Wilhelm

(2008)

 

Als ich am Morgen erwachte, fühlte sich meine Schleimhaut so trocken und pelzig an, wie nach einem Saufgelage. Doch ich war mir sicher, gestern Abend nüchtern geblieben zu sein. Das erste Mal seit Kriegsende. Die Zeit davor hatte ich nur mit viel Alkohol durchgestanden. Wir hatten Menschen getötet – Kinder, Frauen, Familien zerstört.

Wir.

Ich.

Ich hatte versucht, die Bilder des Krieges mit Hochprozentigem zu ertränken und meine Taten zu verdrängen. Doch keine Drogen dieser Welt waren dazu in der Lage. Der Krieg hatte mein Leben gezeichnet. Nur der Tod würde die Stimmen und Schreie in meinem Kopf verstummen und die Bilder verschwinden lassen.

Christines Gesicht schob sich vor meine Gräueltaten. Sie war mir bei der Parade aufgefallen.

Gerne hätte ich jetzt den Arm nach ihr ausgestreckt und ihre zarte Haut gestreichelt. Doch ich hatte sie in den frühen Morgenstunden verlassen und – was viel beunruhigender war – ich konnte meine Arme nicht bewegen. Ich hörte keine Straßengeräusche und das vertraute Ticken meiner Armbanduhr fehlte. Es war totenstill. Außer meiner eigenen Stimme in meinem Kopf vernahm ich nichts.

Ich wollte meine Augen öffnen. Es blieb dunkel. Sonnenstrahlen müssten die Vorhänge durchbrechen. Was war los? Ich spürte Panik, wollte aufstehen, das Licht anschalten, nach Hilfe rufen. Nichts geschah. Weder Puls noch Herz reagierten darauf.

Du bist tot, mein Lieber, finde dich damit ab.

Was? Tot? Ich war 33 Jahre und genoss die Freiheit. Frauen vergötterten Männer in Uniform. Ich hatte den Krieg überlebt.

Außerdem dachte ich über meinen Zustand nach, der – wenn ich tot wäre –, gar keiner sein dürfte. Nein, tot war ich sicher nicht. Tod gab Erlösung.

Das denken sie alle.

Klar, alle die schon tot waren und anschließend mit mir darüber gesprochen haben. Krampfhaft überlegte ich, ob ich doch gestern betrunken gewesen war oder ob ich Drogen eingeworfen hatte. Ich blieb dabei: Ich war nüchtern ins Bett gegangen.

Wann war gestern bei dir?

Lass mal nachdenken, Mittwochabend war die Parade, ich bin ziemlich schnell mit Christine ins Gespräch gekommen und müsste am Donnerstag gegen vier in der Kaserne gewesen sein.

Und welches Datum hatten wir?

Die Stimme in meinem Kopf schien gelangweilt, was mich wiederum belustigte. Schließlich sprach ich mit mir selbst und darum gab ich mir bereitwillig Antwort: >Mittwoch war der 24. Also dürfte heute der 25. Juni 1945 sein. Logisch, nicht?<

Ack.

Darauf folgte Stille.

>Ack?<, wiederholte ich. >Was soll das heißen?<

Ungewöhnlich.

>Was soll daran ungewöhnlich sein?<

1945.

>1945 ist ein stinknormales Jahr. Es liegt etwa zwischen 1944 und 1946.<

Ich kicherte über meinen Witz und versuchte erneut meine Arme zu bewegen – ich glaubte diesen Befehl von meinem Gehirn aus an sie zu senden, konnte ihn aber nicht ausführen, weil ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt Gliedmaßen besaß. Scheiße. Was war los mit mir? Schlaganfall? War ich gelähmt? Nach allem, was ich erlebt und überlebt hatte, sollte ich jetzt nach einem Schlaganfall vor mich hinvegetieren?

Du bist tot – und das verdammt lange, mein Lieber.

>Ahja?<, schrie ich. >Ahja? Und wieso denke ich dann? Häh? Wieso quatsche ich mir selbst die Ohren voll und labere mir Wurstbrote an meine beschissenen Knie, die ich nicht fühlen kann? Erklär mir das.<

Die Stimme in meinem Kopf schwieg. Na bitte, zumindest war es mir gelungen, ihr den Saft abzudrehen.

