Abgelaufen

(2005)

 

Seit exakt vier Minuten und 59 Sekunden putzte sich Peter Paprini die Zähne. Sein imaginärer Wecker klingelte 1000 Millisekunden später. Er warf die Einmalzahnbürste in den Mülleimer und spülte oberflächlich den Mund aus, sodass ausreichend Zahnpastareste zurückblieben, die er für die nächste Reinigung benötigte. Mit geübten Griffen zog er sich einen 45 Zentimeter langen, nach Pfefferminz schmeckenden, nicht fasernden Zahnseidestrang ab. Stück für Stück arbeitete er sich an dem Faden entlang. Weitere 30 Sekunden pro Zahnlücke später, was bei 32 Zähnen 15 Minuten ausmachte, beendete er seine morgendliche Mundhygiene. Er gurgelte dreimal mit einem neutral schmeckenden, Bakterien abtötenden Mundwasser und spülte mit klarem Wasser nach. Er grinste sein Spiegelbild an, drehte den Kopf ein Stück nach links, anschließend nach rechts, begutachtete seine gradlinigen Zahnreihen und dankte Gott wie jeden Tag für seinen athletischen Körper, die markanten Gesichtszüge und die perfekten Zähne. Gehörte all das doch zu seinem Kapitel, es förderte sein selbstbewusstes Auftreten und machte das mühelose Verhandeln, speziell bei weiblichen Geschäftspartnern, erst möglich.

Seine Gesundheit unterstützte er zusätzlich mit der täglichen Einnahme von Aufbaupräparaten. Außerdem ließ er sich alle sechs Wochen die Zähne bleichen und polieren. Seinen Frisör besuchte er einmal im Jahr, der ihm eine wachstumsstoppende Substanz in die Kopfhaut einmassierte. Peter trat ein Stück vom Spiegel weg, lächelte sich zu, bleckte die Zähne, fuhr mit der Zungenspitze über die ebenen Zahnreihen, trat näher heran, öffnete den Mund und begutachtete sein Werk von innen. Er nickte seinem Abbild zufrieden zu. Doch als er sich wegdrehen wollte, erhaschte er einen Blick auf einen Schatten – einen Schatten in seinem Mund, auf einem Zahn. Mit der Nasenspitze berührte er den kalten Spiegel, die Oberfläche beschlug durch seinen Atem. Er wischte mit dem Ärmel darüber, hielt die Luft an und riss den Mund weit auf. Sein Kiefer knackte. Mit dem Fingernagel des rechten Zeigefingers kratzte er an dem Weisheitszahn unten rechts. 

Tatsächlich. Ein Fleck.

Auf seinem Zahn!

Peter wiederholte seine morgendliche Mundhygiene – erfolglos. In einer halben Stunde stand ihm ein Frühstück mit einem wichtigen Klienten bevor. So konnte er dort unmöglich erscheinen. Aber es blieb ihm keine Zeit. Während er zur Haustür eilte, wählte er über den Bizeps-Caller die Nummer seines Zahnarztes und vereinbarte noch für den gleichen Tag einen Termin. Die Arzthelferin, die – neben dem Arzt – als einzige menschliche Kraft den persönlichen Kontakt mit den Patienten pflegte, bat Peter, am späten Nachmittag vorbeizukommen; sie könne aber nichts versprechen.

Peter kappte die Verbindung mit einem gedanklichen Befehl.

Der Bizeps-Caller konnte sowohl per Gedanken, als auch manuell bedient werden. Noch befand sich das Gerät, das wahlweise als Metallreifen um den Bizeps gelegt oder unter die Haut implantiert werden konnte, in der Testphase. Als Erfinder dieser Weltneuheit unterzog Peter den Caller zurzeit einer intensiven Prüfung. Bisher gab es nur wenige Schwachstellen, die sich rasch beheben ließen. Das anstehende Frühstück sollte ihm die Serienproduktion des Geräts und eine weltweite Verbreitung garantieren.

