Die Frau auf dem Mistelzweig stieß ein triumphierendes Lachen aus, zog einen weiten Kreis über den See und landete dann ganz in der Nähe von Kyra und den Kühen im nassen Gras. Hinter ihr glättete sich schlagartig die Wasseroberfläche.

Kyra richtete sich langsam auf.

»Danke«, sagte sie beklommen. Etwas Besseres fiel ihr im Augenblick nicht ein. Sie war wie benebelt. Ihre Haut juckte noch immer, wo der Staub sie berührt hatte.

»Ich hoffe, du glaubst mir jetzt, dass die Lage ernst ist«, sagte die Frau mit einem Lächeln.

»Ich hätte Ihnen auch vorher geglaubt. Sie mussten nicht erst abwarten, bis die versuchen, mich umzubringen.«

Die Frau strich ihre langen Locken nach hinten über die Schulter. »Ich dachte, dass es besser ist, wenn du dich mit eigenen Augen von der Gefährlichkeit Morganas überzeugst.«

»Und wenn die mich schon früher erwischt hätten?«, fragte Kyra grimmig. »Oder Sie zu spät gekommen wären?«

Die Frau schmunzelte. »Dann hättest du dir eben selbst helfen müssen.«

»Ich?« Allmählich wurde Kyra wirklich wütend. Die Spielchen der geheimnisvollen Fremden waren ihr ein wenig zu risikoreich. »Ich kann nicht auf Ästen reiten! Und dieses Glitzerzeug hab ich zufällig auch nicht dabei.«

»Oh«, machte die Frau erstaunt, »natürlich kannst du auf Ästen reiten! Und was das hier angeht« – sie schwenkte einen Lederbeutel mit Zauberstaub –, »das ist nur Salz.«

»Salz?«

»Na ja, mehr oder weniger.«

Kyra seufzte. »Wenn Sie eine Hexe sind, warum helfen Sie mir dann?«

»Ich habe die Kraft einer Hexe – genau wie du selbst, übrigens –, aber deshalb muss ich mich nicht wie eine Anhängerin des Arkanums aufführen. Nicht die Zauberkraft ist böse, sondern der, der sie besitzt. Es gibt auch gute Hexen, weißt du? Nicht viele, aber es gibt ein paar.«

»Wieso sagen Sie, dass ich auch solche Kräfte habe?«, fragte Kyra verwirrt.

»Als ob du das nicht längst wüsstest! Sie schlummern noch in dir, aber früher oder später wirst du lernen, sie zu beherrschen.«

Manchmal, vor allem aber, seit sie die Sieben Siegel trug, hatte Kyra tatsächlich das Gefühl, dass in ihr verborgene Talente auf eine Entdeckung warteten. Und das war kein überhebliches Gefühl – nein, sie konnte es spüren, tief in ihrem Inneren. Bislang hatte sie allerdings angenommen, dass sie mehr und mehr zu einer Dämonenjägerin wie ihre Mutter wurde. Nicht aber zu einer Hexe!

Überhaupt – ihre Mutter! Erneut beschlich sie ein sonderbarer Verdacht. Und doch, nein, ihre Mutter musste viel älter sein als die Frau mit dem Mistelzweig. Außerdem hatte Tante Kassandra ihr immer wieder erzählt, dass ihre Mutter tot sei. Und Kassandra hätte sie niemals belogen, unter gar keinen Umständen.

Kyra stand kurz davor, die Frau einfach darauf anzusprechen, als diese ihr zuvorkam und erneut das Wort ergriff. »Was haben die Nymphen gesagt, wohin sie dich bringen wollten?«

»Sie erwähnten so was wie das ›Land der Äpfel‹.«

Die Frau nickte nachdenklich. »Das ist ein anderer Name für die Anderswelt. Morgana erwartet dich dort.«

»Sie sind mir ein paar Erklärungen schuldig, finde ich.«

»Schon möglich.«

»Warum fangen Sie nicht mit Ihrem Namen an?«

Die Frau zögerte und strich geistesabwesend über das Fell der Kuh, hinter der Kyra in Deckung gegangen war. »Mein Name … nun, du weißt sicher, dass Namen magische Macht besitzen. Es wäre nicht gut, meinen so nahe beim Dozmary Pool zu erwähnen.«

»Doz … -was?«

»Dozmary Pool. So heißt dieser See. Hier erhielt König Artus von der Dame vom See sein Schwert Excalibur.«

Kyra kannte die Legende von König Artus und der Tafelrunde, weil sie ein paar Mal einen alten Film darüber im Fernsehen gesehen hatte – sonntags, wenn immer die alten Schinken liefen –, und auch Tante Kassandra hatte ihr davon erzählt, als Kyra noch ein kleines Kind gewesen war. Aber jedes Detail hatte sie nicht mehr im Kopf. So hatte sie keine Ahnung, welche Rolle diese Dame vom See gespielt hatte, und sie fragte danach.