Aber das erklärte nicht meine Situation. Ich brauchte Hilfe und zwar schnell. Aber wie sollte ich die Kameraden alarmieren, wenn ich nicht zu schreien in der Lage war?

Vergiss es. Du bist tot.

>Halts Maul! Ich bin nicht tot!<

Aber sicher. Du lebst und führst im Traum Selbstgespräche. Klar. Gut, dass ich wenigstens noch bei Verstand bin.

>Du bist mein Verstand.<

Wäre ich nicht bewegungsunfähig gewesen, hätte ich mir diese Stimme aus meinem Kopf geprügelt, aber so war ich dazu verdammt, ihre Gegenwart zu akzeptieren. Ein Traum. Das musste es sein. Nichts weiter als ein Albtraum.

Red dich ruhig raus. Das wird dir nichts nützen.

>Ich bin nicht tot. Ich bin nicht tot! Wäre ich tot, dann wäre alles vorbei. Keine Stimmen, keine Schreie, keine Bilder. Aber es ist alles noch da.< Ich musste aus diesem Albtraum erwachen.

Das ist verständlich. Aber das Denken ist im Laufe der Zeit die einzige Kommunikationsform, die du hast, um nicht vollkommen verrückt zu werden. Also beruhige dich und rede ruhig mit mir, das bin ich gewohnt.

Ich wollte meinen Kopf nehmen und schütteln, ihn gegen die Wand donnern, ich wollte schreien und heulen und gleichzeitig lachen. Aber ich wusste nicht einmal, wo mein Kopf war.

>Sag nicht nochmal, ich sei tot!<

Schon klar. Du lebst, erfreust dich bester Gesundheit und hast zurzeit nur einen Anflug von körperlichen Lähmungserscheinungen, die du mit Selbstgesprächen totzureden versuchst. Ui, da war es wieder, das böse Wort: Tot tot tot tot tot tot. Du bist tot! Ich ebenso.

>Klar, wenn ich tot sein soll, ist die Stimme in meinem Kopf auch tot. Warum hältst du dann nicht einfach deine Klappe?<

Ich bin nicht in deinem Kopf.

Darauf wusste ich keine Antwort. Eine weitere Frage wollte ich nicht stellen. Die Stimme in meinem Kopf schwieg.

Ich nannte sie Wilhelm. Einfach so, weil jeder einen Namen haben musste, selbst Stimmen in meinem Kopf, die behaupteten, nicht in meinem Kopf zu sein.

Wilhelm.

Ein furchtbarer Name.

Der Name passte perfekt. Wilhelm. So hieß mein Kommandeur. Er war ein Arschloch. Immer wieder war es ihm gelungen, seine Befehle in mein Gehirn einzupflanzen. Ich war willenlos gewesen – im Krieg.

Doch ich war es müde, Befehle entgegen zu nehmen. So viele davon waren über all die Jahre falsch gewesen. Ich hasste Wilhelm, den Kommandeur. Und ich hasste Wilhelm, die Stimme in meinem Kopf. Ja, ich hasste ihn von Minute zu Minute mehr.

Willkommen im Wahnsinn.

Eine Weile ignorierte ich ihn.

Doch dann hielt ich es nicht mehr aus. Es war ruhig, totenstill, sodass ich froh war, wenigstens mit Wilhelm meinem mit mir kommunizierenden Selbst, dem Arschloch in mir – reden zu können.

>Was ist los mit mir?<

Meiner Meinung nach bist du tot.

Er kicherte.

>Gut, dann bin ich eben tot. Und wieso kann ich reden?<

Du redest nicht, du denkst.

>Also gut, warum denke ich?<

Das ist eine gute Frage. Du bist nicht der Erste, der hier reinkommt, musst du wissen.

>Nicht der Erste? Aber du bist in mir, in meinem Kopf!<

Glaubst du.

>Weiß ich.<

Sicher. 1-2-3-4-5-6-7-8-9 …

>Was soll das, was machst du da?<

Ich zähle die Sekunden …

>Lass das.<

Wilhelm hörte nicht auf mich. Es waren Sekunden, die verrannen, in denen ich in völliger Dunkelheit gelähmt, jedoch zum Denken fähig, auf eine Veränderung meines Zustands wartete und dabei wusste, dass ich immer weiter auf der Brücke balancierte, die mich in Richtung Wahnsinn führte.