Er rückte seine dunkelblaue Seidenkrawatte zurecht und betrat das Hotel, in dem er seine Verabredung traf. Aus einiger Entfernung erkannte er Madame Teytusso, in Begleitung von drei Männern. Zügig ging er auf die wartende Gruppe zu. Madame Teytusso drehte sich in seine Richtung. Sie hob die Hand und winkte, ihr Antlitz wirkte emotionslos und aus der Entfernung wie das einer Dreißigjährigen. Dabei gehörte Madame zu den Damen Anfang siebzig. Die moderne Facechirurgie brachte Wunder, nahezu Kunstwerke hervor. Erst bei näherem Betrachten erkannte jeder, dass es sich nicht um das Gesicht handelte, das die Natur Madame Teytusso geschenkt hatte. Tatsächlich musste es einer jungen Frau gehört haben, die ihr Leben durch einen Unfall verloren hatte. Diese Form der Hauterneuerung hatte die Schönheitschirurgie vor Jahren revolutioniert. Zahlreiche Gegner kritisierten, dass sich reiche Damen vorab ein Gesicht erkauften und junge hübsche Frauen viel zu oft unerwartet verunglückten.

Ein weiterer Nachteil an diesem Anti-Face-Aging: Nicht jeder Muskel nahm seine Aufgabe hundertprozentig auf. Bei Madame Teytusso führte dies zu ihrem in Geschäftskreisen gefürchteten Pokerface.

Peter Paprini begrüßte Madame Teytusso mit Handschlag, einer kleinen Verbeugung und einem breiten Lächeln. Sofort wurde er sich seines Zahnbelags bewusst und reduzierte das Lächeln auf ein Minimum. Er fühlte sich gehemmt – eine nie zuvor gekannte Emotion.

Das Geschäftsfrühstück verlief nicht so positiv, wie Peter erhofft hatte. Seine Unsicherheit übertrug sich auf das Gespräch und die Vorführung des Bizeps-Callers. Es gelang ihm nicht, Madame Teytusso von dem Projekt zu überzeugen. Sie verlangte eine Bedenkzeit, die Peter nur ungern gewährte, da er die finanzielle Unterstützung der alten Dame dringend benötigte. Dennoch blieb er freundlich und zuvorkommend – ohne zu lächeln.

Volle zwei Stunden musste er beim Zahnarzt warten, und als er endlich behandelt wurde, erklärte ihm Doktor Hensen, dass die Verfärbung ein natürlicher Prozess und durchaus nicht ungewöhnlich sei. Peter bestand darauf, dass der Schatten kaschiert wurde.

Mit dem Gefühl des Neugeborenseins verließ er die Praxis. An der Mailsäule rief er sich ein Flugtaxi, das ihn nach Hause beförderte.

Er tänzelte ins Bad und begutachtete das Werk des Doktors. Der Zahn blitzte weiß. Peter seufzte befreit. Morgen würde er einen neuen Termin mit Madame Teytusso vereinbaren und sie mit seinem Charme dazu bringen, den Vertrag zu unterzeichnen. Eine Weile betrachtete Peter seine für ihn so wichtigen Mundwerkzeuge, dann stutzte er. Sein Herz schlug zu schnell, sein Magen verkrampfte sich Der Weisheitszahn auf der anderen Seite wies ähnlich verfärbte Stellen auf. Den Rest des Tages und die halbe Nacht versuchte er Dr. Hensen zu konsultieren, vergeblich. Am nächsten Morgen sagte er alle Termine ab. Über Nacht hatte sich der am Tag zuvor überdeckte Belag durch den künstlichen Zahnlack gedrückt. Winzige, aneinandergereihte Punkte verunzierten seine unteren beiden Weisheitszähne; putzen schien alles nur noch schlimmer zu machen.

Er kratzte mit dem Fingernagel daran, holte sich schließlich ein Messer und einen Schraubenzieher zur Hilfe. Doch damit rieb er lediglich das Zahnfleisch blutig, die Flecken aber blieben.

