Im Hexenhaus

»Wer ist das?«, keuchte Nils.

»Ganz egal«, erwiderte Kyra, ohne ihren Blick von dem schwarzen Umriss am Ende des Gangs zu nehmen. »Wir müssen irgendwas unternehmen.«

»Wir wissen ja nicht mal, was er von uns will«, flüsterte Lisa.

Strafe, Strafe, Strafe, hallte es von den Wänden wider.

»Das reicht ja wohl als Antwort.« Kyra ballte die Fäuste. »Los, rüber zum Notausgang.«

Einige Meter entfernt befand sich eine Tür, auf die jemand ein Schild mit der Aufschrift Feuertreppe geheftet hatte. Eine Leuchtanzeige, wie sonst bei Notausgängen üblich, gab es nicht.

Chris erreichte die Tür als Erster und riss sie auf. Dahinter gähnte ein runder dunkler Schacht, durch den eine enge Wendeltreppe in die Tiefe führte. Spinnweben – diesmal echte – hingen von den Wänden, und es roch, als hätte sich ein ganzes Rattennest hierher zum Sterben zurückgezogen.

Als Letzte lief Kyra durch die Tür. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass die Gestalt noch immer unverändert am Ende des Korridors stand. Dabei ließ sie einen Stock in ihre linke Handfläche klatschen, in einem regelmäßigen Takt, wie das langsame Ticken einer Uhr.

Kyra riss die Tür hinter sich zu und folgte den anderen in die Tiefe. Sie befanden sich im zweiten Stock und mussten hinunter ins Erdgeschoss, um den Altbau zu verlassen. Aber durften sie einfach davonlaufen? Mit dem Erbe der Sieben Siegel war auch eine große Verantwortung auf sie übergegangen. Wenn irgendwer sich der Gestalt dort oben entgegenstellen konnte, dann waren sie das.

Trotzdem liefen sie erst einmal weiter. Solange sie nicht wussten, mit wem oder was sie es zu tun hatten, blieb ihnen gar keine andere Wahl.

Chris, der als Erster die engen Windungen der Treppe hinunterstürmte, passierte gerade den Zugang zum ersten Stock, als ihnen von unten plötzlich eine Hitzewelle entgegenraste.

»Feuer«, brüllte Chris. »Wartet«

Alle kamen stolpernd zum Stehen. Gerade noch rechtzeitig. Eine weißgelbe Feuerlohe schoss ihnen entgegen. Der untere Teil der Wendeltreppe stand in Flammen! Und das Feuer tobte immer höher, kroch die Stufen herauf, näherte sich ihnen.

»Raus hier!« Nils warf sich von innen gegen die Tür, stieß sie auf.

Polternd stürzten die vier hinaus auf einen Gang, der sich kaum von jenem im Stockwerk darüber unterschied. Kyra warf die Tür zu, und im selben Moment verstummte das Knistern und Prasseln dahinter. Sie zögerte, dann presste sie ein Ohr an das Holz der Tür. Nichts war zu hören – es herrschte Stille. Kyra bückte sich, legte einen Finger an den Spalt unter der Tür. Eiskalte Luft wehte daraus hervor.

»Das ist kein echtes Feuer«, flüsterte sie.

Doch als sie die Tür vorsichtig ein Stück weit öffnete, schossen im Inneren des Schachts sogleich neue Flammen empor. Rasch warf sie die Tür wieder zu. Das Prasseln erstarb.

»Er will uns festsetzen«, entfuhr es Chris. »Die Treppe brennt nur, wenn wir sie betreten wollen.«

Kyra nickte. »Er spielt mit uns.«

Lisa betrachtete die Aufschrift auf dem Notausgang. »Feuertreppe«, las sie vor. »Immerhin hat er Sinn für Humor.«

»Aus irgendeinem Grund hat er Macht über das Gebäude«, sagte Chris.

