Das Tor zur Anderswelt

Etwas Merkwürdiges geschah, als die Nymphen Kyra in ihre Mitte nahmen. Sie töteten sie nicht, krümmten ihr kein Haar. Stattdessen kam plötzlich ein starker Wind auf, der von allen Seiten zugleich zu kommen schien – er roch nach Algen und Tang und salziger Seeluft. Kyra war erst nicht sicher, was ihn verursachte, ehe ihr klar wurde, dass er aus den Augen der Nymphen wehte, aus ihren Mündern und den Falten ihrer magischen Gewänder. Sie war froh, dass sie in diesem Moment nicht unter der Oberfläche war und das wahre Wesen dieser Kreaturen sehen musste – es schien ihr angenehmer, von überirdisch schönen Frauen besiegt zu werden als von Bestien aus Horn und Knorpel und schwarzen Muskelsträngen. Es war nur eine Illusion, gewiss, und dennoch hatte sie etwas Beruhigendes.

Die Nymphen kamen jetzt nicht mehr näher. Lediglich der Wind wurde stärker, strömte sternförmig auf Kyra zu und wehte von unten an ihrem Körper herauf, trieb ihr langes Haar gerade nach oben und hob schließlich sie selbst vom Boden.

Tatsächlich – sie flog!

Immer höher trieb der Wind sie hinauf und verursachte dabei einen solchen Luftzug in ihren Ohren, dass sie vor lauter Dröhnen und Rauschen nichts anderes mehr zu hören vermochte. Weiter und weiter schwebte sie empor, erst drei Meter über dem Boden, dann fünf, schließlich zehn, und noch immer war kein Ende ihres Aufstiegs abzusehen.

Ich fliege, dachte sie nur immer wieder, und das Gefühl dabei war eine sonderbare Mischung aus Faszination und Todesangst. Etwas Ähnliches mussten Leute empfinden, die sich zum Spaß an Bungee-Seilen in die Tiefe stürzten – mit dem Unterschied, dass für sie der Flug nach wenigen Sekunden vorüber war, Kyras aber gerade erst begonnen hatte.

Die Nymphen erhoben sich um sie herum, immer noch in ihrer Kreisformation. Nun, da sie das Wasser verlassen hatten, waren sie wieder komplett zu Menschen geworden. Keine Spur mehr von ihrer grausigen Verwandlung unter der Oberfläche.

Der Aufstieg endete in einer Höhe, die Kyra auf etwa dreißig Meter schätzte. Der Lärm, das Brausen und Toben in ihren Ohren, blieb bestehen, doch etwas anderes änderte sich jetzt – sie flogen nicht mehr auf der Stelle, sondern bewegten sich landeinwärts, mit einer solchen Geschwindigkeit, dass kein Auto am Boden hätte mithalten können. Kyra fror, aber im Grunde war sie viel zu aufgeregt und verwirrt, um sich über solche Belanglosigkeiten Gedanken zu machen.

Sie raste durch die Luft und konnte es noch immer nicht fassen.

Genau wie die Nymphen um sie herum schwebte sie in aufrechter, gerader Haltung, so als stünden sie alle auf unsichtbaren Flugscheiben, die sie sanft und ohne Gegenwind vorwärts bewegten. Kyra erinnerte sich an Azachiel, den Gefallenen Engel, dem sie unter abenteuerlichen Umständen auf einer griechischen Insel begegnet waren. Er war damals in derselben Haltung geflogen.

Unter sich sah Kyra die nächtlichen Wiesen dahinziehen, blass in das Silberlicht des Halbmonds getaucht. Sie sah Kühe auf den Weiden schlafen, eine Schafherde, die sich unter einem einzelnen Baum zusammenscharte. Das Dorf Tintagel war längst hinter ihnen zurückgeblieben, dafür kamen andere Häuser in Sicht und verschwanden wieder. Der Anblick ähnelte dem aus einem Hubschrauber bei Höchstgeschwindigkeit, nur dass Kyra alles wie durch einen feinen Funkenregen sah. Das musste mit den magischen Kräften zu tun haben, die sich um sie herum entfalteten und ihre Wirkung taten.

Irgendwann wurden sie langsamer. Unter ihnen wellten sich die öden Hügel einer gewaltigen Moorlandschaft. Auf flachen Graskuppen erhoben sich Felsformationen wie Fabelwesen, geformt von Wind und Wetter. Das Meer lag weit hinter ihnen, Kyra konnte es im Dunkeln nicht mehr erkennen. Wenn sie die Karte der Gegend noch richtig in Erinnerung hatte, musste dies das Bodmin Moor sein, in das sich einst Schmuggler und Riffpiraten nach ihren Raubzügen an der Küste zurückgezogen hatten.

Langsam verloren sie an Höhe. Kyra erkannte eine verlassene Landstraße, die sich unter ihnen dahinschlängelte. Ein wenig abseits davon, hinter Hecken und einer Hügelkuppe, lag ein kleiner See, eingebettet in die triste Heidelandschaft. Aus der Entfernung war seine Größe schwer abzuschätzen. Sie vermutete, dass er an seiner breitesten Stelle nicht mehr als hundert Meter maß.

An seinem Ufer senkten sich die sechs Nymphen ins Gras. Kyra landete sanft in ihrer Mitte. Der übernatürliche Wind brach schlagartig ab, Kyras rote Locken kamen über ihren Schultern zur Ruhe.

»Wohin bringt ihr mich?«, richtete sie zum ersten Mal das Wort an die Nymphen.

Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, und umso überraschter war sie, als eines der Wesen mit glasklarer Stimme entgegnete: »Zu unserer Herrin, ins Land der Äpfel.«

Land der Äpfel? Was sollte das nun wieder bedeuten?

Die Wasseroberfläche des kleinen Sees kräuselte sich. Kyra glaubte erst, es rühre vom Wind her, der über das Bodmin Moor pfiff, doch dann erkannte sie wunderliche Spiralformen und andere Muster in den Wellen.

Der See selbst sah vollkommen harmlos aus. Von seinem Westufer führte ein alter Weidenzaun geradewegs ins Wasser, so als verliefe die Grenze zwischen zwei Ländereien genau durch seine Mitte. Ganz in der Nähe lagen mehrere Kühe im Gras; einige hatten die Köpfe erhoben und blickten neugierig zu Kyra und den Zauberfrauen herüber.

Das Kräuseln der Oberfläche wurde stärker, dann öffnete sich in der Mitte des Sees ein Strudel, mehrere Meter breit, wie ein rotierender Schacht, der in die Tiefe führt. Und da begriff Kyra mit unwillkürlicher Klarheit, dass es sich um ein Tor handelte. Ein Tor, durch dass die Nymphen sie in die Anderswelt bringen wollten.

Doch so weit kam es nicht.

Mit einem Mal ging ein unverständliches Raunen durch den Ring der Wassergeister. Alle wandten die Gesichter zum Himmel, und als Kyra ihren Blicken folgte, erkannte sie, dass etwas aus der Dunkelheit auf sie herabstieß. Erst glaubte sie, es sei ein mächtiger Raubvogel, doch als der Umriss näher kam und größer wurde, sah sie, dass es ein Mensch war. Eine schlanke Gestalt mit langen, roten Locken. Die Frau aus dem Museum.

Sie saß auf einem langen Stab, den Kyra zuerst für einen Besen hielt. Dann aber erkannte sie, dass es sich um einen knorrigen Ast handelte, an dessen Ende ein Mistelzweig wuchs.

»Kyra!«, rief die Frau. »Wirf dich zu Boden!«

Kyra konnte dem Kommando gerade noch folgen, als um sie herum auch schon die Hölle losbrach. Die Frau auf dem Ast fegte im Sturzflug über den Kreis der Nymphen hinweg und schleuderte dabei eine Hand voll funkelnden Staub auf ihre Häupter. Dort, wo er die Wesen berührte, verflüssigten sich die Körper zu Wasser, das glitzernd an ihren Leibern herabströmte.

Zwei von ihnen, auf die der größte Teil des Staubes niedergegangen war, lösten sich in Windeseile auf, bis nur noch ihre Füße und Unterschenkel im Gras standen.

Unter den vier anderen brach einen Augenblick lang Panik aus. Eine von ihnen packte Kyra am Arm und wollte sie vom Boden reißen, doch da folgte schon die nächste Attacke der fliegenden Frau auf dem Mistelzweig. Flirrender Staub wölkte auf Kyra und ihre Entführerin herab. Wo er Kyra berührte, kribbelte ihre Haut unangenehm und juckte wie von einem Mückenstich, doch die Wirkung auf die Nymphe war ungleich spektakulärer: Sie zerplatzte wie eine übergroße Wasserbombe, in einer Fontäne aus klarem, reinem Seewasser.

Kyra sprang auf und lief in Ermangelung eines besseren Ziels auf die Kühe zu, die nicht weit entfernt im Gras dösten. Hinter ihr hatten sich die drei verbliebenen Nymphen vom Schock des Überraschungsangriffs erholt und erhoben sich unter wildem Kreischen in die Luft, um den Kampf aufzunehmen.

Kyra warf sich zwischen den Kühen auf den Boden und blickte über den breiten Rücken eines schläfrigen Tiers zum Ufer hinüber. Der Strudel wühlte sich noch immer unverändert durch die Seeoberfläche, und das Wirbeln des Wassers rundum war hektischer geworden, aufgeregter.

Hoch über dem See, in zehn, zwanzig Metern Höhe, stießen die Gegnerinnen aufeinander. Die geisterhaft schönen Gesichtszüge der Nymphen verformten sich zu Grauen erregenden Fratzen, und ihre Finger verästelten sich zu Fächern aus bizarren Krallen, lang und spitz wie Mistforken. Damit schlugen sie im Flug nach Kyras Retterin, die den mörderischen Hieben immer wieder durch irrwitzige Flugmanöver auf ihrem Mistelzweig auswich, bis sie selbst zum Angriff überging.

Staub wirbelte, und eine weitere Nymphe prasselte als warmer Regenschauer vom Himmel. Eine zweite, die ihre Gegnerin mit den Klauen aufspießen wollte, geriet dabei versehentlich mitten in den Tropfenflug ihrer zerplatzten Gefährtin – auch sie wurde zu feinem Nieseln, das vom Wind weit über das Moor verteilt wurde.

Die letzte Nymphe erkannte, wie schlecht es um sie stand, und wollte den Rückzug antreten. Steil schoss sie in die Tiefe, geradewegs auf den Strudel im See zu. Ehe sie aber eintauchen konnte, überholte die Frau auf dem Zweig sie, umrundete sie in einer blitzschnellen Schleife und hinterließ dabei eine Spur aus Staub in der Luft. Die Nymphe konnte ihr Tempo nicht mehr verringern, raste durch das Staubband hindurch und prasselte wässrig auf die Oberfläche.

 

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