Die Oberfläche glättete sich.

Die Bestie war fort.

»Aber … aber das Wasser geht uns höchstens bis zum Knie«, stammelte Nils. »Er kann nicht einfach darin untertauchen.«

»Nein«, pflichtete Chris ihm nachdenklich bei. Er zögerte einen Moment, dann beugte er sich vorsichtig über den Rand des Beckens und versuchte, durch die schwarze Wasseroberfläche zu schauen. Vergeblich. Es war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Ganz langsam streckte Chris eine Hand aus, dann den Zeigefinger, näherte sich damit unendlich zaghaft der Oberfläche und – »Chris!«, rief plötzlich Nils. »Hier!«

Chris zog abrupt die Hand zurück und wirbelte herum.

Nils hockte schwer atmend am Boden, umfasste im Dunkeln etwas mit beiden Händen und zerrte mit aller Kraft daran.

Sekunden später hielt er triumphierend die Alraunenwurzel in der Hand. Auch sie war geformt wie ein Mensch, auch sie trug Kyras Gesicht.

Ein ohrenbetäubendes Poltern verriet, dass jenseits der Büsche etwas durch die Wand ins Zimmer brach.

»Scheiße!«

Nils flog herum und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war. Im Dickicht wurde ein Rascheln laut, immer lauter, kam immer näher.

»Die Wurzel«, brüllte Chris.

Hinter ihm explodierte die Wasseroberfläche. Kaskaden spritzten in alle Richtungen, als sich die Amphibienkreatur blitzschnell aufrichtete, die Klauenarme auseinander riss und sich von hinten auf Chris stürzen wollte.

Nils packte die Wurzel – und brach sie auseinander.

Der Schrecken vom Amazonas erstarrte, sackte zusammen. Augenblicke später schwamm nur noch das leere Kostüm auf dem Wasser.

Auch das Rascheln im Dickicht brach schlagartig ab. Ein leises Winseln ertönte, wie von einem getretenen Hund, dann war Stille. Die Geister im Nebenzimmer verstummten.

»Nummer zwei«, stöhnte Nils und starrte auf die beiden Wurzelhälften in seinen Händen.

Chris nickte erschöpft und brachte kein Wort heraus.

 

Kyra und Mara kämpften erbittert.

Rücken an Rücken standen sie im Halbdunkel und wehrten sich mit ihren Holzknüppeln gegen die heranbrausende Flut fliegender Kürbisköpfe. Kiefer mit spitz gesägten Zähnen schnappten nach ihnen, erwischten Mara an der Schulter und zerfetzten ihr schwarzes Oberteil. Sie schrie auf, holte aber vor Wut und Schmerz nur noch kräftiger mit dem Stab aus und zertrümmerte den bissigen Kürbis im Flug zu Fruchtbrei.

Doch trotz aller Gegenwehr zeichnete sich ab, dass sie den Attacken der Kürbisse unterliegen würden.

»Wir schaffen’s nicht«, keuchte Mara und hieb wild mit dem Knüppel um sich.

»Ich bin schon aus Schlimmerem heil rausgekommen.« Kyra schlug einen fliegenden Kürbis in zwei Hälften und versuchte zugleich Ausschau nach jenem Kopf zu halten, der die Alraune beherbergte. Doch in dem Hagel aus Angreifern, der von allen Seiten auf sie niederprasselte, war das so gut wie unmöglich.

»Aus Schlimmerem?« Mara warf Kyra einen verwunderten Seitenblick zu. »Wie meinst du das?«

»Pass auf!«

Mara duckte sich instinktiv. Nur deshalb entging sie dem aufgerissenen Kürbisschlund, der haarscharf über ihren Kopf hinwegschoss. Sie revanchierte sich, indem sie ihren Stab gerade nach oben stieß und ihren Gegner von unten durchbohrte. Mit der aufgespießten Teufelsfrucht schlug sie nach einem zweiten Kürbis, und beide zerstoben zu gelben Fetzen.

Und dann war es plötzlich vorbei.

Die Kürbisse verharrten in der Luft, tanzten zwei, drei Sekunden mit zitternden Bewegungen auf und ab – dann stürzten sie alle auf einmal zu Boden und zerplatzten in glitschigen Fontänen aus Saft und Fruchtfleisch.

»Was …«, stammelte Mara.