Doktor Hensen schliff zunächst die Zähne ab, überpinselte sie mit einer Lasur und behandelte abschließend das verletzte Zahnfleisch.

 »Was haben Sie sich denn dabei gedacht, Herr Paprini?«, fragte er, während Peter mit offenem Mund auf dem Behandlungsstuhl saß. »Diese Flecken werden vermutlich immer wieder kommen, ich kann sie abschleifen, überpinseln, aber irgendwann muss ich die Zähne ziehen, wenn es Sie so stört. – Bitte ausspülen!«

Nachdem Peter feinen Staub und Blut ausgespuckt hatte, bat er: »Ziehen Sie die Zähne – wenn es sein muss, sofort. Ich kann mit solchen Makeln nicht agieren.«

»Beim nächsten Mal, Herr Paprini, beim nächsten Mal.« Damit verabschiedete sich der Arzt und verließ den Raum.

Mit dem Papierschutz tupfte sich Peter erst den Mund ab, dann den Schweiß von der Stirn. Kurz bevor er zum Ausgang ging, schnappte er Wortfetzen des Gesprächs zwischen Dr. Hensen und seiner Arzthelferin auf.

»Ich glaube, er weiß es nicht«, sagte Dr. Hensen leise.

»Aber das muss ihm doch jemand gesagt haben«, meinte die Arzthelferin, deren Namen Peter noch nie erfragt hatte.

»Das ist nicht meine Aufgabe. Ich sorge nur dafür, dass ein Teil von ihnen reizvoll bleibt. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei, aber von mir erfährt es Paprini nicht.«

Peters Herz setzte einen Schlag aus.

Sie sprachen von ihm? Er wollte nicht mehr mit anhören und stürzte aus der Praxis. Seine innere Balance pendelte wie ein aus dem Gleichgewicht geratenes, antikes Uhrwerk. Peter musste den Kopf freibekommen und wählte den Weg durch die unterirdisch angelegten Parkanlagen. Das Taxi wäre ihm zu schnell gewesen, außerdem hätte er herumfliegende Leichenteile nicht ausgehalten. Auf der Oberfläche war es Fußgängern verboten, sich fortzubewegen, aber täglich setzten sich Wahnsinnige dem Verkehr aus – Wahnsinnige oder Selbstmörder. Davon gab es genug in dieser Zeit.

Peter bemerkte, wie sich eine tiefe Falte zwischen seine Augen zog. Sofort entspannte er seine Gesichtsmuskeln und strich mit Zeige– und Mittelfinger über die Stirn. Erfolgreich. Eine Falte konnte er nun nicht auch noch gebrauchen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf schritt er über die schmalen, mit Plastersteinen ausgelegten Wege, die mit Lampen im Stil des 19. Jahrhunderts gesäumt waren. Spärliche bepflanzte Gärten, eingezäunt mit verschnörkelten Metallzäunen, boten einen lieblichen Anblick. Peter ging schneller und ließ diesen Abschnitt rasch hinter sich, er durchquerte einen verwilderten Wald. Der Boden bestand aus weichem Moos, reich belaubte Äste streichelten ihn beim Vorbeigehen. Eine Schlange kreuzte seinen Weg und wand sich zischelnd an seinen Füßen vorbei. Wenige Schritte weiter betrat er asphaltierten Boden, links und rechts von ihm erstreckten sich Sandflächen, auf denen Spielgerüste standen, nur wenige Kinder kletterten darin herum. Die Unterlandschaft war traditionellen Epochen aus verschiedenen Ländern nachempfunden. Keine originelle Idee, sondern durch einen Streit zwischen den Architekten entstanden. Zu einer Einigung war es nie gekommen, und so hatte jeder sein Parkgelände nach eigenem Ermessen erbaut. Ein einzigartiges Tunnelerholungsgebiet war entstanden, das viele Touristen anlockte. Doch Peter ließ sich jetzt von den leicht quietschenden und altertümlichen Roboterfahrzeugen aus den Jahren 2008 bis 2012 nach oben kutschieren und verschmähte den Dschungel, der als Nächstes hätte bezwungen werden müssen.

