Kampf über dem Wasser

Kyra beobachtete genau, was Dea tat.

Es fiel ihr noch immer schwer, die fremde Frau als das zu akzeptieren, was sie war – ihre Mutter –, und sie hatte beschlossen, sie weiterhin Dea zu nennen, auch wenn sie tief in sich längst eine Vertrautheit spürte, die sie verwirrte, aber auch glücklich machte.

Dea war ihre Mutter. Und Dea war eine Hexe.

Genau wie Kyra selbst einmal eine sein würde, wenn Deas ominöse Andeutungen der Wahrheit entsprachen.

Nachdem sie die schlafende Besitzerin auf den Boden ihres Kassenhäuschens gelegt und ihr ein Kissen unter den Kopf geschoben hatten, waren sie tiefer in das Museum zurückgewichen. Gemeinsam waren sie durch das Labyrinth der Gänge gestreift, und immer wieder hatte Dea aus der einen oder anderen Ausstellungsnische einzelne Stücke aufgelesen, bis sie beide voll gepackt waren mit vertrockneten Wurzeln, einem Fledermausgerippe, verschiedenen Tiegeln und Schalen, Ledersäckchen mit aromatischen Kräutern, einem menschlichen Oberschenkelknochen und acht daumenlangen Fangzähnen, von denen Kyra annahm, dass sie von Löwen oder Tigern stammten; Dea allerdings erklärte ihr, dass es sich um die Fänge eines Höhlentrolls handele, und zwar alle acht von einem einzigen Troll.

Schließlich entdeckten sie in einer Nische eine Szene, die direkt aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht stammen mochte. Eine lebensechte Puppe, ein orientalischer Hexenmeister mit Turban und ausgestopfter Königskobra, saß im Schneidersitz auf einem Teppich. Die Fasern des Gewebes waren so alt und zerschlissen, dass Kyra fast hindurchschauen konnte, als Dea den Teppich mit einem Ruck unter der Puppe hervorzog und eingehend betrachtete.

»Hervorragend«, flüsterte Dea.

»Ein alter Teppich?« Kyra trug unter anderem den Oberschenkelknochen auf dem Arm und konnte es gar nicht erwarten, das eklige Ding endlich loszuwerden.

»Ein fliegender Teppich«, sagte Dea. »Zumindest ist er früher einmal geflogen. Möglich, dass wir ihn wieder in Gang bekommen.«

»Das klingt, als würdest du über ein kaputtes Auto reden.«

»Ein fliegender Teppich war im alten Arabien im Grunde nichts anderes – zumindest für jene, die damit umgehen konnten. Ich habe selbst mal einen besessen. Der Kalif von Bagdad hat ihn mir geschenkt, als ich seinen Palast vom Fluch eines bösartigen Dschinn befreit habe.«

Ein paar Sekunden lang schweifte ihr Blick in weite Ferne. »Das muss jetzt, uh, ich weiß nicht genau, vielleicht siebenhundert Jahre her sein. Vielleicht auch länger.«

Kyra räusperte sich irritiert. »Können wir uns diese Dinge nicht für die Zeit aufheben, wenn wir hier raus sind?«

»Macht dir das Angst? Keine Sorge, ewiges Leben ist nicht vererbbar, soweit ich weiß. Genau genommen ist meines sogar beendet – eigentlich sollte ich sterben, nachdem eine würdige Nachfolgerin für mich gefunden wurde. Aber als du zur Siegelträgerin wurdest, war ich gerade in der Anderswelt – im Totenreich –, und ich fürchte, das hat die ganze Sache durcheinander gebracht. Die Meister des Neuen Jahrtausends, von denen ich die Siegel bekam, hatten eigentlich nicht vorgesehen, dass ich und meine Erbin Seite an Seite kämpfen würden.«

Sie kratzte sich am Hinterkopf. »Alles eine Sache des Gleichgewichts zwischen Gut und Böse, schätze ich.«

Kyra verstand nicht viel von dem, was ihre Mutter da redete, und doch verspürte sie bei Deas Worten einen heftigen Schwindel.

»Wozu brauchen wir eigentlich den fliegenden Teppich? Wir haben doch deinen Mistelzweig!«

Dea nickte. »Theoretisch könnten wir den Zweig zusammen benutzen. Aber er fliegt bedeutend schneller, wenn nur eine Person darauf sitzt. Deshalb werde ich den Zweig nehmen und du den Teppich.«

Kyra riss die Augen auf. »Ich soll allein auf einem Teppich fliegen?«

»Natürlich.« Dea wirkte ernsthaft erstaunt. »Wieso denn nicht? Außerdem werde ich die ganze Zeit über in deiner Nähe sein.« Mit einem schelmischen Lächeln fügte sie hinzu: »Falls du runterfällst, kann ich immer noch versuchen, dich aufzufangen.«

»Wie tröstlich!«

Dea lachte. »Einen Fallschirm werden wir hier im Museum jedenfalls nicht finden, fürchte ich.«

Kyra ließ die Bemerkung unkommentiert und folgte ihrer Mutter bis zu einer Stelle, an der sich mehrere Gänge des kleinen Museums trafen und dabei einen kleinen Raum bildeten. Dort legten sie all die gefundenen Hexendinge auf einen Haufen – nur den Teppich rollten sie daneben aus, und Dea legte den Ast mit dem Mistelzweig dazu.

