Die vierte Alraune

Die Treppe zum Schulkeller lag in völliger Finsternis. Sogar der Strahl der Taschenlampe schien Schwierigkeiten zu haben, die Düsternis zu durchdringen, so als sei das Dunkel dort unten greifbar wie schwarzer Schlamm.

»Mir gefällt das nicht«, flüsterte Mara.

Die beiden Mädchen standen am oberen Ende der Treppe und schauten unsicher in die Tiefe.

»Lass uns gehen«, sagte Kyra leise. »Es bleibt uns ja doch nichts anderes übrig.«

»Könnten wir nicht einfach die Polizei holen?«

»Und was willst du denen sagen? ›Hey, Leute, da läuft ein Geist durch die Schule – ich glaube, es ist dieser alte Direktor!‹« Kyra schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee.«

Mara schwieg. Sie wusste natürlich, dass sie selbst die Schuld an dem ganzen Fiasko trug. Es brachte nichts, das abzuleugnen oder die Lösung des Ganzen auf andere abzuschieben. Tatsächlich konnte sie froh sein, dass Kyra und ihre merkwürdigen Freunde aufgetaucht waren. Allein hätte sie keine Chance gegen den Direktor gehabt.

Sie wollten gerade losgehen, die Treppe hinunter zum Kellerarchiv der Schule und zur letzten Alraune, als hinter ihnen Schritte ertönten.

Beide fuhren erschrocken herum.

»Oh Mann«, entfuhr es Chris, als er mit Nils auf sie zulief, »euch ist nichts passiert!«

Er umarmte Kyra erleichtert, ganz kurz nur, und doch lange genug, dass ihr ein warmer Schauder über den Rücken lief. Eilig verdrängte sie das Gefühl. Keine Zeit, über solche Dinge nachzudenken.

Nils grinste sie an. »Ihr glaubt nicht, was wir erlebt haben!«

»Doch«, erwiderte Mara trocken, »glauben wir.«

Nils ließ sich davon nicht beeindrucken und wollte gleich alles erzählen, aber Kyra bremste seinen Mitteilungsdrang.

»Später«, sagte sie. »Wir müssen erst runter ins Archiv und die vierte Alraune zerstören.«

»Wo ist der Direktor hin?«, fragte Chris. »Wir dachten, er ist bei euch.«

»War er auch. Aber dann ist er verschwunden.«

»Glaubt ihr, er wartet da unten auf uns?«, fragte Nils.

Mara verzog die Oberlippe. »Er wird wohl kaum mal eben aufs Klo gegangen sein, oder?«

Er schenkte ihr einen mürrischen Blick, sagte aber nichts mehr.

Gemeinsam machten sich die vier auf den Weg in den Keller der Schule. Alle hatten mit ihrer Angst zu kämpfen. Noch immer wussten sie nicht, was aus Lisa geworden war. Außerdem ahnte keiner, was der Direktor ihr antun mochte. Würde er mit seinem Rohrstock auf sie einschlagen? Würde er sie verhexen? Sie einfach auffressen wie ein Kannibale?

Kyra schüttelte sich. Keine angenehmen Gedanken.

Sie und Nils gingen als Erste, weil sie die Taschenlampen trugen. Mara war gleich hinter ihnen, denn nur sie kannte sich hier unten aus. Während ihrer Recherchen im Schularchiv war sie ein Dutzend Mal oder noch häufiger hier herabgestiegen. Nur sie wusste, welche Tür zum Archiv führte und wo die vierte Alraune versteckt war.

Das Ende der Treppe mündete in einen langen Korridor. Er erstreckte sich durch tiefe Schatten nach rechts und links. Das Licht der Taschenlampen war zu schwach, um die beiden Enden des Gangs zu erhellen. Im Dunkeln sah es aus, als würde er sich bis ins Endlose fortsetzen. Ein kalter Luftzug wehte hier unten, es roch muffig und abgestanden.

Nils rümpfte die Nase. »Hier stinkt’s.«

»Das liegt an dem feuchten Mauerwerk.« Chris fuhr mit den Fingerspitzen über die Wand. Sie war übersät mit grüngrauen Schimmelflecken.

»Kommt, weiter.« Mara schlug den Weg nach rechts ein und winkte sie hinter sich her. Sie übernahm jetzt die Führung, obwohl sie keine Lampe hatte. Sie fand den Weg auch so.

Nils leuchtete mit der Taschenlampe an der Decke entlang. »Das müssen irgendwann mal runde Gewölbe gewesen sein«, stellte er fest.

»Die Decke ist auf jeden Fall mit Gipsplatten abgehängt.«

Kyra folgte seinem Blick. »Das heißt, dass es darüber einen Hohlraum gibt, oder?«

Nils nickte.

