Freund, glaubte er mir nicht. Er erkannte mich nicht, und ich wusste ihm nicht meinen Namen zu nennen.

So trottete ich wie ein getretener Köter nach Hause. Jetzt sitze ich hier und schreibe, solange ich des Schreibens noch mächtig bin. Wann werde ich mich nicht mehr an die Buchstaben erinnern, um den wahnsinnigen Worten meines Erlebnisses eine Basis zu geben?

Die Angst, mich schlafen zu legen, machte mich unruhig. Doch vielleicht ist morgen alles wieder beim Alten, vielleicht ist morgen ein neuer Tag. Ich hoffe es inständig.

 

Mittwoch, 25. Juli

Heute fand ich zwei Flaschen mit einer trüben Flüssigkeit vor meiner Tür. Ich kann mich jedoch nicht an dem Namen des Getränks erinnern, auch nicht an den Geschmack, aber es ist durchaus wohlschmeckend... so glaube ich. Ich schreibe noch... ja, doch erinnere ich mich heute nicht mehr, womit. Die Falten auf meinem Antlitz sind tiefer geworden, meine Augen eingefallen. Ich kann mich nicht daran erinnern, ein so langes Leben besessen zu haben. Das wenig Erlebte passt nicht zu meinem Äußeren. Was aber passt dazu? Was zu mir? Wer zu mir? Wer bin ich? Was? Ich weiß es nicht mehr!

All meine Erinnerungen legen sich mit dem Schlaf nieder, doch wachen sie am Morgen nicht auf, wie mein Körper, der sich von Nacht zu Nacht verändert. Wie lange schon? Habe ich die Vorzeichen übersehen? Bin ich nun nicht mehr in der Lage, dem Gegebenen eine Wendung beizufügen? Seit drei Nächten bin ich nicht mehr ich, der ich sein wollte oder müsste oder glaubte zu sein. Seit drei Nächten verändere ich mich und weiß nicht, wie lange noch. Der äußerliche Alterungsprozess scheint zu schnell vonstattenzugehen, und der innere Verfall zieht dem gleich. Warum? Ich bin verwirrt, gar verängstigt, doch seltsamerweise nicht besorgt. Soll dies eine – meine – Bestimmung sein?

Ich bin müde, lege mich nieder und hoffe auch in dieser Nacht auf eine Besserung meines Zustandes.

 

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Ich erinnere mich nicht mehr, welcher Tag auf den gestrigen folgt, welches Datum sich dem letzten anreiht. Ich erinnere mich nicht daran, die letzten Zeilen geschrieben zu haben, und auch nicht daran, was ich bin. Ich schaue in etwas, dessen Bezeichnung ich nicht mehr weiß, und sehe etwas: Es ist alt, zerfurcht, grau und abgenutzt. Kaum des Lebens fähig. Ich bin allein.

Lege ich mich diesmal nieder, so weiß ich, wird jegliche Erinnerung an Weltliches nur der Tod sein können.