»Die Dame vom See«, erklärte die Hexe, »ist eine mächtige Zauberin, ähnlich wie Morgana, nur dass sie niemals versucht hat, Macht über Menschen zu erlangen oder gar Tod und Verdammnis über die Welt zu bringen. Hin und wieder, wenn sich die Waage des Schicksals allzu sehr zur guten oder schlechten Seite neigt, greift sie in die Ereignisse ein. So war zum Beispiel sie es, die den Ritter Lancelot großzog, der später Artus’ treuester Gefährte wurde.«

Kyra erinnerte sich. »Hat Lancelot Artus nicht die Frau ausgespannt?«

»Na ja, das auch. Trotzdem hat er den König nie verraten, und selbst als Lancelot wegen seiner Liebschaft mit Genevra verbannt wurde, hielt er Artus aus der Ferne die Treue und kämpfte in der Fremde für dessen Ziele.« Die Frau nahm Kyra an der Hand und führte sie von den Kühen weg zum schlammigen Seeufer.

»Hier erschien die Dame vom See dem Zauberer Merlin und gab ihm all das Wissen mit auf den Weg, das er benötigen sollte, um aus Artus einen guten König zu machen. Viel später aber verlangte sie ihren Preis dafür, vielleicht auch, weil Merlin zu mächtig für einen Sterblichen geworden war. Sie verbannte ihn in eine Gruft aus Glas, tief in einem Wald in Frankreich. Wie gesagt, sie hat nicht nur Gutes getan, sondern immer das, was aus ihrer Sicht notwendig war, um die Waagschalen von Gut und Böse im Gleichgewicht zu halten.«

»Und Excalibur?«

»Excalibur war das legendäre Schwert der Macht, von dem schon damals zahllose Legenden erzählten. Die Dame erschien den Menschen hier an diesem See und überreichte das Schwert, damit es zum Guten eingesetzt und Britannien in eine friedliche Zukunft geführt werden möge. Als Artus Jahrzehnte später von seinem Sohn Mordred getötet wurde, überreichte er das Schwert sterbend einem seiner Ritter, der es zurück in den Dozmary Pool warf – in diesen See.«

»Dann liegt es vielleicht noch immer dort unten?«

Die Frau lachte. »Das bezweifle ich. Viele sind hinabgetaucht und haben nichts gefunden außer Schlick und Morast. Aber der Dozmary Pool ist einer der uralten Eingänge zur Anderswelt, zum Totenreich der Kelten. Wer fest genug daran glaubt, kann durch ihn die andere Seite betreten. Doch die wenigsten glauben heutzutage noch an die alten Mythen, und deshalb ist es seither nur einer ganz kleinen Zahl von Auserwählten gelungen, das Tor im See zu durchschreiten.«

»Aber wurde Artus nach seinem Tod nicht zur Insel Avalon gebracht?«

Die Frau lächelte. »Avalon ist nur ein Symbol. Weißt du, was der Name bedeutet? Land der Äpfel. Na, klingelt’s jetzt bei dir?«

»Avalon steht für die Anderswelt?«

»Ganz genau. Die drei Königinnen trugen Artus in die Anderswelt, damit er dort schlafen kann, bis Britannien einmal mehr seine Hilfe benötigt.«

»Diese drei Königinnen –«

Die Frau unterbrach Kyra: »Die eine war Morgana, du hast sie im Museum sicher gesehen.«

Kyra erinnerte sich an die Königin in Schwarz und nickte. »Und die beiden anderen?«

»Die zweite war Nimue – so lautet der wahre Name der Dame vom See. Und die dritte, jene ohne Namen, war die Königin des Wüsten Landes, über die man heute so gut wie nichts mehr weiß. Sie ist aus der Erinnerung der Menschen verschwunden.«

Kyra überlegte fieberhaft. »Die Zahl drei, ist das ein Zufall?«

»Du bist clever«, lobte die Frau sie. »Nein, es ist kein Zufall. Als die drei Königinnen gemeinsam mit Artus in die Anderswelt übersetzten, blieb etwas von ihnen in unserer Welt haften: Ihre Schatten verließen sie, weil die Schatten magischer Wesen den Übergang auf die andere Seite nicht so mühelos bewältigen können wie ihre Körper. Die Schatten der drei Zauberinnen blieben zurück, und ohne ihre Herrinnen sehnten sie sich nach der Macht und Magie, die sie einst besaßen. Diese Gier verdarb und veränderte sie. Aus ihnen wurden – du hast es sicherlich schon erraten – die Drei Mütter des Arkanums.«

»Die Drei Mütter waren einst nur Schatten!«, vergewisserte sich Kyra.

