»Ihr habt eurem Lehrer widersprochen. Ihr habt euch gegen ihn aufgelehnt. Böse, böse Kinder.« Er legte den Kopf schräg und betrachtete sie der Reihe nach. »Meine Schwester wusste, warum sie mich zurückrufen ließ. Sie wusste, dass ihr alle eine strenge Hand nötig habt. Strenge Erziehung und strenge Strafe.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf Kyra. »Du bist die Hexentochter.« Kyra schrak zusammen. Was wusste er von ihrer Mutter?

»Ich kann die Macht in deinem Inneren spüren«, fuhr er fort. »Meine Macht!«

Mara sah Kyra verunsichert an. »Wie meint er das?«

Dies war nicht die Zeit für überflüssige Erklärungen. Mara brauchte die Wahrheit über Kyras Mutter nicht zu erfahren. Doch auch Kyra wunderte sich: Warum sagte er, dass ihre Macht seine Macht war? Welche Verbindung gab es zwischen ihnen?

Ganz langsam setzte sich der Direktor in Bewegung, stieg eine Treppe aus Büchern hinab.

»Auseinander!« Chris gab Nils einen Stoß, der ihn zur Seite taumeln ließ. Der Anblick des Untoten wirkte hypnotisierend, drohte sie alle zu lähmen. Doch Chris’ scharfes Kommando brachte sie wieder zu Sinnen. Auch die Mädchen verteilten sich.

»Dort drüben«, flüsterte Mara. »Die Tür da ist es!«

Mit einem Kopfnicken deutete sie in die Richtung einer schmalen, niedrigen Holztür, die im Schatten zwischen den Büchern kaum zu erkennen war.

»Was ist das für ein Raum?«, fragte Kyra.

Mara schluckte. »Früher war das der Wohnraum seiner Schwester.«

Der Direktor machte den letzten Schritt die Büchertreppe hinunter und erreichte den Boden. Wieder klatschte der Stock. »Früher haben sich Kinder nicht widersetzt«, sagte er zischelnd. »Früher lernten Kinder den Gehorsam unter dem Rohrstock.«

Klatsch!

»Sie taten, was man ihnen sagte.«

Klatsch!

»Sie waren folgsam und wissbegierig.«

Klatsch!

Chris wagte einen Ausfall zur Seite. Mit zwei raschen Sätzen wollte er den Direktor umrunden, um die Tür zum Hinterzimmer zu erreichen.

Doch die Schnelligkeit ihres Gegners überraschte sie alle. Geschwinder, als sie es für möglich gehalten hatten, schob sich der Direktor in Chris’ Weg. Der Stock raste heran, und Chris konnte ihm nur entgehen, indem er sich der Länge nach auf den Boden warf.

Kyra versuchte es als Nächste. Sie wollte den Augenblick nutzen, in dem der Direktor auf Chris konzentriert war. Doch auch sie musste erkennen, dass sie ihren Feind nicht unterschätzen durfte. Zu schnell für das menschliche Auge huschte der Direktor heran und schlug nach ihr. Kyra hörte den scharfen Luftzug an ihrer Wange vorübersausen. Panisch wirbelte sie herum und brachte sich mit wenigen Schritten aus der direkten Reichweite des Untoten.

»Von der Tochter einer Hexe hätte ich mehr erwartet«, flüsterte der Direktor.

Strafe, Strafe, Strafe, sang es aus der Finsternis des Kellers.

Kyras Gedanken überschlugen sich. Meine Macht, hatte er gesagt. Und die Alraunen hatten ihre Gesichtszüge getragen. Verfügten vielleicht die Hexenpflanzen selbst gar nicht über magische Kräfte? Zapften sie Kyra die Energie ihres Hexenerbes ab, ohne dass sie selbst es spürte? Und gaben sie diese Energie an den Direktor weiter, der von ihr zehrte und den sie am Leben erhielt?

Das musste es sein!