Kyra schaute sich suchend im Halblicht der Taschenlampe um. Sie hielt den Stab noch immer kampfbereit mit beiden Händen. »Nils und Chris haben die Alraune im zweiten Stock zerstört – zumindest ist das die einzige Erklärung, die mir einfällt.«

Im selben Moment hob vor der Tür des Kürbiszimmers ein hohes Kreischen an, als der Direktor den neuerlichen Verlust bemerkte. Etwas krachte wutentbrannt gegen die Tür, doch das Holz hielt stand. Dann herrschte Stille.

»Ist er weg?«, fragte Mara. Zögernd ließ sie ihren Stab sinken.

Kyra nickte. »Scheint so.«

Rumms! Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da prallte erneut etwas gegen den Eingang – und diesmal zuckte ein Riss durch das Holz wie ein schwarzer Blitz, der sich zackig vom oberen Rand nach unten fraß.

»Kyra!« Mara stieß sie an der Schulter an.

»Was?«

»Sieh mal, da drüben.«

Kyra schaute an Maras ausgestrecktem Arm entlang zum hinteren Teil des Zimmers.

Dort steckte ein einzelner Kürbis auf einem Stab. Es war der einzige, der sich nicht in die Luft erhoben und die beiden Mädchen angefallen hatte.

»Das muss er sein!«, rief Mara.

Das Krachen an der Tür wiederholte sich. Ein zweiter Riss erschien.

»Schnell!« Kyra sprang vorwärts, holte noch im Laufen aus und hieb den Kürbis vom Stab. Er zerbrach, und braune Erde rieselte zu Boden.

Kyra fasste ins Innere des Kürbis’ und zerrte die Alraune heraus.

Die Tür zerbarst. Die rechte Hälfte stand schräg nach innen. Durch die entstandene Öffnung tastete sich eine knöcherne Hand, kroch auf dürren Fingern wie eine Vogelspinne.

Strafe, hallte es von den Wänden wider. Strafe, Strafe, Strafe.

Kyra warf den Stab beiseite und packte die Beinstränge der Alraunenwurzel. Einmal noch schaute sie kurz in ihr eigenes, kleines Gesicht aus Wurzelhaut, dann brach sie die Alraune auseinander.

Der Schrei des Direktors war unerträglich. Kyra ließ die Wurzelhälften fallen und presste beide Handflächen auf ihre Ohren. Mara krümmte sich, als hätte ihr jemand mit der Faust in den Magen geschlagen.

Die graue Hand, die durch den Türspalt hereinragte, streckte blitzartig ihre Finger und krampfte unkontrolliert. Einen Augenblick später wurde sie zurückgezogen.

Das schmerzerfüllte Kreischen brach ab, und ein leises Rascheln entfernte sich draußen auf dem Korridor.

»Er zieht sich zurück«, stieß Mara triumphierend aus.

Kyra nickte. »Wunden lecken.«

Mara bückte sich und hob die Wurzelhälften vom Boden. Kyra beobachtete sie, unsicher, wie das andere Mädchen reagieren würde. Was sie in Händen hielt, war vermutlich das Ende ihrer Träume von Hexerei und Zauberkraft.

Aber Mara verriet mit keinem Zucken, was sie beim Anblick der zerstörten Wurzel empfand. Vielmehr führte sie das winzige Wurzelgesicht näher vor ihre Augen und musterte es eindringlich.

»Es schreit«, sagte sie schließlich.

»Hm?«, machte Kyra verwundert.

»Hier, schau’s dir an.« Sie reichte Kyra die Wurzelhälfte mit dem kleinen Kopf.

Mara hatte Recht. Kyras Gesicht auf der Wurzel war schmerzverzerrt, ihr Mund weit aufgerissen – so als sei ein lebendes Wesen bei vollem Bewusstsein in zwei Hälften zerrissen worden.

Kyra schüttelte sich und schleuderte die Alraune angewidert in die Dunkelheit.

 

Lisa saß auf einer der Schulbänke, hatte die Beine angezogen und die Arme um ihre Knie geschlungen. Ihr war klar, dass der Direktor sie bestrafen würde, wenn er sie so erwischte. Allerdings würde das, was sie und Toby entdeckt hatten, ihnen helfen, ihrem Gegner zuvorzukommen.

Toby hockte ihr gegenüber, eine Bankreihe weiter. Gemeinsam blickten sie auf den Boden zwischen den Tischen. Schweißperlen glänzten unter dem Rand von Tobys Baseballmütze; er schwitzte nicht, weil ihm warm war, sondern vor Aufregung über ihre Entdeckung.

