Ganz zweifellos waren es Morganas Dienerinnen, mit denen es Kyra hier zu tun hatte. Die Frau im Museum hatte sie gewarnt. Und sie hatte Recht behalten. Morgana le Fey war hinter ihr her.

Das reptilienhafte Zischen wiederholte sich jetzt aus allen Richtungen. Die Frauen nahmen die Verfolgung auf. Im schwindenden Abendlicht sah Kyra ihre Körper unter den durchsichtigen Gewändern schimmern. Wasser perlte über ihre Haut, ohne dabei den Stoff zu durchnässen.

Wassergeister!, durchfuhr es sie unvermittelt. Nymphen!

Sie hechtete über die niedrige Friedhofsmauer und sah zu ihrer Verblüffung, dass ihre unheimlichen Verfolgerinnen geradewegs durch den Stein hindurchschwebten, so als wäre er überhaupt nicht vorhanden. Dort, wo ihre Körper das Mauerwerk berührten, lösten sie sich blitzartig in Wasser auf, das sich seinen Weg durch die haarfeinen Risse im Gestein suchte, um auf der anderen Seite wieder zu magischem Fleisch zu gerinnen.

Das Zischen folgte Kyra wie ein Insektenschwarm, der angriffslustig um ihre Ohren schwirrte. Ihr wäre es lieber gewesen, die Nymphen hätten ihr Drohungen oder Verwünschungen nachgerufen – alles war besser als diese unmenschlichen Laute, die klangen, als würden sie von etwas ausgestoßen, das mit Vorliebe junge Mädchen fraß. Und vielleicht war diese Einschätzung gar nicht mal so falsch.

Kyra lief noch schneller, tiefer in die Dunkelheit. Die Nymphen hatten ihr den Weg zur Halbinsel abgeschnitten, es gab keine Möglichkeit mehr, Schutz beim Professor und den anderen Wissenschaftlern zu suchen. Aber sie bezweifelte ohnehin, dass ein Mensch ihr gegen diese Wesen beistehen konnte. Wer durch Stein ging wie durch einen Regenschauer, der ließ sich gewiss nicht von ein paar träge gewordenen Forschern aufhalten.

Kyra rannte jetzt in südlicher Richtung über die Klippen. Zu ihrer Rechten klafften der Abgrund und die schäumende Brandung, links raschelten die weiten Wiesen im Abendwind. Die anbrechende Nacht färbte sie grau wie eine erkaltete Lavawüste.

Kyras Verstand arbeitete rasend. Was konnte sie tun? Ihre Kondition war nicht die schlechteste, aber die Nymphen würden sie dennoch früher oder später einholen. Wenn es ihr schon nicht gelang, sie auf irgendeine Weise zu bezwingen, so musste sie sie zumindest irgendwie loswerden. Aber wie?

Sie schlug sich noch immer mit diesem Gedanken herum, als sie plötzlich an einen breiten Bach gelangte, der vor ihr das Grasland teilte und als sanfter Wasserfall über die Klippen in die Tiefe plätscherte. Als sie verzweifelt stehen blieb und sich umschaute, waren die Nymphen direkt hinter ihr, keine fünfzehn Meter entfernt. Und wieder bildeten sie einen Halbkreis, der es ihr unmöglich machte, dem Bach landeinwärts zu folgen. Sie hatte keine Wahl, sie musste das Gewässer durchqueren.

Kyra ahnte, worauf sie sich einließ. Wasser war das Element der Nymphen. Hier waren sie zu Hause, ja, sie selbst waren Wasser, falls auch nur ein Teil von dem stimmte, was Kyra über sie gelesen hatte. Sie verwünschte sich, weil sie sich die Details nicht besser eingeprägt hatte. Aber sie konnte nicht über jede Kreatur des Bösen Bescheid wissen – zumindest nicht, solange sie nebenbei auch noch wie andere Mädchen ihres Alters zur Schule ging. Morgens Latein und Mathe, nachmittags alte Zauberbücher und Monsterkompendien – willkommen im Alltag von Kyra Rabenson, Mädchen von nebenan und Trägerin der Sieben Siegel!