»Ich bin es«, stieß Kyra atemlos aus. »Meine Macht hat ihn auferstehen lassen.«

Der Direktor lächelte sein lippenloses Lächeln. »Du lernst schnell, kleines Mädchen.«

Aber hätte der Kraftverlust sie nicht schwächen müssen, nun, da sie zwei Wesen am Leben erhielt? Das musste doch bedeuten, dass die Macht in ihrem Inneren viel größer war, als sie bislang geahnt hatte. War sie vielleicht selbst eine … Hexe?

»Kyra!«

Nils’ Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken. Nur Sekundenbruchteile waren vergangen, seit der Direktor nach ihr geschlagen hatte, und nun war er schon wieder über ihr. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die beiden Jungen sich spannten, um sich auf ihren Gegner zu stürzen.

Kyra rief sie zurück:

»Nein! Tut das nicht! Er darf euch nicht mit dem Rohrstock berühren!«

Wieder einer dieser Geistesblitze! Wieder einer dieser Momente, in dem das Erbe ihrer Mutter ihr unerwartet zur Hilfe kam! Aber Kyra wusste einfach, dass sie Recht hatte. Der Stock war mehr als nur ein perfides Werkzeug, um Kindern Gehorsam einzuprügeln. Er war der Schlüssel zur Existenz des Direktors. Schon als er noch lebte, hatte er sich daran festgehalten wie an einer Krücke, hatte mit seiner Hilfe seine Unsicherheit und seine Ängste überspielt und all seinen Zorn und seine Hilflosigkeit an seinen Schülern ausgelassen. Jetzt aber war der Rohrstock noch viel mehr als das – sie war seine magische Waffe, der Blitzableiter seiner erbeuteten Kraft.

Kyra sprang auf die Beine und stieß sich noch in der Hocke nach hinten ab. Wieder ging der Schlag des Direktors fehl.

Etwas flog heran und prallte mitten ins Gesicht des Untoten. Ein Buch! Als Kyra sich umschaute, sah sie, dass Mara und Nils jeder einen Stapel Bücher aus dem Regal gezogen hatten und damit nach ihrem Gegner warfen. Ein zweiter Treffer schmetterte ins Leichengesicht des Direktors, ein dritter krachte gegen seine Brust.

Einen Moment lang war er irritiert. In seiner Laufbahn als Lehrer hatte er mit Sicherheit nie erlebt, dass ihn Schüler mit Büchern beworfen hatten. Widerworte, gewiss, vielleicht sogar eine Beschimpfung. Aber eine Attacke mit Büchern – mit Schuleigentum! –, das war zu viel!

Das nächste Buch, das Nils nach ihm warf, wischte er mit einer unwilligen Bewegung aus der Luft, trat dann mit schnellen Schritten an Kyra vorbei und näherte sich Nils und Mara.

Die beiden stoben auseinander, Nils nach links, Mara nach rechts. Dabei schleuderte jeder noch ein weiteres Buch, ehe sie genug damit zu tun hatten, den Nachstellungen des Direktors zu entkommen.

Der Untote zögerte, dann folgte er Nils. Dabei handelte er sich einen weiteren Treffer von Mara ein, die ihm mit aller Kraft ein Buch an den Hinterkopf warf. Ein widerwärtiges Knacken ertönte, doch was immer auch unter dem Angriff zerbrochen war, es zeigte keine Wirkung auf den Direktor. Stattdessen setzte er weiter hinter Nils her, der jetzt an der Trennwand vorbeilief und von der anderen Seite aus versuchte, sie umzustürzen – er hoffte wohl, den Direktor unter den Brettern und Büchern zu begraben.

Doch das Regal war stabiler als es aussah, und ehe Nils es auch nur zum Wanken bringen konnte, zischte bereits der Rohrstock in seine Richtung. Mit einem überraschten Keuchen sprang er zurück und verschwand im vorderen Teil des Archivs.

»Er lenkt ihn von uns ab«, flüsterte Chris beeindruckt.

Tatsächlich – der Weg zur Hintertür war frei.

Als hätte der Direktor Chris’ Worte gehört, tauchte er plötzlich auf der anderen Seite der Regalwand wieder auf und baute sich als schwarzer Umriss vor der Tür auf.