»Meinst du, der ist groß genug, um sich darin zu verstecken?«, fragte Kyra.

»Groß genug schon. Allerdings glaube ich kaum, dass der Direktor es nötig hat, sich vor uns zu verkriechen!«

Kyra zuckte die Achseln. »Er ist geschwächt. Er wird versuchen, uns eine Falle zu stellen.«

Diese Vorstellung gefiel Nils überhaupt nicht. Während sie sich vorwärts bewegten, konnte er seine Blicke nicht von der Decke nehmen. Jeden Moment erwartete er, dass die Gipsplatten auseinander brechen und der Schatten des Direktors auf sie herabsinken würde – wie eine Riesenkrähe mit flatterndem Gefieder.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Chris.

»Zehn, zwanzig Meter«, erwiderte Mara flüsternd. »Da vorne um die Ecke rum, dann sind wir da.«

Unbehelligt erreichten sie eine Gangkreuzung. Mara führte sie nach links, vorbei an ausgemusterten Stuhlreihen und leeren Schaukästen, die der Hausmeister hier abgestellt hatte. Die Taschenlampen erzeugten matte Reflexe auf den Scheiben, Lichtspiegelungen huschten wie Gespenster über die Wände.

Noch immer entdeckten sie keine Spur des Direktors.

»Ich möchte wissen, was der vorhat«, murmelte Chris.

Nils nickte beipflichtend. »Er muss doch hier irgendwo auf uns warten.«

Vor einer Tür am Ende des Gangs blieb Mara stehen. An dieser Stelle endete die Gipsverkleidung über ihren Köpfen, und sie konnten die hohe gewölbte Steindecke darüber erkennen. Noch immer rechnete Nils damit, dass der Direktor sich von dort auf sie herabstürzen würde. Die Tür des Schularchivs war aus dunklem Eichenholz und lief oben spitz zu.

»Sieht ziemlich alt aus«, meinte Chris.

Mara stimmte ihm zu. »Die stammt aus der Zeit, als das Gebäude noch keine Schule war. Der Keller ist fast dreihundert Jahre alt. Das, was wir heute Altbau nennen, hat man erst vor knapp hundertzwanzig Jahren obendrauf gesetzt. Die meisten Türen hier unten wurden später erneuert, aber die hier ist original von damals.«

»Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl dabei«, flüsterte Nils.

»Immer, wenn wir so einen alten Kasten betreten, passiert irgendeine Katastrophe«, pflichtete Chris ihm bei.

»Ihr geht doch schon länger hier zur Schule, oder?«, sagte Mara sarkastisch. »Und bisher ist noch nix passiert.«

»Oh«, entgegnete Nils, »Katastrophen gab’s genug. Ich kann dir ja mal meine letzten Zeugnisse zeigen.«

Kyra knuffte ihn grinsend in die Seite. Es machte ihr Mut, dass sie selbst in einer solchen Lage nicht ihren Humor verloren. Das war ein Punkt, den sie ihrem Gegner voraushatten. Fragte sich nur, ob ihnen das irgendwie helfen würde, wenn er sie mit seinem Zombiegesicht angrinste und ihnen seinen verfaulten Leichenatem ins Gesicht blies.

Mara drückte die schwere Messingklinke herunter. Sie hatte die Form einer großen Hasenpfote und quietschte schrill.

Nils runzelte die Stirn. »Jetzt weiß er auf jeden Fall, dass wir hier sind.«

»Das weiß er so oder so«, flüsterte Kyra.

Die Tür schwang nach innen. Sofort wehte ihnen der Geruch von altem Papier entgegen, vermischt mit irgendetwas anderem, Fremderem. Wie exotische Gewürze, nur unangenehmer.

»Riecht wie bei deiner Tante im Laboratorium«, feixte Nils in Kyras Richtung. Ihre Tante Kassandra besaß einen kleinen Teeladen, in dem sie allerlei eigenwillige Teemischungen verkaufte. Laboratorium nannten die Freunde den Raum hinter dem Laden, in dem Kassandra immer neue, meist ungenießbare Teekreationen zusammenmixte.

Kyra übernahm die Führung der kleinen Gruppe. Zögernd betraten sie das alte Schularchiv.

Der Raum war groß und dunkel. Die Wände waren bis zur hohen Decke mit Regalen ausgekleidet, in denen Bücher und Aktenordner lagerten. Hier unten gab es keine Schulbücher – die wurden im Neubau aufbewahrt –, nur Dokumente und Unterlagen aus der Geschichte der Schule. Das Ganze erinnerte ein wenig an Herrn Flecks Stadtarchiv unter dem Rathaus, nur dass sich alles, was hier aufbewahrt wurde, auf die Historie der Schlossschule bezog.