Die Luft flimmerte in der Hitze des Spätsommers, Sauerstoff und Ozon hatten sich zu einem schweren Gas vermischt. Das Atmen fiel Peter schwer, als er sich vor seine Haustür stellte, von der elektronischen Security mittels Headscan erkannt wurde und Einlass in sein Heim erhielt.

Erschöpfung legte sich über seinen Körper und er wünschte sich ins Bett, doch zuerst wollte er einen Blick in den Spiegel werfen. Als er das Bad betrat, schaltete sich das Licht automatisch ein. Er lächelte seinem Spiegelbild gequält zu.

Wovon hatte Dr. Hensen nur gesprochen?

Peter öffnete zaghaft den Mund und starrte in seine Mundhöhle. Er konnte den Blick nicht abwenden, sein Kiefer knackte. Wie paralysiert schaute Peter auf seine unteren beiden Weisheitszähne – hin und her, hin und her wanderten seine Augäpfel. Er ging nah an den Spiegel heran, Stirn und Lippen prallten dagegen. Er schloss den Mund und lehnte eine Wange an die kalte Fläche. Seine Schultern zuckten langsam auf und ab, dann schneller, Tränen tropften aus seinen Augenwinkeln und er begann zu schluchzen. Warum schien Dr. Hensen nicht mehr in der Lage, Peters Zähne so zu bearbeiten, dass sie makellos blieben? Ein Dilettant, das musste er sein. Aber nein, Hensen war eine Koryphäe auf seinem Gebiet – immer gewesen. Doch der Belag mochte noch in der Arztpraxis verschwunden gewesen sein, jetzt haftete er wieder an den Zähnen: winzige, aneinandergereihte Punkte, als seien es Mohnrückstände, aber er aß niemals Mohn.

Peter schlug mit der Stirn gegen den Spiegel. Er lebte doch nicht im Mittelalter. Die medizinischen Möglichkeiten galten als revolutionär. Warum war es nicht möglich, ein paar alberne Flecken von seinen sonst so makellosen Zähnen zu entfernen?

Wieder blickte er in den Spiegel, bleckte seine Zähne und dachte an seinen Opa, der – als er vor zehn Jahren verstorben war – keinen einzigen Zahn mehr besaß. Er war ein armer Mann gewesen und hatte über keinerlei Rücklagen verfügt, die ihm eine ärztliche Versorgung in irgendeiner Form ermöglicht hätten. Whisky gäbe es immer, hatte er gesagt. Whisky sei die Medizin für die Armen – und das von Geburt bis Untergang der Erde. So ähnlich begannen alle Geschichten, die Peters Opa zu erzählen wusste. Doch Peter wollte nicht an diese uralten Erzählungen denken, sondern an Whisky. Dieses malzige, hochprozentige Gesöff würde ihm einen Einfall bringen. Wenn du nicht weiter weißt, trink einen Whisky – auch ein Lebensmotto seines Opas.

Peter rannte in die Küche, noch im Türrahmen gab er einen Befehl: »Whisky, hochprozentig, Marke egal.«

Aus dem Drink-O-Mat klangen leise klickernde Geräusche. Wenige Sekunden später stellte eine biegsame Roboterhand ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit, in der runde Eiswürfel schwammen, auf die Ablagefläche. Peter hatte die Stimme des Automaten vor einiger Zeit abgestellt, da ihn das piepsende »Prost!« und »Wohl bekomms!« genervt hatte. Auch die ausländischen Sprüche wie »Na sdarowje«, »Skol«, »Slainté« oder »O’zapft is!« hatte er längst nicht mehr hören können.