Das Wasser des Baches war eiskalt, als Kyra hineinwatete. Sofort durchdrang es ihre Hosenbeine und kühlte ihre Haut. Kyra fröstelte, trotz der Bedrohung in ihrem Rücken. Die Strömung war ziemlich stark, und sie befürchtete, über die Klippe getrieben zu werden, falls sie auf dem glatten Bachbett aus Kieselsteinen ausrutschte.

Nicht daran denken!, hämmerte sie sich ein. Nur nicht daran denken!

Die Nymphen folgten ihr mit federleichten Schritten, so als trieben sie wenige Fingerbreit über dem Boden. Das hohe Gras teilte sich nicht unter ihren Füßen – sie schwebten einfach durch die Halme hindurch.

Kyra ging jetzt schneller. Der Boden war sehr uneben, immer wieder trat sie in unsichtbare Spalten und drohte über Steinbrocken zu stürzen. Das Wasser reichte ihr nun bis zu den Oberschenkeln, aber sie hatte die unheilvolle Ahnung, dass es noch tiefer werden würde. Im Dunkeln hatte sie die Breite des Bachs auf höchstens fünf Meter geschätzt, jetzt aber schien er gut und gern das Doppelte zu messen.

Einmal warf sie einen Blick über die Schulter.

Die erste Nymphe erreichte den Rand des Gewässers und trat hinein. Aus irgendeinem Grund hatte Kyra erwartet, dass die Geisterwesen über die Oberfläche hinwegschweben würden, doch jetzt sah sie, dass die Nymphen geradezu begierig auf den Kontakt mit dem Wasser waren. Dies war ihr Element, es verlieh ihnen Macht und Stärke. Einmal mehr überkam Kyra das untrügliche Gefühl, in der Falle zu sitzen.

Plötzlich glitt sie auf einem Stein aus, den die Strömung glatt poliert hatte. Mit einem Aufschrei und rudernden Armen fiel sie nach hinten, wurde vom Sog des Abgrunds nach rechts gerissen und spürte mit einem Mal keinen Boden mehr unter sich. Einen kurzen, panischen Augenblick lang glaubte sie, die Strömung hätte sie bereits in die Tiefe gezerrt – gleich, gleich würde der Aufprall kommen …

Doch es gab keinen Aufschlag, kein Zerschellen auf den scharfzahnigen Riffs in der Brandung. Stattdessen wurde ihr klar, dass sie sich noch immer im Bachbett befand, an einer Stelle, wo der Boden eine weiträumige Vertiefung aufwies. Vielleicht konnte sie den Nymphen ja entkommen, wenn sie ihnen unter der Oberfläche davonschwamm.

Sie brach mit dem Kopf an die Luft, atmete tief ein – und sah, dass drei der Wesen direkt vor ihr standen, bis zu den Hüften im Wasser verschwunden. Der Saum ihrer Gewänder schien mit der aufgewühlten Oberfläche zu verschmelzen.

Kyra tauchte unter und riss im Wasser die Augen auf. Die Sicht war klar, und obwohl es stockdunkel hätte sein müssen, wurde der Bach von einem unirdischen Glimmen erfüllt. Auf magische Weise wurde es durch die Anwesenheit der Nymphen verursacht, auch wenn es nicht direkt von ihnen ausging – es war fast, als hätte der Bach auf Grund des hohen Besuchs die Festbeleuchtung eingeschaltet.

Kyra wollte sich umdrehen und losschwimmen, als sie unter Wasser einen Blick auf die Unterkörper der Nymphen erhaschte. Wo eben noch die schlanken Schenkel wunderschöner Frauen gewesen waren, umspielt von feinster Seide, sah sie nun verschobene Gliedmaßen aus kantigem, dunklem Horn, übersät von Spitzen und Knorpelsträngen, so als hätte ein wahnsinniger Schöpfer versucht, aus Insektenbeinen menschliche Glieder zu formen. Die Knie knickten nicht nach vorn, sondern nach hinten ein, und statt auf Füßen standen die Kreaturen auf weit verzweigten Fächern aus Krallen und Knochen wie schwarzes Wurzelwerk. Nur über der Oberfläche hatten sie noch immer ihr altes Aussehen – unter Wasser aber trat ihr wahres Wesen zu Tage.