In der Mitte des Raumes stand ein langer Holztisch mit mehreren unbequemen Hockern. Aufgeschlagene Ordner und lose Blätter lagen verteilt auf der Tischplatte.

Der hintere Teil des Archivs lag verborgen jenseits mehrerer Regale, die irgendwer vor langer Zeit als Trennwand aufgestellt hatte.

»Wo ist die Alraune?«, wollte Kyra wissen.

Mara seufzte. »Hinter den Regalen gibt es eine kleine Tür. Sie führt in ein Nebenzimmer, das kaum noch jemand betritt. Da hab ich sie versteckt.«

»Warum nicht gleich auf dem Mond?«, meckerte Nils. »Um dahin zu kommen, würden wir wenigstens noch länger brauchen.«

Mara schaute mit einem Mal ein wenig schuldbewusst drein. »Lasst mich gehen«, schlug sie vor. »Ihr könnt hier warten, und ich hol sie her.«

»Nein«, sagte Kyra. »Jetzt sind wir einmal alle hier unten, und nun bringen wir das auch zusammen zu Ende.« Das klang tapferer als sie sich eigentlich fühlte, denn natürlich war auch ihr klar, dass sich der Direktor bestimmt nicht kampflos ergeben würde. Die letzte große Auseinandersetzung stand noch bevor.

Langsam bewegte sich die Gruppe tiefer in den Raum, näherte sich der Trennwand aus Bücherregalen. Eine fette schwarze Spinne huschte vor ihnen über den Boden, gefolgt von einer Ratte. Wenig später raschelte es in der Dunkelheit: Die Ratte hatte ihre Beute gefangen und verspeiste sie.

»Kinder müssen lesen«, wisperte plötzlich eine Stimme, die sie alle nur zu gut kannten. »Kinder müssen sich bilden, müssen lernen. Kinder müssen gehorchen.«

Die vier blieben stehen. Kyra atmete tief durch.

»Wo steckt er?«, flüsterte Nils.

»Hinter der Trennwand.« Kyra ließ den Lichtkegel über die Regale geistern, aber alles, was sich dahinter befand, blieb im Dunkel verborgen.

»Wenn er uns angreift, teilen wir uns auf«, sagte Kyra sehr leise. »Wenn ein paar von uns ihn ablenken, schafft es vielleicht einer, bis in dieses Nebenzimmer zu kommen und die Alraune zu zerstören.«

»Sie steht in einem Topf auf dem Tisch«, raunte Mara. »Ich hab sie nicht besser versteckt, weil sowieso niemand hier runterkommt.«

Kyra schaute einen nach dem anderen an.

»Fertig?«

Nils bemühte sich um ein schwaches Grinsen. »Wird bestimmt ein Kinderspiel.«

Kyra nickte. »Sicher.«

Sie wandten sich wieder der Regalwand zu, die den hinteren Teil des Archivs verdeckte. Kyra und Nils hielten ihre Lampen darauf gerichtet wie Schusswaffen. Das Gewicht in ihren Händen verlieh ihnen ein schwaches Gefühl von Sicherheit. Chris und Mara waren da schlechter dran; sie konnten nur die Fäuste ballen und vergebens hoffen, dass es half.

»Kinder, Kinder, Kinder«, wisperte die Stimme des Direktors irgendwo in der Finsternis.

»Kommt, um eure Strafe zu empfangen.« Er kicherte böse. »Kommt zu eurem Lehrer.«

Sie sahen einander unsicher an, setzten ihren Weg aber fort. Zu beiden Seiten der Regalwand gab es Durchgänge zum hinteren Teil; sie wählten den linken. Die Bretterkonstruktion war bis zum Bersten mit Büchern und Ordnern gefüllt. Sie sah aus, als würde sie auf der Stelle auseinander brechen, wenn man nur ein einziges weiteres Blatt Papier hineinschob.

Der Direktor stand auf einem Turm aus Büchern, ein Block aus zerfledderten, ledergebundenen Folianten, die der Gründungszeit der Schlossschule entstammten. Er erhob sich dort oben wie ein Götze auf einem Podest aus Wissen und Gelehrsamkeit, ein König auf seinem Thron, Herrscher über die Schule und die Zukunft der Schüler.

Über seinem Kopf verlief ein uralter Balken. Darin steckte ein rostiger Eisenhaken.

»Ahhh«, hauchte er leise, »ihr seid da.«

Mit einer blitzschnellen Bewegung ließ er den Rohrstock in seine offene Handfläche klatschen. Einmal, zweimal, immer weiter.

 

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