Die Belagerung

Kyra stöberte mehrere Stunden in dem dickleibigen Buch. Immer wieder stieß sie auf neue Querverweise, die sie zu verwandten Themen, Namen und Kreaturen führten, bis sie schließlich erschöpft abbrach. Sie hatte das Gefühl, Einträge über jedes einzelne Zauberwesen dieser und anderer Welten studiert zu haben. Für weitere Informationen war sie im Augenblick nicht mehr aufnahmefähig, wie ein Computer, dessen Speicherkapazität am Ende war.

Aber sie hatte wertvolle Informationen gesammelt. Der Name Morgana rührte vermutlich von dem bekannten Begriff Fata Morgana, eher aber noch vom griechischen Fata Moeragetes. In der Mythologie war dies die Anführerin der drei Moerae oder Parzen. Die Parzen, so erzählte man sich einst, waren die drei Töchter von Nacht und Dunkelheit. Sie verkörperten Geburt, Leben und Tod jedes Menschen. Kyra vermutete, dass Fata Moeragetes, oder einfacher Morgana, den Tod verkörperte, war doch sie es, die in Kyras Vision Schwarz getragen hatte und die Welt ins Verderben stürzen wollte.

Die Parzen erschienen laut den Legenden am Todestag eines Menschen und trugen seine Seele davon, genauso wie es die drei Königinnen mit dem toten Artus getan hatten – ein weiterer Hinweis, dass Morgana tatsächlich schon sehr viel früher in Erscheinung getreten war, bei den alten Griechen und Römern, nicht erst im England des Mittelalters.

Ein Fingerzeig auf Morgana war auch das uralte Wort Morgans. So hatte man in Wales, einer kargen Gegend im Westen Englands, früher die Meerjungfrauen genannt. Und mit den Geistern der See und des Wassers schien Morgana in der Tat verbunden zu sein.

Kyra hatte kaum das Buch geschlossen, als sie aus dem Erdgeschoss ein scharfes Knirschen vernahm. Sie atmete tief durch, verließ lautlos das Schlafzimmer ihres Vaters und blickte um die Ecke des Treppenhauses hinab in den Flur. Dort aber konnte sie niemanden entdecken. Dann fiel ihr Blick auf den großen Spiegel, der zwischen Haustür und Garderobe an der Wand hing. Ein langer Riss war darin erschienen, der vom oberen bis zum unteren Rand führte, diagonal über die gesamte Spiegelfläche.

»Ist da jemand?«, fragte sie ins Dunkel.

Keine Antwort.

»Hallo?«

Noch immer rührte sich nichts. Nur der Riss im Spiegel verriet, dass sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte.

Langsam, ganz langsam, schlich sie die Treppe hinunter. Das Holz knirschte leise unter ihren Füßen, aber Kyra wusste, dass es jetzt zu spät für eine Umkehr war.

Sie stieg von der letzten Stufe auf den blanken Kachelboden des Flurs. Der zerbrochene Spiegel befand sich zwei Meter rechts von ihr. Der Flur führte von der Haustür zur Küche, die Treppe mündete etwa in seine Mitte. Falls hier unten jemand war, konnte er sich nur in der Küche verstecken – vorausgesetzt, er war überhaupt noch im Haus und nicht durch die Hintertür der Küche in den Garten entkommen.

»Ist hier jemand?«, fragte Kyra ein letztes Mal und ergriff einen Regenschirm, der unweit der Treppe in einer Bodenvase steckte. Nicht gerade die wirkungsvollste Waffe, um damit Dämonen und Hexen auf den Leib zu rücken.

Je näher sie der offenen Küchentür kam, desto mehr konnte sie vom Inneren des düsteren Raumes erkennen. Aus der Entfernung entdeckte sie nichts Ungewöhnliches. Den Esstisch, auf dem noch Tee und die Keksschüssel standen; ein Stück von der Spüle, voll mit schmutzigem Geschirr; an der Wand ein billiger Kalender aus einem der beiden kleinen Lebensmittelgeschäfte auf der anderen Straßenseite.

Kyra passierte den Spiegel und blieb schlagartig stehen. Etwas darin hatte sich bewegt – etwas, das nicht ihr Spiegelbild war.

Tatsächlich gab es in dem Rahmen überhaupt keine Reflexion mehr. Stattdessen teilte der Riss die Fläche jetzt in zwei Bilder, die nichts mit diesem Flur, nicht einmal mit diesem Haus zu tun hatten.

Auf der rechten Seite erkannte Kyra die Landschaft um den Dozmary Pool, jene weiten, vom Wind gewellten Grashügel des Bodmin Moors. Die Oberfläche des Sees hatte sich geglättet. Es war Bewegung in dem Bild – das Gras raschelte, das Wasser kräuselte sich sanft –, ähnlich wie bei einer Fernsehübertragung. Der Himmel war dunkel, nur der Mond beschien die Szenerie. Die Kühe hatten sich an einen der Zäune zurückgezogen und sahen verängstigt aus, ein Indiz dafür, dass der Kampf mit den Nymphen auf die eine oder andere Weise ein Ende gefunden hatte. Weder von ihnen noch von der rot gelockten Frau konnte Kyra irgendeine Spur erkennen. Sollte dies ein Hinweis darauf sein, dass die Wassergeister besiegt waren? Sandte die Frau ihr dieses Bild als Nachricht, dass es ihr gut ging? Warum aber meldete sie sich dann nicht wieder als Stimme in Kyras Kopf, so wie vorhin? Nun, möglich, dass sie nach dem Kampf mit den Nymphen zu erschöpft war. Vielleicht war es einfacher, solch ein Bild in einem Spiegel zu erzeugen. Wieder einmal wurde Kyra schmerzlich bewusst, wie wenig sie doch über die Kunst der Zauberei wusste.