Mara eilte zu der Stelle, an der sie Nils zuletzt gesehen hatten. »Nils?« Angst klang aus ihrer Stimme. »Nils, wo bist du?«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann stolperte Nils plötzlich aus der Dunkelheit auf sie zu. »Sag bloß, du hast dir Sorgen gemacht?«

Sekundenlang sah es aus, als würde sie es tatsächlich zugeben, doch dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig. Sie versuchte, wieder hart und unnahbar zu wirken. »Sorgen? Klar – so wie ein Babysitter um seine kleinen Hosenscheißer.«

Nils grinste sie wissend an, verzichtete aber auf eine Erwiderung.

Mara wandte sich verwirrt von ihm ab, und gemeinsam liefen sie zurück zu Kyra und Chris.

»Wir kommen nicht zur Tür durch«, presste Kyra angespannt zwischen ihren Lippen hervor.

Sie hatte Recht – jedes ihrer Ablenkungsmanöver war gescheitert, und es gab keine Hoffnung, dass ein neuerlicher Versuch mehr Erfolg haben würde. Der Direktor war zu schnell, auch ohne die magische Macht, die sie ihm genommen hatten.

Kyra fragte sich verzweifelt, ob es nicht irgendeinen Weg gab, die Energie zurückzuhalten, die die letzte Alraune ihr abzapfte. Wenn sie den Untoten nicht länger mit Lebenskraft speiste, würde er ihnen bald nichts mehr entgegensetzen können.

Aber, verflixt, sie war keine Hexe. Sie hatte nicht den geringsten Schimmer, wie sie die Macht in ihrem Inneren kontrollieren oder gar nutzen konnte.

»Was ist das denn?«, raunte plötzlich Nils.

»Was meinst du?« Chris schaute sich verwundert um, konnte aber nichts erkennen.

Nils deutete mit einem Nicken zum Direktor hinüber, der immer noch reglos vor der Tür des Hinterzimmers stand. Seine überlegene Ruhe machte ihn noch bedrohlicher.

»Ich seh nix«, sagte Mara.

»Über ihm!« Nils’ Stimme klang eindringlich. »Über seinem Kopf – schaut mal genau hin.«

Es fiel schwer, den Blick vom hypnotisch-hässlichen Gesicht des Direktors zu lösen; und doch schauten jetzt alle empor auf eine Stelle, die sich etwa vierzig Zentimeter über dem Kopf des Untoten befand.

Dort baumelten zwei Füße aus dem Nichts!

»Das … das sind Lisas Schuhe!« Nils bekam die Worte kaum heraus, so aufgeregt war er.

In der Tat schwebten Lisas Füße über dem Direktor, ohne dass dieser sie bislang bemerkt hatte. Sie endeten einen Fingerbreit über dem Rand der Schuhe, die Waden waren glatt abgeschnitten. Und trotzdem schwankten sie unmerklich vor und zurück, so als ließe Lisa ihre Beine baumeln.

Kyra begriff nicht, was hier vorging, doch sie ahnte sehr wohl, dass sie den Direktor ablenken musste. Was immer das sonderbare Auftauchen von Lisas Füßen zu bedeuten hatte – der Untote durfte sie auf keinen Fall entdecken.

»Hey, alter Mann«, rief sie und erntete dafür verwunderte Blicke ihrer Freunde. »Wie war das damals? Ist das dort hinten der Balken, an dem sie dich aufgeknüpft haben? Hast du noch immer solche Atembeschwerden?«

Mara sah Kyra von der Seite an, als hätte sie endgültig den Verstand verloren.

Doch Kyra ließ sich nicht beirren. Lisa war noch am Leben. Und ganz offensichtlich mussten sie ihr Zeit verschaffen.

Der Direktor öffnete seinen verkümmerten Mund, wie um etwas zu sagen – als plötzlich alles ganz schnell ging.

Aus dem Nichts über seinem Kopf stürzten Lisa und noch eine zweite Gestalt herab – Toby! Die beiden purzelten dem Direktor geradewegs auf den Kopf und schleuderten ihn durch ihr Gewicht zu Boden. Sein Rohrstock flog ihm aus der Hand und segelte in weitem Bogen quer durch den Raum.