»Und nun?«, fragte Kyra.

»Mit diesen Dingen werden wir die magische Atmosphäre rund um das Museum stören und hoffen, dass das die Nymphen für einen Moment ablenkt, sodass wir entkommen können.«

Kyra stellte keine weiteren Fragen. Sie hatte die Befürchtung, dass sie ohnehin nur einen Bruchteil von Deas Antworten begreifen würde. Stattdessen sah sie zu, wie ihre Mutter vor dem Berg aus Hexenutensilien in die Hocke ging, jeden einzelnen Gegenstand in die Hand nahm, ein paar unverständliche Silben darüber murmelte und all die Sachen in einem Kreis rund um den Teppich und den Mistelzweig ausbreitete. Es waren gerade genug Gegenstände, um den Zirkel zu schließen.

»Komm her«, verlangte Dea. Kyra machte einen Schritt in den Kreis hinein. »Setz dich im Schneidersitz auf den Teppich, mit dem Gesicht nach Osten.«

»Wo ist denn hier Osten?«

Dea seufzte. »Zu dieser Seite hin.« Sie deutete in Richtung eines der Gänge.

Kyra tat, was Dea verlangte, und sah dann zu, wie ihre Mutter sich neben ihr über den Ast am Boden kniete; wenn er jetzt aufwärts schwebte, würde er Dea mit sich vom Boden heben.

»Es wird ein wenig Lärm geben«, warnte Dea sie. »Und ziemlich erbärmlich stinken.«

Kyra nickte aufgeregt.

»Der Teppich wird dich ganz sanft nach oben tragen. Wenn du willst, kannst du dich an seinen Rändern festhalten. Aber pass auf, dass du ihn dabei nicht allzu sehr zerknüllst, sonst fallt ihr vom Himmel wie ein Stein.«

»Du machst mir wirklich Mut.«

Dea grinste. »Nicht nötig. Davon hast du schon genug, sonst hätte dich das Arkanum längst erwischt.« Sie beugte sich zu Kyra herüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich wieder ganz auf das konzentrierte, was vor ihnen lag.

Sie sagte ein Wort – nur ein einziges –, und im selben Augenblick ging der Kreis aus Zauberutensilien in Flammen auf. Sie brannten grün und blau, manche sogar schwarz, sodass man sie kaum von dem Rauch unterscheiden konnte, der sich aus ihnen entwickelte. In Windeseile füllten sich die Gänge mit finsteren Schwaden. Das Heulen der Nymphen vor dem Museum brach schlagartig ab.

»Magische Flammen«, rief Dea über das Knistern hinweg. »Sie verbrennen nur den Kreis, danach verlöschen sie von selbst.«

Kyra hustete. »Was ist mit dem Dach? Wir werden uns schrecklich die Köpfe stoßen, falls wir tatsächlich abheben.«

Ihre Mutter lachte siegessicher. »Natürlich werden wir abheben. Und wegen des Dachs … mach dir keine Gedanken!« Sie riss beide Arme empor, rief eine Kette kurzer Wörter in einer längst vergessenen Sprache, und mit einem Mal wölbte sich die Decke des Raumes nach oben wie ein Stück Luftballon.

Ein kurzes Zittern durchlief den Teppich, dann schwebte er sanft aufwärts. Kyra hatte einen solchen Kloß im Hals, dass sie am liebsten zurück auf den Boden gesprungen wäre.

Aber natürlich blieb sie sitzen und kniff für einen Moment die Augen zusammen. Dann jedoch siegte ihre Neugier. Als sie die Lider wieder öffnete, erkannte sie, dass sie und Dea sich inmitten einer Art ovaler Blase befanden, die aus der Zimmerdecke und dem darüber liegenden Dach gebildet wurde. Beides bog und dehnte sich wie Gummi, ohne dass auch nur ein Balken splitterte oder eine Dachziegel abfiel. Genau wie eine Kaugummiblase wurden Dach und Decke halb durchsichtig, während sie sich weiter und weiter wölbten, hoch über die Mauern des Gebäudes hinaus, bis Kyra die Umgebung des Museums erkennen konnte, gesprenkelt mit hellen Schemen. Die Nymphen wimmelten wie Ameisen umher, ganz aufgelöst vor Aufregung. Kyra wusste nicht, welcher Art die Macht war, die die Zerstörung der Hexengegenstände freisetzte, doch sie schien groß genug zu sein, um gehörige Verwirrung unter den Wassergeistern auszulösen.

