Angriff der Nymphen

Derek wirkte nicht glücklich, als Kyra von ihm verlangte, sie zur Ausgrabungsstätte ihres Vaters zu fahren. »Ihm wird das nicht gefallen«, sagte er zerknirscht, aber es war nur ein schwacher Versuch, Kyras Wunsch auszuschlagen. Er murmelte während der halben Fahrt etwas in unverständlichem Englisch vor sich hin, schließlich schwieg er völlig. Erst als Kyra ihm kurz vor Tintagel eine Frage stellte, kam wieder Leben in ihn, wie in einen Automaten, den man mit einer Münze gefüttert hatte.

»Die Anderswelt – was ist das?«

Derek hob erstaunt eine Augenbraue. »Vor über zweitausend Jahren lebten die alten Kelten in dieser Gegend. Hier, in Irland und im Norden Frankreichs. Sie glaubten, dass es außer unserer Welt noch eine zweite gab, die unsichtbar neben der unseren existiert. Die Anderswelt ist bevölkert mit magischen Geschöpfen, mit Elfen und Feen und Zauberwesen. Die Kelten glaubten außerdem, dass ihre Toten in der Anderswelt weiterlebten.«

»So ähnlich, wie bei uns die Leute an den Himmel glauben?«

»Nicht ganz. Die christliche Religion predigt, dass der Himmel für uns in diesem Leben nicht zu erreichen ist. Die keltische Anderswelt aber liegt neben der unseren, sozusagen hinter jedem Baum und jedem Stein – aber nur derjenige, der fest daran glaubt, kann sie sehen. Außerdem können auch Lebende sie betreten, durch geheime Tore, die die Kelten in tiefen Höhlen oder am Grunde einsamer Seen vermuteten.«

Derek blickte mit einem Lächeln zu Kyra herüber. »Beantwortet das deine Frage?«

»Ich glaube schon.«

»Interessierst du dich für solche Sachen?«

»Klar, manchmal.«

»Ganz die Tochter des Professors, hm?«

Der Wagen bog von der Dorfstraße nach links in einen schmalen Weg, der durch eine tiefe, baumbestandene Senke führte. Als es wieder bergauf ging, konnte Kyra in einiger Entfernung eine kleine alte Kirche erkennen. Sie wurde von einem verwitterten Friedhof und einer Mauer umgeben, ganz ähnlich wie Sankt Abakus daheim in Giebelstein. Rundherum gab es nichts als weites Grasland, ohne Häuser, ohne Menschen. Hundert Meter hinter der Kirche brach das Land scharf ab – dort waren die Klippen, und dahinter, ein paar Dutzend Meter tiefer, die schäumende See.

Derek umrundete die Kirche und parkte den Wagen in Sichtweite einer schroffen Halbinsel, die nur durch einen schmalen Felsenarm mit dem Festland verbunden war. Sie sah aus wie ein scharfkantiger Felsklotz, den ein Riese vor Urzeiten in die Brandung geschleudert hatte. Die Oberseite war flach und nur mit dürrem Gras bewachsen. Ein paar niedrige Mauern und Fundamente waren zu erkennen, die spärlichen Ruinen der alten Festung, die einst hier gestanden hatte. Hier waren angeblich Artus und seine Schwester Morgana geboren.

Eine Gruppe winziger Gestalten scharte sich um einen Punkt zwischen den Ruinen. Normalerweise durften Touristen die Halbinsel besuchen, doch für die Dauer der archäologischen Arbeiten des Professors war sie für die Öffentlichkeit gesperrt.

Über steile, endlose Treppen und eine Holzbrücke wechselten Kyra und Derek vom Festland auf den Burgfelsen über. Professor Rabenson kam Kyra mit breitem Grinsen entgegen und umarmte sie überschwänglich. Er freute sich wie ein kleines Kind, und Kyra fiel es schwer, immer noch wütend auf ihn zu sein.

»Ich muss mit dir reden«, sagte sie nach der Begrüßung und warf ihre langen Locken zurück, zerzaust vom eiskalten Seewind. Sie ertappte sich, dass sie am Horizont nach der mysteriösen Insel Ausschau hielt, auf die die Barke der Feenköniginnen zugehalten hatte. Doch der Ozean war leer bis auf ein einzelnes Schiff, das in vielen Kilometern Entfernung nach Norden glitt.