Vielleicht war ich nie ein Mensch gewesen, nie ein Mann, sondern nur ein schizophrener Gedanke, der sich selbst den Namen Wilhelm gab, weggeworfen von einem Schriftsteller oder einem Irren. Vielleicht war ich irre – der Irre?

Passt alles.

>Vielen Dank für deine Hilfe.<

Gerne.

>Warum rieche ich nichts? Ich müsste nach Verwesung oder übrig gebliebenem Schweiß vom Schlaf stinken. Ich weiß, dass ich mich schlafen gelegt hatte, obwohl es draußen schon hell geworden war.<

Kann schon sein.

Ich versuchte, mir den gestrigen Tag in Erinnerung zu rufen. War es gestern gewesen?

Sicher nicht. 

Es kommt mir aber so vor. Ich war nach Hause gegangen und ins Bett gefallen, nachdem ich mit Christine die Nacht verbracht hatte.

458-459-460-461-462-463-464 …

>Hör endlich mit dieser Zählerei auf! Das macht mich wahnsinnig.<

Ein Lachen zuckte durch mein Gehirn.

Bist du das nicht längst? Wenn ich deinen Gedanken lausche, glaube ich nicht, dass du noch lange bei Verstand sein wirst. Und da wärest du nicht der Erste. Stört aber keinen.

>Wer? Von wem redest du?<

Wirst du schon noch merken.

Ja, mit einem hatte Wilhelm recht: Ich musste wahnsinnig sein. Ich hatte im Krieg viele Momente des Wahnsinns erlebt, viele Augenblicke, in denen ich mich alleine gefühlt und im Stillen gebetet hatte, aber nie hatte ich so mit mir selbst geredet.

Hier schon. Das liegt daran, weil du nicht mit dir redest, sondern mit mir.

Die Verzweiflung krallte sich in mein Gehirn fest, sie zwang mich zu schreien. Wie ein Verrückter. Ich wehrte mich nicht dagegen, bis ich, völlig erschöpft, nur noch weinte so glaubte ich, aber wo waren meine Tränen, die meine Haut benetzen müssten? Wo war meine Haut?

Wilhelm seufzte.

>Was ist?<

Wenn du Glück hast, dauert es nicht mehr lange, dann werden zumindest ein paar deiner Fragen beantwortet. Zufrieden wirst du sicherlich nicht sein.Vielleicht musst du mir auch noch unendliche Jahre Gesellschaft leisten. Ich liege hier schon ewig rum. Wenn ich es aber so recht überlege, sind bisher alle vor dir mit der Zeit verschwunden. Also wird das bei dir auch nicht mehr so lange dauern.

Eine lange Rede für eine Stimme in meinem Kopf, die wirrer sprach, als ich dachte – nein, ich dachte ja.

Also, nochmal: Ich heiße nicht Wilhelm und bin nicht in deinem Kopf.

>Wer willst du dann sein?<

Das wirst du nicht glauben, darum muss ich es dir auch nicht sagen.

>Feigling.<

Ein Held bin ich sicherlich nicht. Feige? Das mag der ein oder andere so sehen. 

>Okay, okay. Ich bin tot, und wo bin ich dann? In der Hölle?<

Wilhelm seufzte. Nein, bestimmt nicht.

>Also gut, wenn du alles zu wissen scheinst: Wo sind wir?<

In welcher Zeit wir uns jetzt im Augenblick befinden, kann ich dir nicht sagen, denn ich schlafe manchmal sehr lange, und wenn ich erwache, befinden sich Typen wie du in meiner Umgebung, mit denen ich kommunizieren kann. Ich bin mir sicher, dass SIE nicht ahnen, dass wir dazu fähig sind, allerdings kann es genauso gut sein, dass SIE wollen, dass wir miteinander sprechen und auf Informationen hoffen. 