Jetzt wünschte er sich, er wüsste den Code, um diese Funktion neu einzustellen, das gäbe ihm vielleicht das Gefühl, nicht allein zu sein. Seine Hand zitterte, als er nach dem Glas griff und den Whisky in einem Zug hinunter kippte. Er schüttelte sich, der Alkohol brannte in der Kehle und im Magen.

»Noch einen!«

Der Drink-O-Mat reagierte nicht. Der Computer hätte in diesem Fall mitteilen müssen, um welches Problem es sich handelte. »Bitte geben Sie eine genaue Bezeichnung an!«, lautete es meistens. Doch ohne Stimme keine Mitteilung. Wütend warf er das Glas in eine Ecke, wo es polternd zu Boden fiel und nicht zerbrach. Es bestand aus unzerbrechlichen Material.

In welcher seiner Gehirnwindungen hatte sich nur der Einschaltcode versteckt? Peter trat auf den Getränkeautomat zu. Nie hatte er sich für die Funktionalität der technischen Geräte in seiner Küche interessiert, sie gehörten zur Grundausstattung jeder Wohnung. Er ging leicht in die Hocke und stierte durch die Öffnung, durch die der Roboterarm die Gläser, gefüllt mit jedem gewünschten Getränk, schob. »Ich möchte ein Whisky, Alter, Herkunft nicht von Belang.« Einige Sekunden lang geschah nichts, dann gurgelte es im Inneren. Mit einem viel zu lauten Geräusch und einer unerwarteten Geschwindigkeit fuhr die Metallhand aus der Öffnung heraus und traf Peter mit Wucht ins Gesicht. Er schrie auf, presste die Hände gegen die Nase, bog sich vor Schmerzen und stürzte ans Spülbecken. Blut tropfte auf das sich selbst reinigende Metall.

»Was für ein Scheiß-Tag!«, fluchte Peter, betastete vorsichtig seine Nase und spürte Erleichterung, als er feststellte, dass sie nicht gebrochen war. Wütend fuhr er herum und trat gegen den Kasten. Seinen aufgestauten Frust ließ er an dem Drink-O-Mat aus, indem er ihn mit Füßen und Fäusten traktierte, bis er erschöpft neben dem Gerät zusammen sackte. Er atmete stoßweise, Schweiß überzog seine Stirn, Blutreste klebten an seiner Nase – aber er lächelte.

»Jetzt bin ich wenigstens nicht der Einzige hier mit Macken.« Sein Grinsen wirkte verzerrt. Eine Weile betrachtete er zufrieden eine von ihm geschlagene Beule im Metall, kleine Lacksplitter waren an dieser Stelle abgesprungen. Dann runzelte Peter die Stirn. Mit dem Handrücken wischte er sich darüber und beugte sich zu der Delle hinunter. Zahlen schimmerten unter der Farbe hervor. Eine 0 und eine 8 erkannte er. Und den Teil einer weiteren Zahl, teilweise verborgen hinter der oberen Schicht. Mühselig richtete sich Peter auf und zog aus einer Schublade ein Messer hervor, mit dem er  am Metall kratzend und schabend die Ziffern auf dem Drink-O-Mat freilegte:

15/08/2020

Irritiert stierte er auf das Datum. 15/08/2020, das war heute.

»Soll das heißen,« sprach er zu dem Automaten, »das ist dein Todesdatum? Aus, Ende, Feierabend? Jetzt darf ich dich verschrotten lassen? Am 15.08.2020 verstarb mein alles geliebter Drink-O-Mat? Er war mir stets ein treuer Diener?« Peter warf den Kopf in den Nacken und lachte hysterisch. Kichernd wie ein Kind – oder ein Wahnsinniger –, legte er sein Kinn auf die Brust, rieb sich Tränen aus den Augen, das Messer hielt er dabei fest in der Hand. Er gluckste, dann erstarb jegliches Geräusch aus seiner Kehle. Langsam nahm er die Hand herunter und hob den Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ins Leere. Sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab, als er mehrfach schluckte.