»Reden«, wiederholte der Professor ein wenig zerknirscht. »Sicher, das können wir später.« Er war ein schwerer Mann, der seine spiegelnde Glatze unter einem Schlapphut verbarg. Er trug eine Brille und einen khakifarbenen Anzug, der eher zu einer Expedition am Amazonas als zu Ausgrabungen im kühlen England passte.

»Jetzt«, widersprach Kyra. »Bitte.«

Sie sah ihm an, dass er ihr den Wunsch gerne erfüllt hätte. Doch schon riefen ihm einige der anderen Forscher etwas zu und winkten ihn heran. »Wirklich«, sagte er zu Kyra, »es geht jetzt nicht. Heute Abend im Cottage können wir so lange reden, wie du magst.«

»Es ist wichtig«, sagte sie beharrlich.

Er schüttelte den Kopf, und diesmal wirkte es endgültig. »Heute Abend, Kyra. Dann habe ich alle Zeit der Welt.«

»Das ist unfair«, brauste Kyra auf. »Nicht mal an den paar Tagen im Jahr, die wir uns sehen, hast du Zeit für mich.«

Ihre Worte trafen ihn, das war offensichtlich, und er schaute sie an wie ein Hund, den man gegen seinen Willen hinaus in den Regen gejagt hatte. Er wusste wohl nicht recht, was er darauf antworten sollte, deshalb zog er sie einfach erneut an sich, umarmte sie mit seinen Bärenpranken und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Derek«, sagte er dann zu ihrem Fahrer, »bring meine Tochter bitte zum Cottage. Und, Kyra – gegenüber sind zwei kleine Tante-Emma-Läden, die beide Videos verleihen. Such dir ein paar aus, und schau sie dir an, bis ich nach Hause komme. Spätestens um neun bin ich da. Versprochen.«

»Pah«, machte sie kühl, drehte sich abrupt um und stapfte davon. »Derek braucht mich nicht zu fahren. Ich finde den Weg auch zu Fuß.«

Beide Männer schauten ihr verwirrt hinterher, machten aber keine Anstalten, ihr zu folgen. Kyra hörte noch, wie Derek auf Englisch auf den Professor einredete, aber bald schon trieb der Wind seine Worte davon, und Kyra verstand nichts mehr.

Es dauerte eine Weile, ehe sie das Cottage fand. Zu ihrer Überraschung stand ihr Gepäck bereits vor der Tür. Derek musste sie auf einem anderen Weg mit dem Wagen überholt und den Koffer abgeliefert haben. Sie war froh, dass sie ihm nicht begegnet war. In ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung wollte sie lieber allein sein.

Das Cottage war ein schmales, weißes Häuschen am nördlichen Ende der Dorfstraße. Die Besitzer, ein älteres Ehepaar, wohnten gleich nebenan. Im Garten standen eine ganze Armee bunter Gartenzwerge – Pixies nannte man sie hier, die englische Variante von Heinzelmännchen.

Das Haus war spartanisch eingerichtet. Es gab ein Wohnzimmer mit Sesseln und Sofa, einem Fernseher samt Videorekorder und natürlich – typisch englisch – einen künstlichen Kamin mit Flammen aus Plastik, die auf Knopfdruck hektisch aufflackerten. Das war so geschmacklos, dass Kyra es fast schon wieder kultig fand.

Ihr Schlafzimmer befand sich im Obergeschoss. Erst wollte sie sich aufs Bett werfen und einfach eine Weile daliegen, doch dann kochte sie sich lieber einen Tee mit Milch und Zucker und aß dazu das süße Gebäck, das auf dem Tisch im Wohnzimmer stand.

Auf einen Film hatte sie überhaupt keine Lust, stattdessen grübelte sie über die geheimnisvolle Begegnung im Hexenmuseum nach und fragte sich, was das alles wohl bedeuten mochte. Was war mit dieser Hexe Morgana? Und warum hatte sie es auf Kyra abgesehen? Kyra konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich eine mächtige Zauberin – angenommen sie war tatsächlich so allmächtig, wie es die Legende behauptete – einem strengen Geheimbund wie dem Arkanum unterordnete. Welchen anderen Grund sollte sie also haben, Kyra Böses zu wollen? Ging es nur darum, dass sie eine Siegelträgerin war?