Die andere Hälfte des Spiegels zeigte eine felsige Bucht, an deren Grund mehrere helle Häuser standen, alte, gedrungene Bauwerke, manche mit reetgedeckten Dächern. Kyra rätselte erst eine Weile – das fahle Mondlicht verfremdete die Szene –, dann erkannte sie das Hexenmuseum von Boscastle. Natürlich, dies war der Ort, an dem sie der rätselhaften Frau zum ersten Mal begegnet war!

War das Bild im Spiegel eine Aufforderung, dorthin zu kommen? Wollte sich die Frau im Museum mit ihr treffen? Aber warum kam sie dann nicht einfach hierher?

Und was, wenn das Ganze eine List Morganas war? Wenn sie Kyras Retterin besiegt hatte? Aber nein, dann hätte sie ihre Kreaturen nach Tintagel schicken und Kyra erneut entführen können. Es bestand kein Grund, sie von hier fortzulocken.

Kyra eilte zum Telefon und fand daneben eine Liste mit Nummern. Darunter war auch die eines Taxiunternehmens. Es dauerte eine Weile, die schläfrige Frau am anderen Ende der Leitung zu überzeugen, dass Kyra nicht irgendein Kind war, das sich mitten in der Nacht einen Scherz erlaubte. Ja, sagte Kyra, sie brauche dieses Taxi tatsächlich, und zwar so schnell wie möglich.

Nachdem sie aufgelegt hatte, holte sie erst einmal erleichtert Luft – im Englischunterricht war sie bislang eher eine durchschnittliche Schülerin gewesen, und umso stolzer war sie nun, dass sie sich recht gut verständigen konnte.

Das Taxi kam zehn Minuten später. Sie zahlte im Voraus mit Geld aus der Jacke ihres Vaters, dann rasten sie davon in Richtung Boscastle.

Die dunkle Küstenstraße war verlassen, kein anderes Auto fuhr hier so tief in der Nacht. Der Fahrer knurrte etwas über ungewöhnlich starken Seitenwind, der vom Meer heranwehe, und das, obwohl die Nacht doch sternklar sei.

Kyra starrte nachdenklich vor sich hin. Sie dachte über das nach, was die Frau über die Entstehung der Drei Mütter gesagt hatte. Schatten waren sie ursprünglich gewesen, die Schatten dreier mächtiger Zauberköniginnen. Zumindest eine von ihnen – Nimue, die Dame vom See – war kein böses Geschöpf, und doch hatte ihr Schatten sich zur Dunkelheit gewandt, war verschlagen und niederträchtig geworden. Bedeutete dies, dass alles, was gut war, sich auf irgendeine Weise auch zum Bösen wenden konnte? Und könnte das sogar ihr selbst, Kyra, passieren? Der Gedanke machte ihr solche Angst, dass sie ihn gleich wieder abschüttelte.

Als sie aus dem Fenster schaute, entdeckte sie auf einer mondbeschienenen Wiese eine weiße Gestalt, ganz kurz nur, dann war das Taxi daran vorbei. Morganas Kreaturen wussten, wohin Kyra unterwegs war.

In der Ferne glaubte sie das Bellen und Heulen wilder Hunde zu hören, wie von einem Wolfsrudel. Bei diesen Lauten wurde ihr noch unheimlicher zu Mute.

»Wie lange noch?«, fragte sie den schweigsamen Taxifahrer.

»Paar Minuten«, erwiderte er knapp.

Kyra beobachtete ihn vom Rücksitz aus und fand, dass er sonderbar aussah. Er hatte kein einziges Haar mehr auf dem Kopf, und seine Haut war sehr weiß und im Nacken von dunklen Adern durchzogen. Schon vermutete Kyra auch in ihm einen Diener der Zauberin, als sie abrupt in den Weg einbogen, der von der Landstraße zum Museum führte. Wenig später setzte der Fahrer sie ab, wünschte ihr brummig eine gute Nacht und fuhr davon.

Die Tür des Museums war um diese Uhrzeit geschlossen, doch als Kyra sich ihr näherte, schwang sie wie von Geisterhand auf.

»Hallo?«, fragte sie argwöhnisch ins Dunkel.

»Kyra, komm rein«, hörte sie die Stimme der Frau, aber sie klang geschwächt, und ihre Besitzerin zeigte sich nirgends.

Kyra ging zögernd auf den Eingang zu und meinte in den Schatten eine Bewegung zu erkennen. Eine schlanke Gestalt stand in der Finsternis.

»Warum kommen Sie nicht raus?«, wollte Kyra wissen.

»Hier drinnen ist es sicherer. Beeil dich!«

Kyra war noch immer nicht überzeugt, dass sie keiner List aufgesessen war, doch sagte sie sich, dass sie jetzt ohnehin nicht mehr fliehen konnte. Das Taxi war fort, sie stand ganz allein vor dem Haus.

 

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