Als stünde der Boden unter ihm in Flammen, sprang er auf, stürzte aus der Küche ins Bad und vor den Spiegel. Er öffnete den Mund mit solch einem Ruck, dass der rechte Mundwinkel einriss. Peter ignorierte den Schmerz und versuchte zu erkennen, ob sich die dunklen Punkte auf seinen Weisheitszähnen verändert hatten. Er stöhnte gequält auf, als er erkannte, dass sich die Flecken nicht nur vermehrt hatten, sondern nun auch eine Kontur besaßen.

Verwirrt blickte sich Peter um, irgendwo in einer Schublade in dem Apothekerschrank musste eine antiquierte Lupe liegen. Mit zu viel Schwung zog er die Laden nacheinander auf, zwei davon flogen aus den Schienen und landeten samt Inhalt auf dem Boden. Peter durchsuchte alles. Ohne Ergebnis. Er ließ sich auf den Boden sinken, zog die Beine an und atmete so laut, als litt er an Asthma. Dann erinnerte er sich. Er hatte die Lupe erst kürzlich verwendet – in seinem Schlafzimmer, wo er seine Pediküre vollzog. Um eine winzige Ecke seines Zehennagels abschneiden zu können, hatte er das Vergrößerungsglas benötigt. Er stürmte ins Schlafzimmer und schrie triumphierend auf, als er die Lupe auf dem Nachttisch entdeckte.

Im Badezimmer steckte er sich das runde Glas so tief in den Mund, dass er sich beinahe den Kiefer ausrenkte, aber das erschien ihm das kleinere Übel, nachdem er hinter der Verfärbung auf seinen Zähnen ein Schema zu erkennen glaubte. An manchen Stellen waren die Punktierungen noch nicht vollständig zu sehen, doch Peter ahnte, was in wenigen Stunden vollständig sichtbar sein würde.

Auf beiden Zähnen standen vier Zahlen, die spiegelverkehrt entschlüsselt folgendes ergaben:

 

 

Das Ablaufdatum des Drink-O-Mats ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: 15/08/2020

Er selbst hatte nur noch sechs Monate zu leben. Das hatte Dr. Hensen also gemeint, als er sagte, wenn es vorbei sei, dann sei es vorbei.

Bei Peter sollte es also schon bald vorbei sein. Er dachte an Madame Teytusso und ihr Gesicht, an Gerüchte über die Schönheitschirurgie. Er ahnte, dass er zu denjenigen gehörte, deren Mimik weiter leben würde, auf der hässlichen Fratze eines alten, reichen Bastards. Wütend knallte er die Lupe gegen den Spiegel, ein riesiges Spinnennetz breitete sich darauf aus und warf sein Gesicht in verzerrten Facetten zurück. Er wandte den Blick ab und dachte nach. Es blieb ihm nicht viel Zeit, darum nahm er sich einen Lippenstift, den seine letzte Freundin Marie hier vergessen hatte und schrieb in großen Buchstaben sein Todesdatum auf den zerbrochenen Spiegel. Täglich sollte es ihn daran erinnern. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, dagegen anzukämpfen. Seine Zunge steckte zwischen seinen leicht geöffneten Lippen und seine Augen glänzten, teils vor Tränen, teils vor Fieber, das in ihm aufflackerte – auf der Suche nach der Wahrheit und einem Ausweg.

Tagelang recherchierte er im I-Net und erreichte weltweite Aufzeichnungen – Bibliotheken, wie es sie einst gegeben haben sollte, existierten nicht mehr. Er entdeckte nichts, das ihn vom Gegenteil überzeugte. Er stieß auf verschiedene Spekulationen über den Schönheitswahn. Und Informationen über das genetische Ablaufdatum fand er wiederholt. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Während der künstlichen Zusammenführung von Ei und Samen wurden die gewünschten Veranlagungen beigemischt: Kraft, Intelligenz, Perfektion, Schönheit genauso wie negative Eigenschaften.