>Informationen? Was für Informationen?< Wilhelm antwortete nicht auf meine Frage, sondern sprach weiter:

Du stammst aus dem Jahre 1945. Kriegsende, wenn ich mich richtig erinnere. Ich traf hier schon auf Gleichgesinnte, die 100 Jahre vor und ebenso viele nach dir gelebt haben. Ich selbst stamme aus deiner Zukunft, deiner Gegenwart und deiner Vergangenheit, so könnte ich es wohl umschreiben. Du glaubst es nicht, das ahne ich, aber zumindest hältst du mal den Mund.

Die Stimme in meinem Kopf, die vehement behauptete, nicht in diesem zu sein, beruhigte mich. Ich  lauschte ihr und versuchte meine Augen zu öffnen, meine Arme zu bewegen, meine Beine zu heben. Vergebens. Es schien als wäre mein Körper von allem abgeschnitten und es seien nur Phantomarme und -beine, die ich glaubte zu spüren.

Vor kurzer Zeit lernte ich einen jungen Mann kennen, er war hier keinesfalls freiwillig. Seine Reise, so erzählte er mir, trat er im Jahre 2024 an.

Nun musste ich lachen. Wilhelm ignorierte mich.

Nicht, weil ihm das Jahr besonders gut gefiel oder weil er getötet wurde. Sein Gehirn erlitt einen Schlag durch ein ihm nicht bekanntes, seit Jahren bestehendes Blutgerinnsel, was seine gesamten Körperfunktionen stoppte und ihn auf die Reise schickte. Gnädigerweise lag er, wie du, schlafend im Bett und bemerkte nichts davon, bis er hier aufwachte.

19 Jahre war er alt, als sein Herz zu schlagen aufhörte und sich in diesen Zustand versetzte, der – wie du gut erkannt hast – keiner hätte sein dürfen. Sein Tod wurde eine Reise in die Zukunft, die er nicht geplant hatte. Er hätte sich geweigert sie anzutreten, wenn er vor die Wahl gestellt worden wäre. Willst du wissen, wie du in die Zukunft reisen kannst?

>Keine Ahnung.<

Regisseure und Autoren neigen dazu, in ihren Werken die Zeitreise als rasante und kurzweilige Fahrt zu beschreiben.

>Ich lese nicht gerne und Kino hat mich immer gelangweilt.<

Nun, das dachte ich mir.

Den Protagonisten erscheint es, als rasten sie durch das Universum, Milliarden von Sternen sausten an ihnen vorbei, bis sie schließlich, meist gut gelaunt und wohl erhalten, die von ihnen gewählte Zukunft erreichen. Manche erzählen von den Möglichkeiten, den Körper einzufrieren und zu einer bestimmten, in der Zukunft liegenden Epoche wieder aufzutauen.

All das ist Schwachsinn. Mit einem Raumschiff durchs All zu fliegen und mit Hypergeschwindigkeit die Zeit zu besiegen ist nur Gelabere. Vergiss die waghalsigen Erfindungen von Zeitmaschinen.

Wilhelm redete sich in Rage und ich hoffte, dass sich seine Stimme nicht überschlug, denn Geschichten erzählen konnte er, der Wilhelm. Ich wusste gar nicht, dass ich solche Fähigkeiten besaß. Als Alleinunterhalter machte ich wertvolle Fortschritte.

Und glaub den Werbesprüchen nicht, in denen dir viel Geld für Zukunftsreisen abgeknüpft wird – das ist nichts weiter als ein mieser Betrug, der auf deine Kosten geht, und zwar in zweifacher Hinsicht, mit denen ich nun wirklich nichts zu schaffen habe.

Werbesprüche? Zukunftsreisen? Wovon redete Wilhelm da?

Vergiss das Streben der Menschheit nach Zukunftsvisionen, das Erfinden neuartiger Technologien, die sie schneller von Ort zu Ort befördern sollen. Es ist Unsinn, nichts davon bringt sie ans Ziel und der Wahrheit näher.

Dieser Junge, von dem ich dir eingangs erzählte, trat seine Zeitreise nicht leichtfertig an, er stieg in kein Hypermobil und saß keinem Betrug auf, er bezahlte keinen Cent – sondern mit seinem Leben. Genauso wie du. Er und du – nein, wir – sitzen im gleichen Boot, nur kamen wir aus unterschiedlichen Richtungen hierher.

Als Wilhelm mit seinem Vortrag endete, spürte ich eine Bewegung.