»Sie waren die Schatten der drei größten Zauberinnen, die diese Welt je gesehen hat, und mit einem Mal waren sie auf sich allein gestellt. Als Erstes erschufen sie sich Körper, die sie auch heute noch hin und wieder benutzen – allerdings nicht immer. Meist wandeln sie als Schatten über die Erde, und das bedeutet, sie können jederzeit an jedem Ort sein, ohne dass irgendwer sie bemerkt.« Die Frau seufzte. »Aber heute geht es nicht um die Drei Mütter, sondern um Morgana.«

»Warum ist sie hinter mir her?«, fragte Kyra.

»Weil sie wusste, dass ich dich um deine Hilfe bitten würde. Viele in der Welt der Magie sind auf dich aufmerksam geworden, spätestens seit du Trägerin der Sieben Siegel bist, und Morgana ist keine Ausnahme. Ich bekämpfe sie seit Jahrhunderten, und ich kenne ihre Macht, so wie sie die meine kennt. Bei unseren letzten Zusammentreffen gab es keine Siegerin und keine Verliererin. Sie weiß also, dass du eine Gefahr für sie bist, denn es gibt niemanden, dem ich mehr vertrauen würde als dir.«

Kyra hatte eine Million Fragen. Sie wusste gar nicht recht, wo sie anfangen sollte. Doch ehe sie auch nur ein einziges Wort über die Lippen brachte, sah sie, wie die sonderbare Frau ganz steif und angespannt wurde.

»Was ist?«, wollte Kyra wissen.

»Etwas … kommt«, flüsterte die Frau, und Sorge stand plötzlich in ihrem Blick. »Morgana. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so schnell vom Verlust ihrer Nymphen erholt. Aber wie’s scheint, habe ich mich getäuscht.« Wieder ergriff sie Kyras Hand und zog sie zurück zu den Kühen, wo noch immer der Ast mit dem Mistelzweig im Gras lag. »Wir hätten nicht so lange hier bleiben dürfen. Mein Fehler.«

Die Frau ergriff gerade den Ast und wollte Kyra dazu bewegen, sich mit ihr darauf zu schwingen, als die Oberfläche des Sees erneut in Bewegung geriet und sich an mehreren Stellen ausbeulte wie ein Tuch, unter dem sich die Umrisse von Steinen abheben. Die Beulen wuchsen an und brachen auf, als sich Köpfe daraus hervorschälten. Frauenköpfe. Nymphengesichter.

»Keine Zeit mehr, um davonzufliegen«, stieß die Frau atemlos aus. »Wir müssen dich auf anderem Wege in Sicherheit bringen.«

»Was ist mit Ihnen?«

»Allein werde ich schon mit ihnen fertig.« Sie wedelte rasch mit dem Salzbeutel. »Aber solange du bei mir bist, könnten sie dich als Geisel nehmen. Das ist zu gefährlich.«

»Geben Sie mir einfach was von dem Zaubersalz ab«, verlangte Kyra.

Die Frau strich ihr stolz über die roten Locken. »Du bist sehr mutig, Kyra. Und es wird die Zeit kommen, wenn du es mühelos mit Nymphen und schlimmeren Kreaturen aufnehmen kannst. Bis dahin aber musst du dich noch gedulden.« Sie lächelte Kyra aufmunternd zu. »Erinnerst du dich an das Cottage, in dem du und dein Vater untergebracht seid?«

»Rose Cottage? Natürlich erinnere ich mich.«

Was war das für eine Frage? Schließlich war es noch nicht lange her, dass sie dort gewesen war.

»Erinnerst du dich an den Geruch des Hauses?«

Das war schon schwieriger. »Hm, der Geruch … Ja, ich glaube schon.«

»Und an die Farben an den Wänden, in irgendeinem Raum?«

»Sicher.«

»Gut, dann konzentriere dich jetzt ganz fest auf die Farbe und den Geruch.«

Während Kyra versuchte, sich beides so gut wie möglich in Erinnerung zu rufen, blickte die Frau hastig über ihre Schulter zum See. Zwölf Nymphen erhoben sich aus dem Wasser. Dort, wo noch Wasser über ihre Körper perlte, schimmerte ihr wahres Wesen durch ihre menschliche Maskerade. Schwarze Hornpanzer blitzten auf, verschwammen mit magischem Fleisch und wurden wieder unsichtbar. Unter weißblondem Haar grinsten grausame Fratzen, bis der letzte Rest Wasser von ihnen abgefallen war und die Gesichter zu den Zügen atemberaubend schöner Frauen wurden.