Kyra erschrak dermaßen, dass sie sich einen Moment lang nicht mehr unter Kontrolle hatte, panisch die Luft ausstieß und den überwältigenden Drang verspürte, einzuatmen. Sie schoss nach oben, holte tief Luft – und erkannte, dass sie endgültig verloren war.

Die Nymphen hatten sie von allen Seiten umzingelt.

Mit bedrohlicher Ruhe wurde ihr Kreis immer enger und enger.

 

Auf den Bahngleisen saß ein Hund.

Er saß genau zwischen den Schienen und blickte der Lokomotive mit rot glühenden Augen entgegen. Sein Fell war schneeweiß; im Nacken stand es aufrecht. Der Hund hatte die Zähne gefletscht, ganz leicht nur, kaum merklich. Er knurrte nicht, und sein langer weißer Schwanz lag nach Westen ausgerichtet, genau in die Fahrtrichtung des Zuges.

Der Lokführer hatte die Bahn vor etwa zehn Minuten zum Stehen gebracht, in einer abrupten Notbremsung. Auf der schnurgeraden Strecke hatte er das unheimliche Tier gerade noch rechtzeitig erkannt, um den Antrieb zu stoppen. In letzter Sekunde bevor es zu einem Zusammenstoß kommen konnte, war der Zug stehen geblieben. Und seitdem hatte er sich nicht mehr bewegt. Genauso wie der Hund.

»Mir gefällt das nicht«, murmelte Nils, der mit Lisa und Chris neben der Tür zum Führerhaus stand und übellaunig auf das weiße Tier mit den leuchtend roten Augen starrte. »Das ist doch kein normaler Hund. Nie im Leben!«

»Ach nein?«, machte Lisa zynisch und hielt ihm die Sieben Siegel auf ihrem Unterarm vor die Nase. »Natürlich ist es kein normaler Hund, du Schlauberger. Sonst hätten sich die hier ja wohl kaum bemerkbar gemacht.«

Nils brummte etwas in ihre Richtung. Seine Schwester war nicht allzu unglücklich, dass sie es nicht verstand.

Chris schaute düster über die menschenleere Landschaft, die sich rechts und links der Bahngleise erstreckte: ein welliger Ozean aus Heidekraut und struppigem Gras, ohne Anzeichen einer Besiedlung, ohne Straßen oder auch nur ein Hinweisschild auf den nächsten Vorposten der Zivilisation. Ein Moor, so groß, dass in keiner Richtung ein Ende auszumachen war.

»Ganz schön karg«, kommentierte er, und sein Tonfall klang dabei ebenso trist wie das Panorama der Moorlandschaft.

Nils verzog das Gesicht. »Ein einzelner Hund hält uns hier fest, und du schaust dir die Gegend an.«

»Von wegen!«, meinte Lisa und deutete nach vorn. »Da kommen noch mehr.«

Tatsächlich tauchten jetzt noch weitere der schneeweißen Tiere auf, so als hätten die sumpfigen Moorlöcher sie ausgespien. Hinter ihnen war Nebel aufgezogen, eine weiße, dichte Suppe, die langsam auf den stillstehenden Zug zukroch.

»Kommen sie aus dem Nebel?«, fragte Chris, aber eigentlich war es bereits eine Feststellung, keine Frage.

»Hey, ihr drei!«, ertönte hinter ihnen die Stimme des Zugführers. Er lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Fenster seiner Lokomotive. Der notdürftige Verband um seine rechte Hand war mit Blut gesprenkelt. Dort hatte ihn der Hund gebissen, als der Mann versucht hatte, ihn von den Schienen zu locken. Seitdem hatte sich außer den drei Freunden niemand mehr ins Freie gewagt. »Los«, rief er noch einmal, »ihr solltet jetzt wirklich reinkommen.«

»Ich glaube, er hat Recht«, sagte Nils. Die Hunde in der Ferne kamen rasch näher. Es waren mindestens acht, aber so genau ließ sich das vor der hellen Nebelwand nicht erkennen.

»Weiße Hunde mit glühend roten Augen«, knurrte Chris nachdenklich.

»Und roten Ohren«, ergänzte Lisa, denn das Innere der aufgestellten Ohren des Hundes glomm in einem feurigen Rot wie die Glut in einem ausgebrannten Kohlenfeuer.

Chris nickte. »Irgendwoher kommt mir das bekannt vor.«

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