Wilhelm war verstummt, was mich davon überzeugte, dass mir zwar etwas zugestoßen sein musste, ich aber auf keinen Fall tot war. Ich dachte an Christine und überlegte mir, sie anzurufen. Das hatte ich noch nie gemacht, doch nach diesem Albtraum durfte ich gegen meine Prinzipien verstoßen.

Spitze Nadeln bohrten sich in mein Gehirn. Meine Schreie füllten meinen Schädel aus. Wie sehr wünschte ich, meinem Mund aufreißen und meinen Schmerz in die Welt hinausbrüllen zu können, doch mein Mund öffnete sich nicht.

Dann wurde mein Bewusstsein fortgeschwemmt.

 

Als ich wieder erwachte, hörte ich eine männliche Stimme: »Das kriegen wir hin.«

Wilhelm?

»Wir haben uns selbst übertroffen«, sagte ein anderer Mann.

Wo war Wilhelm? So sehr mich die Stimme in meinem Kopf genervt hatte, jetzt vermisste ich sie.

»Die Augen öffnen sich.«

Meine? Ich konnte sehen! Unscharf zunächst, aber aus den verschwommenen Konturen entwickelten sich Männer, die lächelnd auf mich herabblickten. Es waren sechs. Zwei trugen weiße Kittel Ärzte. Die anderen vier hatten eine Art militärische Uniform an, deren Zugehörigkeit mir unbekannt war.

Aber: Ich konnte wieder sehen! Dann war ich nicht tot? Hatten Sie mich gerettet, wiederbelebt? Ruckartig setzte ich mich auf und rang nach Atem. Pfefferminzluft strömte in meine Lungen.

»Willkommen im Leben«, sagte einer der Männer.

Ich blinzelte den letzten Schleier von meinen Pupillen. So ein Hospital hatte ich noch nie gesehen. Allerdings war ich vorher auch noch nie tot gewesen. Mein Herz pochte gegen meine Rippen. Ich lächelte. Es fühlte sich gut an. Leben. Atmen. Die Männer nickten mir zu und gingen einen Schritt zur Seite, damit ich aufstehen konnte.

Und? Bist du nun zufrieden?

Wilhelm, er war noch bei mir.

Ich fasste mir mit beiden Händen an die Brust, sah an mir hinunter und erschrak. Ich hatte Brüste, gewaltige Titten. Ruckartig packte ich mir in den Schritt. Nichts. Sie hatten mich meiner Männlichkeit beraubt, ich war nackt und umgeben von sechs Männern, die mich mit Schweinsäuglein begafften, ja nahezu bewunderten.

Quatsch nicht. Sie haben dich nur in einen weiblichen Körper eingepflanzt, woran du vermutlich nicht unschuldig bist – bei deiner Lebensweise und deiner Vergangenheit. Darauf achten SIE. Sei froh, dass du in deinem früheren Leben keine Fliegen zerquetscht oder Schlangen gefangen hast.

Sie haben mich in eine Frau eingepflanzt? Was denn von mir?

Dein Gehirn. Der Rest ist austauschbar.

Paralysiert bedeckte ich mit beiden Händen meine Nacktheit und stellte fest, dass dies nun schwieriger war als früher. Scheiß drauf. Das ist alles nur ein Albtraum, ein Drogenrausch, aus dem ich bald erwachen würde.

Leider nicht, mein Lieber – oder soll ich meine Liebe sagen? Das ist zwar albtraumhaft, aber ein Traum ist es wahrlich nicht. Und ich kann nichts daran ändern.

Wer bist du eigentlich?

Wer ich bin, ist nicht wichtig, aber wo ich bin, kann ich dir sagen: Rechts von dir.

Neben meiner Trage stand eine zweite. Unter dem mittig darauf platzierten Glaskolben pulsierte ein Gehirn. Es zwinkerte mir zu – diese Geste nahm ich in meinem Kopf wahr.

Ertappt. Und nun wünsche ich dir eine schöne Zeit in deinem neuen Leben, deinem neuen Körper.

Sein Lachen klang bitter.