Nils knautschte gedankenverloren die Monstermaske in seiner Faust zusammen. »Er hat es ja auch seine Schule genannt.«

»Ist das ein Geist? Ein Dämon? Ein Hexer?« Lisa schüttelte den Kopf. »Wir wissen nichts über ihn. Wie sollen wir uns da gegen ihn wehren?«

»Wie wär’s, wenn wir erst mal vom Gang verschwinden?«, schlug Chris vor. »Hier findet er uns auf jeden Fall.«

»Da rüber!« Nils zeigte auf eine Doppeltür, nur wenige Schritte entfernt. »Das ist der alte Speisesaal.«

»Das Hexenhaus?«, fragte Lisa zweifelnd. »Wie passend.«

»Zumindest gibt es nirgends in der Schule eine bessere Möglichkeit, sich zu verstecken.«

Der leer stehende Speisesaal war von den Schülern zum Inneren eines überdimensionalen Hexenhauses umgebaut worden. Dadurch waren Attraktionen entstanden, die alle in irgendeinem Zusammenhang zum klassischen Hexenhaus des Märchens standen, ein Irrgarten aus fantastischen Kulissen und Dekorationen.

Nach einem letzten Blick den leeren Gang hinunter – die unheimliche Gestalt war nirgends zu sehen –, eilten sie durch die Tür und schlossen sie hinter sich. Chris schob einen Stuhl von innen unter die Klinke. Er dachte nicht darüber nach, ob diese Vorsichtsmaßnahme gegen einen Feind Wirkung zeigen würde, der aus dem Nichts heraus Feuer entfachen konnte. Es war das Gefühl der Sicherheit, das zählte, nicht das, was seine Vernunft ihm sagte.

Das Hexenhaus war das Herzstück der Geisterbahn, in die die Schüler den Altbau verwandelt hatten. Es war der Stolz aller, und kein anderes Horrorszenarium im ganzen Gebäude hatte die Besucher mehr beeindruckt.

Aus Sperrholzwänden hatten die Schüler einen Irrgarten aus Kammern, Fluchten und verwinkelten Schächten gebaut. Die Decke des Saals war ungemein hoch, sodass die gesamte Dekoration sich über zwei, stellenweise sogar drei gedrungene Ebenen erstreckte. Die einfallsreiche Konstruktion konnte es mit jeder professionellen Geisterbahn auf irgendeinem Jahrmarkt aufnehmen.

Gleich hinter dem Eingang stand inmitten eines höhlenartigen Raumes ein riesiger Hexenkessel, den die Besucher durch einen Zugang betreten konnten. Im Inneren erwartete sie eine bizarre Lichtshow, die den Eindruck von Flammen und Glut erzeugte. Am Boden des Kessels waren Tierknochen ausgestreut.

Rund um die Kesselhöhle mündeten Stollen, baufällig wirkende Holztreppen und enge Schächte, durch die man nur auf allen vieren kriechen konnte. Wände, Böden und Decke der Kulissen waren in dunklem Braun und Schwarz gehalten. Die Schüler hatten sie mit dem Muster von gemasertem Holz bemalt, sodass man auf den ersten Blick den Eindruck erhielt, die gesamte Attrappe sei aus alten Balken und Bohlen zusammengezimmert, ähnlich dem Inneren einer albtraumhaften Felsenmine. Trotz des baufälligen Aussehens war jeder Punkt des Hexenhauses begehbar, und überall warteten in Nischen und hinter Falltüren unheimliche Überraschungen. Da jedes Element zum Thema des Hexenhauses passen musste, gab es riesige schwarze Raben aus Pappmaschee, deren Augen teuflisch glitzerten; schwarze Kater so groß wie Rinder, mit buckligen Rücken und gesträubtem Fell; einen Kräutergarten mit lebenden Pflanzen, deren Blütenmäuler Zähne entblößten und nach den Besuchern schnappten; und sogar eine Bibliothek mit Zauberbüchern, die unheimliche Schreie ausstießen, wenn man sie berührte.