Ob es Kyra nun gefiel oder nicht, vermutlich war das tatsächlich die Antwort – immer vorausgesetzt natürlich, die Frau im Museum hatte die Wahrheit gesagt.

Es wurde neun Uhr, dann halb zehn, und noch immer tauchte der Professor nicht auf. Um Viertel nach zehn war Kyra so wütend, dass sie alles stehen ließ und sich zu Fuß auf den Weg zur Ruine machte. Sie würde ihrem Vater erklären, dass sie gleich am nächsten Morgen wieder abreisen würde; so jedenfalls wollte sie nicht mit sich umspringen lassen. In ihrer Wut war sie geladen wie eine Hochspannungsleitung, und wehe dem, der ihr in die Quere kam.

Es war bereits dunkel, nur über dem Meer im Westen schimmerte noch das letzte Blau des Tages. In ein paar Minuten würde auch das verschwunden sein. Kyra musste sich beeilen, sonst würde die Nacht sie auf dem Weg zum Burgfelsen einholen. Sie bezweifelte, dass auf dieser Strecke, so weit abseits vom Dorf, Straßenlaternen standen, und eine Taschenlampe hatte sie auch nicht dabei.

Sie nahm die Abzweigung von der Dorfstraße, beeilte sich, die Senke zwischen den dichten Bäumen hinter sich zu bringen, und gelangte schließlich auf die weiten Wiesen oberhalb der Klippen. Deutlich zeichnete sich vor dem diffusen Abenddämmer der Turm der einsamen Kirche ab, davor das Gewirr der Grabsteine.

Kyra erreichte die Friedhofsmauer und dachte einmal mehr, wie groß doch die Ähnlichkeit zu Giebelstein war; ganz kurz fragte sie sich sogar, ob dies wohl ein Zufall war oder ob mehr dahinter steckte. War es ihr Schicksal gewesen, hierher zu kommen?

Es ging schneller, den Weg über den Friedhof zu nehmen, statt die Kirche zu umrunden. Ihr Blick fiel auf einen moosbewachsenen Grabstein, an dem man einen alten, brüchig gewordenen Rettungsring befestigt hatte – die Inschrift verriet, dass hier ein namenloser Schiffsjunge begraben lag, dessen Boot im neunzehnten Jahrhundert an den Klippen zerschellt war.

Als Kyra wieder aufschaute, war sie nicht mehr allein.

Vor ihr – verteilt auf dem dunklen Friedhof, nur filigrane Umrisse vor dem letzten Licht des Tages – standen sechs Frauen. Keine Hexen, das erkannte sie sofort; zumindest nicht solche, die sie aus den Reihen des Arkanums kannte.

Alle sechs hatten hüftlanges blondes Haar, das wie Umhänge aus Blattgold auf den Winden tanzte. Sie trugen weite Gewänder aus halb durchsichtigem, schneeweißem Stoff, so leicht gewebt, dass es Nebelfetzen hätten sein können, die ihre schlanken Körper umschwebten. Die Frauen waren wunderschön, auf eine Art, die sich von der Eleganz der Arkanumhexen unterschied wie der Tag von der Nacht. Genau so hatte Kyra sich die Feen vorgestellt, von denen Tante Kassandra ihr erzählt hatte, als Kyra noch kleiner war. Geisterhaft schön und geheimnisvoll, nicht von dieser Welt.

Eine der Erscheinungen stieß ein merkwürdiges Zischen aus. Es klang, als käme es von einem Reptil, nicht aus dem Mund einer Frau.

Und dann kamen sie näher, schwebten zwischen den Grabsteinen auf Kyra zu, in einem weiten Halbkreis, der sich allmählich hinter ihr zu schließen drohte.

Kyra warf instinktiv einen Blick auf ihren Unterarm. Dort sah sie die Siegel, wie eingebrannt in ihre Haut.

Sie wirbelte herum, sprang zwischen zwei uralten Monumenten hindurch und entging knapp den ausgestreckten Händen einer der Erscheinungen, die schlagartig neben ihr aufgetaucht war.

 

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