Meine Lippen zitterten, als ich mit der Zunge darüber fuhr. »Ich.« Zum ersten Mal hörte ich meine neue Stimme, sie klang ungewohnt hoch. Ich seufzte innerlich und schmiedete einen Plan. Alleine wollte ich hier nicht raus, ohne Wilhelm hatte ich keine Chance, das wusste ich. Er lag schon ewig hier rum, hatte er gesagt: Zeit für eine Veränderung, mein Freund.

Ich zeigte auf das Gehirn neben mir – auf Wilhelm.

Ich heiße nicht Wilhelm, verdammt noch mal. Ich warne dich, du wirst schneller wieder hier landen als dir lieb ist, wenn du mich auch nur anrührst.

»Er gehört zu mir.«

Die Männer um mich herum sahen sich überrascht an. Eine Forderung hatte demnach noch nie eines ihrer Monster gestellt.

»Das wird nicht so einfach sein«, meinte einer der Älteren.

»Ich will ihn.« Ich war mir meiner Nacktheit bewusst, aber was hatte ich noch zu verlieren? Langsam stand ich auf. Meine Beine fühlten sich wackelig an. Dennoch gelang es mir, auf Wilhelm

Ich heiße nicht Wilhelm!

– zuzugehen und meine Hände über den Glaskolben zu legen.

»Wir müssen sie aufhalten! Wenn sie ihn freilegt, müssen wir ihm einen Körper geben.«

Doch niemand hielt mich zurück. Ich war ihre Schöpfung und besaß den Schutz des Neugeborenen.

»Gewähren wir ihr den Wunsch. Sie wird einen Freund brauchen können«, hörte ich eine Stimme, die ich bisher noch nicht vernommen hatte. Ich drehte mich um, keiner von den Männern hatte gesprochen. Der Befehl war durch einen Lautsprecher gekommen.

 

***

 

Meine Gedanken, die niemals meine eigenen gewesen waren, nenne ich weiterhin Wilhelm, obwohl er diesen Namen hasst und mich, jedes Mal, wenn ich ihn rufe, anknurrt. Wir kommunizieren gedanklich. Hunde können nicht sprechen, aber zumindest überleben – in dieser Welt, die ich weder akzeptieren noch verstehen kann. Es gibt hier kein Leben, keine Menschen, wie ich sie einst kannte. Alles scheint tot. Das Militär regiert. So wo ich es kannte, doch ich hatte immer gehofft, den Krieg zu überleben. Längst wünsche ich mich, dass mein Körper von einer Bombe zerfetzt worden wäre.

Doch ich war in der Hülle eines Mannes im Jahre 1945 gestorben, im Bett, schlafend, ohne Vorwarnung. Mein Gehirn wurde in einen weiblichen Klonkörper importiert, der in einer neuen Zeitrechnung leben musste.

Alles wird künstlich hergestellt und weiterentwickelt. Wir sind keine Androiden und keine Roboter, Teile von uns sind geklont oder gezüchtet, andere menschlich – Organe konserviert aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, für ein großes Projekt, das sich dem Einzelnen nicht erschließt.

Warum? Ich weiß es nicht. Aber ich lebe. Doch ich finde mich nur schwer zurecht in dieser toten, unmenschlichen, technischen, kinder- und farblosen Welt. Obwohl ich Kinder in meinem früheren Leben nie gemocht hatte, fehlen sie mir heute. Wenn ich schweißgebadet aus einem Albtraum erwache, denke ich an Christine. Dann taste ich um mich und hoffe, dass sie neben mir liegt. Manchmal greife ich ins Leere, oft treffe ich nur einen haarigen Wilhelm, mit dem ich ein Schicksal teile.

Was wird sein, wenn ich in dieser Zeit sterbe? In welche Zukunft reise ich dann? Wird sie besser sein als diese? Ich weiß es nicht. Wir wissen es nicht, wir wissen nur: Um besseren Zeiten entgegen sehen zu können, muss ich zuerst einmal sterben. Aber darüber würde das neue Projekt der Menschheit entscheiden – denn Gott hatte ausgesorgt. Gott hatte schon lange ausgesorgt. Er existierte gar nicht mehr – oder zumindest nicht mehr in der Form, die sich Generation um Generation vorgestellt hatte.

Nun war er ein Vierbeiner – und trug einen Namen, der ihm nicht gefiel.