Geld regierte die Welt, wer ausreichend davon besaß, brauchte sich um nichts zu sorgen, schon gar nicht um sein Äußeres. Viele ließen auf diese Weise ihr persönliches Ersatzteillager züchten. Und so erhielt jeder ein genetisches Ablaufdatum, das in seltenen Fällen sichtbar wurde. Die übertriebene Zahnbehandlung hatte es in Peters Fall freigelegt. Bei einigen der Probanden wurde das genetische Datum auf Herzmuskeln oder Lungenflügeln entdeckt. Sie hatten keine Chance, dem vorbestimmten Datum zu entkommen, ihre Körper wurden vollständig – auf Bestellung – weiter verwendet. 

Peter interessierte es nicht, wer ihn hatte züchten lassen, er verfolgte einzig den Wunsch, diesen Abonnenten in den faltigen Hintern zu treten.

Er verließ die Wohnung, ohne sich die Zähne zu putzen. Welchen Zweck hatte das noch? Er wählte nicht den unterirdischen Weg, wie vorgeschrieben, sondern schritt über die Erdoberfläche. Die Luft war dick und stank. Hupende Bodenvehikel wichen ihm aus, die Taxiflieger zogen hektisch nach oben, sobald er in Sichtweite kam. Warum überfuhren sie ihn nicht? Über eine Stunde – so lange wie nie zuvor in seinem Leben – atmete er die verseuchte Luft ein. Bis auf ein Brennen in den Lungen fühlte er sich lebendig. Dann hörte er den Alarm. Die Security. Gleich würden sie ihn ergreifen und nach Hause schleppen. Er wandte sich um und erschrak. Nur wenige Meter von ihm entfernt lag ein abgetrennter Kopf. Suchend sah sich Peter nach dem dazugehörigen Körper um. Drei Security-Robots luden ihn in diesem Augenblick ein, dann kamen sie auf Peter zu. Während einer der Dreien den Kopf in eine Tüte packte, stellten sich die anderen Beiden vor ihn und sagten im Duett: »Herr Paprini, gehen sie nach Hause. Ihre Zeit ist noch längst nicht reif.«

Ohne zu zögern, folgte er. Fragen hätte keinen Zweck gehabt, die Robots gaben nie Antworten. Es wunderte Peter jedoch, dass sie ihn persönlich angesprochen hatten. Jeder wusste es also. Sie wussten es! Nur ihm hatte nie irgendjemand etwas gesagt. Aber wer hätte das auch sein sollen? Die Zieheltern – Roboter aus biegsamem Metall, damit sich die Kinder an sie kuscheln konnten? Selbst der Drink-O-Mat hatte mehr Wärme besessen, der spuckte wenigstens warme Getränke aus. Früher zumindest. Aber sein Opa war ein richtiger Mensch gewesen. Er hätte ihm doch etwas sagen können.

Als Peter seine Wohnung betrat, ahnte er, dass etwas in oder an seinem Körper wichtig sein musste, nur darum durfte er jetzt noch nicht sterben. Eine andere Erklärung gab es nicht.

 

Die nächsten Wochen und Monate verbrachte Peter in Kliniken. Er verabschiedete sich von seinem  Äußeren. Nun verunzierten Narben seinen einst so perfekten Teint, seine Zähne waren nun gelb und unregelmäßig. Den athletischen Körper unterstützte er weder mit Tabletten, noch trainierte er manuell für die Figur. Stattdessen ließ er sich Fett unter die Haut spritzen. Er verseuchte seinen Organismus mit allem, was es auf dem illegalen Markt zu kaufen gab, bis ein großer Teil seiner finanziellen Rücklagen aufgebraucht waren.

Am 22.02.2021 lag er auf seinem Bett und wartete. Sein Körper glich dem eines kranken, alten Mannes. Das Gesicht pausbackig und mit Narben überzogen. Nichts erinnerte an den einst smart aussehenden Peter Paprini.

Draußen schneite es.

