Die Blase zog sich blitzschnell wieder zusammen, formte sich zurück zu dem Dach, aus dem sie gewachsen war. Soweit Kyra erkennen konnte, hatte das Gebäude dabei nicht den geringsten Schaden genommen.

Atemlos raste sie durch den schwarzen Sternenhimmel, unter sich nichts als die brüchigen Fasern des Teppichs, während Dea neben ihr auf dem knorrigen Ast saß und die Beine ins Leere baumeln ließ. Kyra konnte nicht abschätzen, wie schnell sie waren; fest stand nur, dass sie rascher flogen, als jeder Zug oder jedes Auto fahren konnte. Unter diesen Umständen war es unmöglich, miteinander zu sprechen – der Flugwind riss ihnen die Worte von den Lippen, und schließlich gaben sie auf und schwiegen.

Kyra spürte, dass der Teppich dort, wo sie sich festklammerte, ganz feucht wurde vom Schweiß ihrer Handflächen. Alarmiert erinnerte sie sich an das, was Dea über den Teppich bei Regen gesagt hatte. Rasch zog sie die Hände fort und saß jetzt ganz frei, ohne jeden Halt, über dem dahinrasenden Abgrund. Nach einer Weile gewöhnte sie sich daran und verschränkte die Arme vor der Brust, so wie sie es aus alten Filmen kannte, in denen die Helden aus Tausendundeiner Nacht um die Minarette und Zwiebeltürme Bagdads sausten. Der Gegenwind war erheblich, er zerzauste ihre Haare und drang eisig durch ihre dünne Kleidung, aber nie bestand auch nur die geringste Gefahr, dass er sie von dem Teppich hätte reißen können. Dea behielt Recht: Kyra saß da wie festgeklebt.

Unter ihnen schoss die nächtliche Landschaft dahin, ein Netzwerk aus grünen Wiesen, kleinen Ortschaften und schmalen Landstraßen, eingefasst mit hohen Hecken. Einmal wurden sie ein Stück weit von einem Schwarm umherwuselnder Fledermäuse begleitet, der jedoch bald in einer einsamen Turmruine im Niemandsland verschwand.

Es dauerte nicht lange, da erreichten sie die ersten Ausläufer des Bodmin Moors. Über Hügel und stille Wasserlöcher flogen sie dahin, bis vor ihnen im Osten eine ovale Fläche auftauchte, still und schimmernd unter dem Firmament.

Dozmary Pool. Eines der Portale zur Anderswelt.

Vor lauter Aufregung über den Flug auf dem Teppich hatte Kyra die Nymphen fast vergessen. Als sie jetzt aber über ihre Schulter zurückschaute, sah sie, dass eine ganze Heerschar der Wassergeister ihnen folgte, zweihundert, dreihundert Meter entfernt.

Dea verlangsamte die Geschwindigkeit des Mistelzweigs. Als Kyra es bemerkte und nur daran dachte, dass es wohl besser sei, wenn auch sie jetzt abbremste, reagierte der Teppich sofort. Sanft schwebten die beiden der Wasseroberfläche entgegen, und jetzt konnten sie sich wieder verständigen.

»Wie geht’s nun weiter?«, fragte Kyra.

Dea webte mit ihren Händen ein Netz aus leuchtenden Fäden in die Luft. Das glühende Muster senkte sich langsam auf das Wasser hinab, und dort, wo es die Oberfläche berührte, entstand ein tunnelförmiger Strudel, genau wie jener, durch den die Nymphen Kyra hatten entführen wollen.

Einmal mehr konnte Kyra ihre Zweifel an Deas Plan nicht zurückhalten. »Aber landen wir so nicht genau vor Morganas Haustür?«

»Nein. Wer die Macht dazu hat, kann steuern, wohin das Tor einen führt. Zumindest in einem gewissen Umkreis. Aber unser Ziel ist nicht allzu weit von Morgana entfernt.«

»Was ist unser Ziel?«, wollte Kyra wissen. Erneut schaute sie nach hinten und sah, dass die zornigen Nymphen noch näher gekommen waren.

»Nimues Hort«, entgegnete Dea. »Die Festung der Dame vom See. Sie wird von Morganas Truppen belagert.«

Kyra erschrak. »Wir fliegen mitten in einen Krieg?«

»Ich fürchte, ja. Vertrau mir.«

»Klar doch«, entgegnete Kyra griesgrämig. »Aber was, wenn irgendwer mit einer Kanone meinen Teppich abschießt?«

»Mit einer Kanone?« Dea lachte leise. »Kyra, ich glaube, du wirst ziemlich überrascht sein.«

Die Nymphen waren jetzt nur noch fünfzig Meter hinter ihnen.

»Ab in den Strudel«, rief Dea lauthals. »Schnell!«

Kyra schloss die Augen und tat ihr Möglichstes, sich zu konzentrieren. Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Teppich in den Wassertunnel hinabschoss, wie sie durch eine Zone völliger Dunkelheit und dann in einen Bereich gleißenden Lichts flog, um schließlich, ganz abrupt, über einer uralten, mittelalterlichen Festung zu schweben.

Als sie die Augen wieder öffnete, war ihre Vision Wirklichkeit geworden.

»Aber … aber das ist …« Mehr bekam sie nicht heraus. Der Schock saß zu tief. Sie hatte ihre Welt verlassen, ohne es körperlich zu empfinden, und nun war sie … anderswo.

Mitten in der Anderswelt.

Und ihre Befürchtung erwies sich als richtig: Um sie herum herrschte Krieg.

Auf Teppich und Mistelzweig schwebten Kyra und Dea über den Zinnen einer mächtigen Festung aus dunklem Stein. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Kyra, dass die Mauern früher einmal weiß gewesen sein mussten – die schmutzige Schwärze rührte von zahllosen Rußflecken, wo Feuerkugeln oder andere, vielleicht magische Geschosse von der Festung abgeprallt waren.

Das Gemäuer bestand aus einem gewaltigen runden Turm, um den sich mehrere zinnengekrönte Mauerringe zogen. Er erhob sich auf einer Insel, deren Ränder mit dem äußeren Mauerwall abschlossen – sie war genauso groß und rund wie die Festung selbst. Das Eiland wiederum lag in der Mitte eines Sees, an dessen Ufern zahllose Zelte mit schwarzen Wimpeln errichtet worden waren – das Lager der Feinde, Morganas Armee. Sie hatte den See komplett umzingelt.

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