Rund zwanzig Schüler waren den Tag über im Einsatz gewesen, um hinter den Kulissen die einzelnen Schreckmomente zu aktivieren oder kostümiert aus Öffnungen und Klappen hervorzuspringen. Die Oberstufe hatte sich diesen Ort ausgedacht und in die Tat umgesetzt. Wochenlang hatten die Schüler in Freistunden, an Nachmittagen und sogar in Nächten gesägt, gemalt und geklebt, bis alles so war, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Um diese Uhrzeit lag das Hexenhaus freilich verlassen da. Keine Lichteffekte, keine Gruselgeräusche vom Tonband. Das machte es fast noch schauriger.

Und dennoch – in den Schächten und schmalen Gängen würden sie sich vor ihrem Gegner verstecken können. Zumindest lange genug, um klare Köpfe zu bekommen und ihr weiteres Vorgehen zu planen.

»Ich glaube, ich weiß ’nen Weg in den hinteren Teil«, sagte Nils und lief voraus, vorbei an dem gewaltigen Hexenkessel und einer Versammlung ausgestopfter Raben auf dem Querbalken eines umgedrehten Kreuzes.

Die anderen folgten ihm, kletterten eine Treppe mit schiefen, knarrenden Stufen hinauf und schoben sich nacheinander in eine dunkle Gangmündung, gerade hoch genug, dass ein Jugendlicher gebückt gehen konnte.

Lisa bildete den Abschluss der Gruppe. Was, wenn er die ganze Attrappe einfach in Flammen aufgehen lässt?, schoss es ihr durch den Kopf. Aber sie verdrängte den Gedanken hastig. Keine Zeit, sich mehr Sorgen als nötig zu machen. Und wer wusste schon, ob er sie überhaupt töten wollte? Vielleicht hatte ihr Gegner etwas ganz anderes mit ihnen vor.

»Und was, wenn er uns findet?«, fragte sie laut. Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als sich plötzlich unter ihren Füßen eine Falltür auftat. Mit einem spitzen Aufschrei versank Lisa im Boden, wurde aufgesogen von Dunkelheit und dem Geruch frischer Farbe.

»Lisa!« Chris, der vor ihr gegangen war, wirbelte noch herum und wollte sie packen, doch seine Hände griffen ins Leere. Lisa war in der Öffnung verschwunden.

Lisa hörte die Stimmen der anderen über sich, als sie auf kaltem Stein zum liegen kam. Sie musste sich in der unteren Ebene des Hexenhauses befinden – die Konstruktion war auf dem Kachelboden des Saales errichtet worden. Man hatte darauf verzichtet, einen eigenen Untergrund aus Sand oder Holz anzulegen, wie es in einigen der kleineren Räume geschehen war. Der Bau des Hexenhauses hatte auch so schon genug Geld und Mühe verschlungen.

»Nix passiert«, rief sie nach oben. Über ihr, in der dunklen Decke, leuchtete zuckend das Viereck der Falltür auf, als die Lichtkegel der beiden Taschenlampen darüber hinwegstreiften.

Lisa hatte kaum zu Ende gesprochen, als sich die Falltür schloss. Krachend fiel sie zu, wie von Geisterhand.

»Lisa«, erklang es dumpf durch das Holz. »Lisa, sag irgendwas.« Jemand rüttelte vergeblich an der Falltür. »Warte, wir holen dich!«

Um Lisa war völlige Schwärze. Mit den Fingern ihrer Rechten ertastete sie neben sich eine der Kulissenwände. Als sie prüfend über die raue Oberfläche der Sperrholzplatte fuhr, bohrte sich prompt ein Splitter in ihren Zeigefinger.

Fluchend zog sie die Hand zurück. Als sie die Fingerspitze mit der Zunge berührte, schmeckte sie Blut.

»Hört ihr mich?«, rief sie in die Finsternis.