Der Tag verstrich, die Nacht brach an. Als die Ziffern auf 23 Uhr 59 klickten, verabschiedete sich Peter in Gedanken von der Welt und freute sich, dass niemand seinen Körper weiterverwenden wollte. Er grinste – sein gelbschimmerndes Lächeln wies Zahnlücken auf – und schlief ein.

Am 23.02.2021 um 7 Uhr 35 erwachte Peter, ausgeruht aber zutiefst beunruhigt. Was war geschehen? Er lebte noch, oder war das der Himmel? Die Hölle? Es musste die Hölle sein, wenn er in diesem heruntergekommen Zustand weiter leben sollte.

Die Zahlen in seinem Mund waren das Datum seines Todes. Gestern. Das wusste er genau. Alles deutete darauf hin, niemand hatte ihm in all der Zeit widersprochen. Aber es hatte ihm auch niemand zugestimmt.

Peter quälte sich aus dem Bett. Obwohl er sein Äußeres und Inneres sträflich behandelt hatte, hatte er stets Wert auf saubere Kleidung und tägliches Duschen gelegt. Seine penetrante Reinlichkeit hatte er nicht ablegen können.

Im Bad stach ihm das Datum ins Auge. Müde trat er an den Spiegel heran und übersah die Pfütze, die von seiner gestrigen Duschorgie zurückgeblieben war. Er hatte sie am Vorabend nicht mehr entfernt – hatte es nicht für wichtig erachtet, wo er doch längst tot hätte sein müssen. Mit einem Aufschrei rutschte er in der Wasserlache aus und stürzte. Noch vor einem halben Jahr hätte er sich ohne viel Mühe am Waschbecken halten können, doch seine von Gicht befallenen Finger ließen keine schnelle Reaktion zu. Seine rechte Hüfte knackste. Ein Schmerz brannte auf, so stark, dass ihm übel wurde. Er brüllte. Dann lag er wimmernd auf dem sich erwärmenden Metallboden, versuchte sich hochzustemmen, doch die gebrochene Hüfte hinderte ihn daran. Er betätigte seinen Bizeps-Caller, den er sich unter die Haut hatte implantieren lassen – seinen Prototyp – und alarmierte die Ambulance. Peter weinte, doch das Weinen ging in ein verrücktes Lachen über.

Als er drei Monate später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, entgiftet, entschlackt, vollkommen wiederhergestellt und so gut aussehend wie nie zuvor, hatte er auch den Vertrag für die serielle Herstellung seines Bizeps-Callers in der Tasche und sein leeres Konto aufgefüllt. Madame Teytusso hatte ihn im Krankenhaus besucht, ihr Bedauern zum Ausdruck gebracht und ihm ein großzügiges Angebot gemacht.

Mit dem zufriedenen Gefühl, seinen Körper wiederbekommen zu haben und der Vorbestimmung vom OP-Tisch gesprungen zu sein, betrat Peter seine Wohnung. Er hatte die Räume reinigen sowie den Spiegel und den Drink-O-Mat auswechseln lassen.

Auf dem Tisch in der Küche lag ein Zettel. Peter nahm die Nachricht in die Hand und überflog die Zeilen der Reinigungsfirma, die ihren Auftrag als erledigt betrachtete und ihm alles Gute wünschte, die Honorierung würde von seinem Konto abgebucht werden. Am Ende stand ein P.S.: »Wir haben die Nummer auf dem Spiegel aufgeschrieben, falls Sie diese noch benötigen.«

Während Peters Körper erstarrte und jegliche Lebensfunktionen daraus zu entwichen schienen, zitterte seine Hand so stark, dass sich die Zahlen, die auf dem Zettel standen, vor seinen Augen wie  Schlangen wanden.

 

 

Sein Gehirn hatte ihm einen Streich gespielt und die Zahlen in die falsche Reihenfolge gebracht. Schon als Kind war er nie in der Lage gewesen, Spiegelschrift zu deuten.

Alles war umsonst gewesen, sie hatten es gewusst. Alle.

Ihm blieben nicht mal mehr neun Monate...