Kyra und Dea schwebten jetzt genau in der Mitte der Blase, die sich rund zehn Meter hoch über dem Museum erhob. Kyras Finger klammerten sich an den Rand des dünnen Teppichs. Sie spürte, wie ihr schlecht wurde. Normalerweise hatte sie keine Höhenangst, aber das hier drohte doch, ein wenig viel für ihren Magen zu werden. Der Teppich war höchstens zwei Meter lang und eins fünfzig breit – nicht viel, wenn es das Einzige war, was sich zwischen einem selbst und einem tödlichen Abgrund befand.

»Er hält dich fest«, sagte Dea über das Heulen der Nymphen hinweg, die wie ein Haufen Leuchtkäfer um das Museum schwärmten.

»Wer hält mich fest?«

»Na, der Teppich, natürlich. Wie ein Magnet. Er könnte einen Looping mit dir fliegen, und du würdest nicht herunterfallen – das heißt, natürlich nur solange er nicht zerknüllt wird.«

»Bist du sicher?« Kyra betrachtete zweifelnd das zerschlissene Gewebe unter sich.

»Versuch mal aufzustehen«, schlug Dea vor, während sich die sonderbare Blase aus verzerrten Dachbalken und Schindeln um sie herum weiter ausweitete und dabei immer durchsichtiger wurde.

»Aufstehen?«, stieß Kyra aus. »Kommt gar nicht in Frage.«

»Probier’s einfach mal aus.«

Kyra holte tief Luft, dann versuchte sie unendlich langsam, sich aus dem Schneidersitz zu erheben. Sie bekam nicht einmal die Beine auseinander. »Geht nicht«, sagte sie erleichtert.

»Siehst du. Dir kann nichts passieren – es sei denn, der Teppich würde Feuer fangen oder vielleicht mit einem Faden an einer Turmspitze hängen bleiben … Regen ist auch nicht gerade ideal für ihn. Er ist eigentlich für ein anderes Klima gewebt worden. Trockene Wüstenluft, du weißt schon.«

Das alles klang nicht gerade beruhigend, doch Kyra blieb keine Zeit mehr, sich nach weiteren Macken ihres neuen Fluggerätes zu erkundigen. Die Blase hatte jetzt ihre größtmögliche Ausdehnung erreicht, ein Ballon kurz vor dem Platzen.

»Gleich wird sie sich öffnen, und die Energie der verbrannten Hexenutensilien wird gebündelt austreten«, erklärte Dea hastig. »Die Nymphen werden einen Augenblick lang außer sich sein. Die Zeit muss reichen, damit wir von hier verschwinden können.«

»Ich dachte, sie spüren es jetzt schon«, sagte Kyra.

»Tun sie auch. Aber sie haben im Moment keine Möglichkeit, dagegen anzugehen.«

»Werden sie dann nicht noch wütender?«

»Nachdem sie sich erholt haben – sicher! Bis dahin müssen wir über alle Berge sein.« Dea schaute sich noch einmal prüfend um. Die Blase war jetzt fast unsichtbar, so straff spannten sich ihre Wände. »Ich zähle bis drei, dann geht’s los.«

»Okay.«

»Eins.«

Im oberen Teil der Blase bildete sich eine Wölbung wie ein riesiger Kussmund.

»Zwei.«

Die Wölbung klaffte auseinander. Kyra spürte, wie sie und Dea davon angesaugt wurden.

»Drei.«

Der wabernde Blasenmund spuckte sie hinaus in die Nacht, in einer Wolke aus Funken und Rauch und etwas anderem, das Kyra nicht sehen, sehr wohl aber fühlen konnte. Das musste die mysteriöse Energie sein, von der Dea gesprochen hatte.

Wie von einem Katapult geschleudert, schossen sie ins Dunkel, so rasend schnell, dass Kyra nur noch aus dem Augenwinkel sah, wie unter den Nymphen das Chaos ausbrach. Jene Wassergeister, die sich beim Öffnen der Blase in der Luft befunden hatten, schwirrten in engen Kreisen und Spiralen auf und ab, so als hätten sie keine Kontrolle mehr über ihre Flugbahnen. Die Nymphen am Boden aber kauerten sich wie weinende Kinder zusammen, warfen ihre Arme in die Höhe, während einige von ihnen sofort zusammenbrachen und zu Wasser zerflossen.

img10.jpg