»Okay«, sagte Kyra, »ich hab’s.« Es gefiel ihr nicht, dass die Frau allein mit den Wassergeistern kämpfen wollte, aber im Augenblick hatte sie keine andere Wahl, als zu gehorchen.

»Gut«, sagte die Hexe. »Konzentration – und …«

Der Rest ihrer Worte verhallte zu einem unverständlichen Echo, als die Welt rund um Kyra schlagartig in Finsternis versank und alle Geräusche sich zu lang gestreckten Lauten, zu Folgen von Lauten, zu Melodien verzerrten. Dann verklangen auch diese, und die Dunkelheit gewann an Stofflichkeit, wurde fühlbar, weich und kühl wie etwas, das sich gegen Kyras Gesicht presste.

Weich wie ein Kopfkissen, fand sie.

Sie hob den Kopf und stellte fest, dass sie tatsächlich in einem Bett lag, oben in einem der kleinen Schlafzimmer von Rose Cottage. Die Wände waren in einem hellen Grün gestrichen, und auch der Geruch stimmte überein. Die Frau hatte sie allein anhand ihrer Erinnerung zurückgeschickt, wie ein Flugzeug, das auf einem unsichtbaren Leitstrahl sein Ziel erreicht. Und das alles innerhalb von Sekundenbruchteilen.

Kyra sprang auf. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas unternehmen zu müssen. Die Frau war dort draußen am Dozmary Pool ganz auf sich gestellt. Sicher, sie war vorhin erst mit sechs Nymphen fertig geworden. Doch gerade eben waren mindestens zehn weitere aus dem Wasser gestiegen. Und was, wenn Morgana einfiel, selbst in Erscheinung zu treten? War die Frau einem Kampf gegen Wassergeister und deren Herrin gewachsen?

Aber Kyra wusste auch, dass sie hilflos war. Sie stand kaum auf den Beinen, da überkam sie schon eine solche Benommenheit, dass sie erschöpft zurück auf die Bettkante sank. Trotzdem – sie musste sich überwinden, musste jetzt stark sein.

Sie hatte ihren Reisewecker noch nicht ausgepackt, deshalb konnte sie nicht nachsehen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie das Haus verlassen hatte. Ob ihr Vater schon wieder daheim war? Jetzt würde er ihr zuhören müssen.

Sie stand abermals auf, und obwohl ihr weiterhin schwummerig und übel war, schleppte sie sich hinüber ins Schlafzimmer des Professors. Er lag in voller Montur auf dem Bett und schlief – sogar seinen Schlapphut hatte er noch auf. Er musste so erschöpft gewesen sein, dass er nicht mehr in Kyras Zimmer geschaut hatte, um Gute Nacht zu sagen. Das nahm sie ihm ziemlich übel.

Kyra, hallte plötzlich eine bekannte Stimme durch ihre Gedanken. Kyra, du darfst ihm nicht böse sein. Es ist meine Schuld. Ich habe einen Schlafzauber über ihn verhängt, damit er sich keine Sorgen um dich macht.

»Wo sind Sie?«, fragte sie laut, aber die Frau gab keine Antwort mehr.

Hoffentlich geschieht ihr nichts, dachte Kyra verzweifelt. Sie hatte noch nie zuvor ein so übermächtiges Gefühl der Nähe zu jemand völlig Fremdem verspürt. Nicht einmal zu Chris, den sie von der ersten Minute an gern gehabt hatte. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass sie sich von der Frau Antworten auf all ihre Fragen erhoffte. Noch nie war sie der Wahrheit so nahe gekommen, davon war sie mittlerweile überzeugt.

Sie konnte jetzt nicht einfach hier bleiben und abwarten, was weiter geschah. Sie musste etwas tun, irgendetwas, und wenn sie auf eigene Faust versuchte, mehr über die Hintergründe dieses ganzen Tohuwabohus zu erfahren.

Ihr Blick fiel auf die hölzerne Bücherkiste ihres Vaters. Ganz gleich, wohin er reiste, er hatte sie immer dabei. Darin bewahrte er einige der ältesten und wertvollsten Nachschlagewerke über die Mächte des Übernatürlichen auf.

Kyra gab dem schnarchenden Professor einen sanften Kuss auf die stoppelige Wange, dann begann sie, mit beiden Händen in der Kiste zu wühlen. Sie fand schnell, wonach sie suchte.

Aufgeregt blätterte sie zwischen den ledergebundenen Buchdeckeln, bis sie auf einen Eintrag stieß, der viel versprechend klang.

Morgana, stand dort, auch genannt Morgan Le Fey, Königin der Feen, Erste unter den Hexen, Grausamste unter den Zauberinnen.

Kyra holte tief Luft, dann begann sie zu lesen.