Über sich vernahm sie trampelnde Schritte auf den Holzböden der oberen Ebene. Lisas Ruf ging in dem lautstarken Poltern unter. Sicher suchten die anderen einen Weg, um zu ihr zu gelangen.

Lisa rappelte sich auf. Ein wenig schwankend stand sie da, zögerte jedoch, sich an der splitternden Holzwand abzustützen. Der Schreck durch den Sturz war ihr in alle Glieder gefahren. Ihr war kalt, und sie zitterte.

»Hallo?«, fragte sie zaghaft. »Hört mich jemand?«

Schweigen.

Das Poltern entfernte sich, klang jetzt gedämpft wie durch Watte.

»Hallo?«

Keine Antwort. Die Schritte der anderen verstummten.

»Chris? Kyra? Nils? Hört mich jemand?«

Es hatte keinen Sinn. Niemand hörte sie. Niemand war da.

Lisa war allein.

Vor ihr in der Schwärze glühten zwei goldfarbene Punkte auf. Ein Augenpaar.

»Ungezogene Lisa«, flüsterte eine Stimme.

Nur Augen, zwei flackernde Glutfunken im Dunkel.

»Du hättest besser auf deine Füße Acht geben sollen, statt den Jungen vor dir anzustarren … diesen Chris.« Der Mann kicherte böse. »So etwas gehört sich nicht für anständige Mädchen.«

Lisa wich zurück. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass von den Sieben Siegeln auf ihrem Unterarm ein pulsierendes Brennen ausging.

Nur Einbildung, durchfuhr es sie. Nur Angst.

»Lauf nicht weg, kleine Lisa«, wisperte die Gestalt und klang plötzlich viel näher, ganz nah an ihrem Ohr. »Mach es nicht schlimmer, als es ist.«

»Nein«, krächzte Lisa. Sie hatte das Wort brüllen wollen, aber ihre Stimme versagte.

»Ich bin da, Lisa. Ganz nah.«

Sie warf sich herum, wollte davonlaufen – und prallte polternd gegen eine Holzwand, die sie in der Schwärze nicht sehen konnte. Der Schmerz zwang sie in die Knie.

Über ihr funkelten die Augen, dann brach sich ein verirrter Streifen Helligkeit auf den Zähnen der Gestalt. Gelbe, stumpfe Altmännerzähne.

Lisa hörte ein Zischen von etwas, das durch die Luft sauste.

Etwas zuckte auf sie zu.

Und dann wurde die Schwärze zu Helligkeit, und sie war an einem Ort, der ihren schlimmsten Albträumen entstammte.

Auf drei Seiten das gleiche Bild: Schulbänke, die sich ins Endlose erstreckten. Leer, verlassen, aber überzogen mit den Krakeleien und Kerben tausender und abertausender Schülergenerationen. Lisa hatte noch nie Schulbänke gesehen, die so eng bemalt und bekritzelt waren.

Als sie sich umdrehte, schaute sie auf ein graugrünes Band, das vom Horizont auf ihrer Rechten zu jenem zur Linken verlief. Eine unendliche Schultafel.

Davor stand ein Junge. Er schrieb mit zitternden Fingern etwas an die Tafel.

Ich bin ein böses Kind.

Immer wieder den gleichen Satz. Zum zweihundertsten oder dreihundertsten Mal.

Mit einem Mal schien er zu spüren, dass jemand hinter ihm stand. Er wirbelte herum und riss instinktiv die Hände vors Gesicht, so als erwartete er, geschlagen zu werden.

Lisa erkannte ihn. »Toby?«

Er senkte die Arme und schaute sie aus großen Augen an.

»Lisa?«, stammelte er. »Was machst du denn hier?«

Bevor sie antworten konnte, erhob sich neben ihr vor den Schulbänken ein finsterer Umriss, eine schwarze, kichernde Silhouette.

»Schreib, Junge, schreib«, wisperte der Direktor. »Und du, Mädchen, wirst ihm Gesellschaft leisten.«

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