Zwischen ihnen befand sich die Stelle, wo der Direktor erschienen und wieder verschwunden war. Der Steinboden des höllischen Klassenzimmers hatte sich an dieser Stelle verändert, auf einer Fläche von etwa einem Meter mal einem Meter.

Der Stein sah hier aus, als wäre er geschmolzen. Seine Oberfläche wirkte auf den ersten Blick wie ein Spiegel, schimmernd und durchscheinend. Doch wenn man hineinsah, schaute einen nicht das eigene Gesicht an. Stattdessen blickte man geradewegs von oben auf den Direktor hinab, der in seinem schwarzen Gewand durch die Korridore der Schule streifte – es war wie das Bild einer Kamera, die über dem Kopf des Direktors schwebte und ihm auf Schritt und Tritt folgte.

»Glaubst du wirklich, wir sehen rechtzeitig, wenn er hierher zurückkommt?«, fragte Toby.

»Ich will’s hoffen«, erwiderte Lisa. »Außerdem erfahren wir so vielleicht, wie es um Kyra und die beiden Jungs steht.«

Lisa und Toby hatten mit angesehen, wie der Direktor die Mädchen durch das Erdgeschoss der Schule bis ins Kürbiszimmer gejagt hatte. Sie wussten nicht, was im Zimmer vorgefallen war, aber sie hatten sehr wohl erkennen können, dass der Direktor keineswegs einen Sieg davongetragen hatte. Erst hatten sie befürchtet, er würde zurückkehren und seine Wut an ihnen auslassen – und, liebe Güte, er war wirklich verdammt wütend gewesen, als er die Tür des Kürbiszimmers einschlug.

Allerdings hatte sich diese Angst als unbegründet erwiesen, denn vor wenigen Minuten war etwas Merkwürdiges geschehen: Der Kopf des Direktors war durch den mysteriösen Spiegel gestoßen wie durch die Oberfläche eines Gewässers, und sein Gesicht hatte sich verzerrt vor Schmerz und Zorn. Doch irgendetwas hatte ihn zurückgezogen, und er war wieder im Boden verschwunden. Etwas hatte verhindert, dass er das Klassenzimmer betrat, beinahe, als hätte ihn mit einem Mal die Zauberkraft verlassen, mit deren Hilfe er zwischen der Schule und diesem Ort zu wechseln vermochte.

Aber bedeutete das auch, dass sie tatsächlich vor ihm in Sicherheit waren? Und was sollte nun aus ihnen werden? Würden sie überhaupt je in ihre Welt zurückkehren können?

An so etwas mochte Lisa gar nicht erst denken. Sie gab sich größte Mühe, hoffnungsvoll zu wirken. Jetzt zu verzweifeln, würde alles nur noch schlimmer machen. Und immerhin war es ihr gelungen, Toby so weit aufzubauen, dass er nicht mehr wie ein Häuflein Elend dastand und seinen ewig gleichen Satz an die endlose Tafel kritzelte.

Er war nett, fand sie. Dabei hatte sie ihm früher kaum Beachtung geschenkt. Klar, er ging in ihre Klasse, sie wusste, auf welchem Platz er saß und wie seine Noten in Mathe waren. Aber gesprochen hatte sie noch nie mit ihm, nicht wirklich. Vielleicht mal hier ein Wort oder da eine Beschimpfung, wenn er oder einer von den anderen Jungs einen nassen Schwamm in die Reihe der Mädchen geworfen hatte. Erst hier, an diesem schrecklichen Ort, hatten sie begonnen, miteinander zu reden, und Lisa war erstaunt, wie sensibel und nachdenklich er war. Anders als alle Jungen, die sie kannte. Anders auch als Chris.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, stand er plötzlich auf, machte einen Bogen um den magischen Spiegel im Boden und trat zu ihr herüber.

»Darf ich?«, fragte er scheu und deutete auf die leere Tischhälfte neben ihr.

»Klar.«

Toby setzte sich zu ihr auf die Schulbank, und nach kurzem Zögern tastete er nach ihrer Hand. Erst hatte er Mühe, ihr in die Augen zu schauen, doch als er es tat, strahlte sie ihn an. Seine Hand fühlte sich gut an. Allmählich wurde ihr klar, dass sie Trost genauso nötig hatte wie er.

Gemeinsam saßen sie da und warteten. Auf Hilfe, auf Rettung.

Darauf, dass Kyra und die anderen sie zurück in die Wirklichkeit holten.

 

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