»Lisa«, schrie Nils euphorisch und raste auf seine Schwester zu. Auch die drei anderen sprangen vor. Kyra gab im Laufen dem Bücherpodest einen heftigen Tritt; die schweren Lederbände begruben den Stock unter sich.

Lisa und Toby rappelten sich auf. Nils packte seine Schwester am Arm und zerrte sie aus der Reichweite des Direktors, der sich im selben Moment hinter ihnen in die Hocke zog. Als er den Kopf hob und die Freunde hasserfüllt anstarrte, leuchtete ein mörderischer Glanz in seinen Augen.

Aber Kyra war schneller als er. Aus dem Laufen heraus machte sie einen gewaltigen Satz, der sie über den Untoten hinweg und geradewegs gegen die Hintertür trug.

Mit einem morschen Bersten und Brechen gab das Holz nach, und Kyra krachte durch die Tür ins Hinterzimmer.

Der Direktor stieß ein schreckliches Heulen aus, sprang auf die Füße und fuhr herum.

Es war dunkel in dem Zimmer. Kyra hatte ihre eigene Taschenlampe bei dem Aufprall verloren, aber das Licht von Nils’ Lampe, das durch die Tür hereinschimmerte, reichte aus, um sie den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes erkennen zu lassen.

Und die Pflanze, die darauf stand.

Kyra packte die Alraune, zerrte sie aus dem Topf. In Windeseile ergriff sie die beiden Wurzelbeine – und riss sie mit einem harten Ruck auseinander.

Die Wurzel zerbrach in zwei Hälften.

Der Direktor taumelte mit ausgestreckten Klauen herein, wollte Kyra packen. Doch auf halber Strecke erstarrten seine Bewegungen, schienen zu gefrieren.

Der Verfall begann an seinen Fingerspitzen. Wie trockenes Geäst brachen sie ab und fielen zu Boden, gefolgt von seinen mumifizierten Unterarmen, seinen Ellbogen, den Schultern.

Der Mund des Direktors öffnete sich, überdehnte seine verkümmerten Kiefermuskeln, wurde weiter und weiter, bis ein Fußball hineingepasst hätte. Seine gelben Augäpfel wölbten sich vor, die straffe Haut über seinen Wangen pulsierte rasselnd wie ein Blasebalg.

Der Direktor zerplatzte in einer trockenen Staubwolke und legte sich als Ascheregen über die Gesichter der Freunde.

Alle husteten und spuckten, rieben sich angewidert mit den Ärmeln über Mund und Augen.

Kyra bemerkte als Erste, dass Lisa unauffällig Tobys Hand ergriffen hatte. Kyra schenkte ihrer besten Freundin ein verwirrtes Lächeln, sagte aber nichts.

»Wir … wir sind einfach durch den Spiegel gesprungen«, stammelte Lisa.

»Wir wussten nicht, was passieren würde«, sagte Toby. »Genauso gut hätten wir hier als Hackfleisch ankommen können. Aber wir mussten doch irgendwas tun …«

Nils umarmte seine Schwester von hinten und gab ihr einen erleichterten Kuss auf den Hinterkopf. Kyra hatte niemals zuvor gesehen, dass er so etwas tat. Sie wollte etwas sagen, doch im selben Moment löste sich Mara aus der Gruppe, trat an Kyra vorbei, griff nach einem Holzschemel und begann, wie eine Wahnsinnige auf die Einrichtung des Hinterzimmers einzuschlagen.

Bücher und Papiere flogen in Fetzen, wirbelten in alle Richtungen. Was immer hier noch aufbewahrt wurde, das einst der Hexe, der Schwester des Direktors, gehört hatte – Mara würde es finden und zerstören.

Kyra trat langsam auf Lisa zu, umarmte sie und schüttelte dann Toby die Hand.

»Schön, dass ihr wieder da seid«, sagte sie leise.

Lisa und Toby sahen einander an und strahlten.