Der Spiegel zwischen den Welten

Hastig stürmten Chris und Nils durch den Eingang zur Schwarzen Lagune. Warme Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen. Dschungelatmosphäre. Der Schrecken vom Amazonas war plötzlich so real wie niemals zuvor.

Nils schaute sich verzweifelt um. »Wie sollen wir hier die Alraune finden?«

Im Dickicht der Palmen und Farne, die von den Schülern rund um das Wasserbecken aufgestellt worden waren, war die Hexenpflanze so gut wie unsichtbar.

»Naja, wir probieren es mit Suchen – was sonst?« Chris sprang vor und teilte das Gestrüpp mit den Händen. »Leuchte hierher mit der Lampe.«

Eine Weile lang durchforsteten sie schweigend das dichte Gestrüpp. Es gab Dutzende von Kübeln; Mara konnte die Alraune in jeden davon gepflanzt haben, versteckt unter breiten Farnwedeln oder hinter dem Stamm eines Gummibaums.

Mit einem Mal blieb Nils stocksteif stehen.

»Was ist?«, fragte Chris.

»Hast du das auch gehört?«

»Was denn?«

»Sei mal still. Hör zu.«

Beide horchten hinaus in die Dunkelheit.

Fernes Jammern und Heulen ertönte, gedämpft durch die Wand zum Nebenzimmer.

»Lisa«, rief Nils und wollte augenblicklich losrennen.

Chris hielt ihn zurück. »Warte! Das ist nicht Lisa. Das sind mehrere Stimmen.«

Nils lauschte erneut. »Klingt wie Gespenster.«

»Was ist drüben im Nebenzimmer?«

Nils begriff schlagartig, auf was Chris hinauswollte. »Die Gespenstergruft!« Sein Atem stockte. »Aber meinst du, dass –«

»Dass die Geister zum Leben erwachen«, flüsterte Chris. »So klingt’s jedenfalls.«

Das schauerliche Wehklagen bereitete ihnen eine Gänsehaut.

»Und was ist das?« Chris deutete auf die gegenüberliegende Wand. »Das hört sich an wie –«

»Wolfsgeheul«, führte Nils den Satz zu Ende.

Und tatsächlich – aus dem zweiten Nebenzimmer drang das lang anhaltende Heulen eines Wolfes.

Nils’ Stimme schwankte. »Der Werwolfkerker!«

»Dann ist es viel schlimmer, als wir gedacht haben.« Chris hielt eine der Palmen umklammert, bis seine Fingerknöchel weiß durch die Haut schimmerten. »Die Halloweendekorationen werden lebendig!«

Nils fuchtelte unsicher mit den Händen.

»Macht er das?«

»Wer sonst?«

Rasch setzten sie ihre Suche nach der Alraune fort, noch schneller, noch gründlicher, während sie doch am liebsten die Hände auf ihre Ohren gepresst hätten, um die schauerlichen Laute aus den Nebenräumen auszusperren.

Zu dem Heulen gesellte sich jetzt ein Kratzen. Jemand schabte an der Wand, die das Lagunenzimmer vom Werwolfkerker trennte. Es klang wie ein Hund, der ein Loch gräbt: schnell, gezielt, kraftvoll.

»Da versucht jemand, durch die Wand zu brechen!«, rief Nils. Der Lichtschein seiner Taschenlampe zuckte bebend über die Pflanzen hinweg, zitterte wie ein Irrlicht.

»Halt die Lampe ruhig«, verlangte Chris. »Ich seh sonst nichts.«

Nils wollte gerade etwas erwidern – als mit einem Mal etwas aus dem Dickicht der Palmwedel schoss. Eine grüne Klaue legte sich über Chris’ Gesicht und zerrte ihn mit mörderischer Gewalt nach hinten. Strampelnd verschwanden seine Beine zwischen den Pflanzen, dann war er fort.

»Chris!«

Nils tat instinktiv das einzig Richtige: Mit einem wagemutigen Sprung setzte er hinter Chris her.

Er verschwendete keinen Gedanken an das Risiko oder an die Art und Weise, auf die er Chris helfen wollte. Sein Sprung war purer Reflex.

Und damit rettete er Chris das Leben.

Mit einem Aufschrei flog Nils durch die grüne Blätterwand, klatschte gegen etwas Glitschiges und prellte es durch seinen Schwung beiseite.

Die Klaue, die gerade dem am Boden liegenden Chris den Garaus machen wollte, verfehlte ihn, als ihr Besitzer beiseite flog.

Der Schrecken vom Amazonas, die Kreatur aus der Schwarzen Lagune! Ein grüner Körper, annähernd menschlich gebaut, aber mit den Schuppen und Hornplatten eines Reptils. Ähnlich wie in dem alten Film, dessen Titelmonster sie nachempfunden war – nur schrecklicher, stärker, grausamer. Und stinkend.

Die Bestie hatte keinen Kopf.

Kein Wunder: Nils hatte die Maske unten im Hexenhaus liegen lassen. Was jetzt zum Leben erwacht war, war lediglich das Kostüm, auch wenn es nun ganz anders aussah als am Nachmittag, viel realistischer, gefährlicher. Und es war keineswegs leer. Unter Horn und Schuppen spannten sich mächtige Muskeln. Trotz seiner menschenähnlichen Anatomie hatte das Wesen die Kraft eines Raubtiers.

»Weg hier! Schnell!« Nils riss Chris auf die Beine und wollte mit ihm durch das Blätterwerk abtauchen, als Chris plötzlich brüllte:

»Runter!«

Nils zog den Kopf ein, und im selben Augenblick rauschte ein stinkender Luftzug über ihn hinweg – die Reptilienpranke der Kreatur hätte ihm glatt den Schädel von den Schultern geschlagen. So aber tauchte Nils unter dem Schlag hinweg und taumelte mit Chris durch die Gewächswand.

Sie gelangten an das Wasserbecken, das Herz der Lagune. Der umherzitternde Lichtkegel irritierte sie mehr, als dass er sie führte, aber Nils war nicht mehr in der Lage, die Lampe ruhig zu halten. So stolperten sie durch Farn und Palmenwedel und umrundeten das halbe Becken bis zur gegenüberliegenden Seite.

Hinter ihnen stapfte das kopflose Amazonasmonster aus dem Dickicht. Dort, wo sein Hals hätte sein müssen, schlossen die Schultern glatt ab. Doch auch ohne Schädel überragte es die beiden Jungen um beinahe eine Unterarmlänge.

»Und jetzt?«, keuchte Nils.

Chris brachte kein Wort hervor. Weglaufen hatte auf Dauer keinen Sinn.

Hinter ihnen drang das Schaben und Kratzen immer lauter und zorniger durch die Wand zum Werwolfkerker. Etwas arbeitete sich Stück für Stück durch die Mauer, und jetzt konnten sie das Bröckeln von Kalk und Mörtel hören – auf ihrer Seite der Wand!

Auch das Jammern und Wehklagen der Geister hob an wie beim Finale eines höllischen Chorgesangs.

Der Schrecken vom Amazonas glitt auf sie zu. Er schien keine Schritte zu machen, raste einfach vorwärts – und stolperte über den Rand des Wasserbeckens! In einer schmutzigen Fontäne klatschte die Kreatur ins Wasser und war eine Sekunde später untergetaucht.

img11.jpg