Das höllische Klassenzimmer

Das Gesicht der Mumie war kühl unter seinen Fingerspitzen, trocken und runzelig.

Toby fragte sich, ob sich Leichen tatsächlich so anfühlten. Er hatte sich die Berührung anders vorgestellt, eher wie brüchiges Papier, oder aber – ganz das Gegenteil – schleimig und weich wie ein Schwamm. Nicht so wie dieses Gesicht, nicht so fest. Nicht wie aus Gummi.

Diese Mumie war aus Gummi. Irgendein unbekannter Künstler hatte ihre Züge geformt, äußerst detailliert, was den verschlagenen Zug um die Mundwinkel anging oder die Krähenfüße an den Seiten der Augen. Nur am Hals hatte er geschludert – hier war die Puppe viel zu glatt und unfertig. Ihr Schöpfer hatte wohl angenommen, die schmutzigen Bandagen, mit denen der gesamte Körper umwickelt war, würden den Hals verdecken. Normalerweise taten sie das auch, aber Toby hatte nicht widerstehen können und die Verbände ein wenig gelockert. Er war einfach zu neugierig: Sah die Mumie auch unter den Stoffstreifen wie eine echte Leiche aus? Wie fühlte sie sich an?

Alles Betrug, dachte er jetzt, als er die Finger unter dem Verband am Hals hervorzog und einen Schritt zurücktrat, um die Mumie in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

Sie lag auf einem rechteckigen Altar, der in Wirklichkeit aus zwei Schulbänken bestand, über die man sandfarbene Decken gebreitet hatte. Die Wände des Klassenzimmers waren hinter Pappaufstellern verborgen, auf die einige der Schüler aus den oberen Jahrgängen ägyptische Zeichen und Hieroglyphen gemalt hatten – oder das, was sie dafür hielten. Den Boden hatten sie mit Sand bedeckt. An mehreren Stellen lagen künstliche Skorpione, die aussahen, als kämpften sie sich gerade aus dem Staub empor.

Insgesamt hatten die Schüler ganze Arbeit geleistet, fand Toby. Der Klassenraum sah tatsächlich aus wie eine uralte Grabkammer, die wagemutige Forscher erst kürzlich freigelegt hatten. Das schummrige Licht und die fremdartigen Klänge, die auf Knopfdruck aus versteckten Lautsprechern kamen, taten ein Übriges, um die Illusion perfekt zu machen.

Den ganzen Nachmittag über, während der unzähligen Führungen durch den Altbautrakt der Schule, hatten sich als Mumien verkleidete Schüler halb im Sand vergraben lassen und hatten sich immer dann, wenn eine neue Besuchergruppe den Raum betrat, langsam erhoben. Vor allem kleinen Kindern hatten die bandagierten Untoten, die sich stöhnend in den Sanddünen aufsetzten, einen gehörigen Schreck eingejagt.

Jetzt waren dort, wo die falschen Untoten gelegen hatten, leere Kuhlen im Sand. Es war fast acht Uhr abends, und die letzten Besucher hatten den Altbau verlassen. Unten, auf dem Innenhof der Schlossschule, klang das diesjährige Halloweenfest mit einigen Attraktionen aus, die für die älteren Schüler und Eltern bestimmt waren.

Toby trug weite Skaterklamotten und eine umgedrehte Baseballmütze. Er war zwölf, und er hatte sich freiwillig bereit erklärt, in allen Räumen das Licht auszuschalten. Soweit er wusste, war er der Letzte, der sich hier im Altbau aufhielt. Toby musste unwillkürlich grinsen, als er an die Wette dachte, die er und ein paar Freunde abgeschlossen hatten. Allein abends inmitten der Gruseldekoration – die anderen hatten geschworen, dass er kneifen würde. Doch ihm jagten die zur Geisterbahn umdekorierten Klassenräume keine Angst ein. Morgen würde er dafür einen ganzen Packen seltener Sammelkarten kassieren.

Außerdem hatte er gehofft, Lisa mit seinem Mut zu beeindrucken.

Toby schwärmte heimlich für Lisa. Sie war seine erste große Liebe – auch wenn er das ihr gegenüber natürlich nie zugegeben hätte. Er war bis über beide Ohren verknallt, zumindest aus der Ferne. Angesprochen hatte er sie noch nie. Seine Freunde meinten, Lisa sei merkwürdig. Schließlich trieb sie sich immer nur mit ihrem Bruder Nils, dieser rothaarigen Zicke Kyra und dem äußerst seltsamen Chris herum. Diese vier waren eine verschworene Gemeinschaft, zu der kein anderer Zugang hatte.

Natürlich änderte das nichts daran, dass Toby Lisa wahnsinnig toll fand. Und als ihr Klassenlehrer nach einem Freiwilligen gesucht hatte, der nach dem Fest einen Kontrollgang durch den Altbautrakt der Schule machen sollte, hatte Toby nicht lange gezögert. Lisa hatte ihn angesehen, als er aufgestanden war und »Ich« gesagt hatte – wirklich angesehen. So, als hätte sie ihn zum ersten Mal tatsächlich wahrgenommen. Und war da Bewunderung in ihrem Blick gewesen? Vielleicht sogar Verliebtheit?

Toby spürte, dass ihm ein wohliger Schauder den Rücken hinunterlief. Lisa war einfach unglaublich süß, ganz gleich, ob nun komisch oder nicht.

Er verließ die Mumiengrabkammer und betrat das Labor des Verrückten Wissenschaftlers. Früher war dies ein Chemieraum gewesen, damals, bevor die Schulleitung den Altbau geschlossen und den kompletten Unterricht aller Klassen in den neuen Trakt der Schlossschule verlegt hatte. Aber das war lange vor Tobys Schulzeit gewesen, vor über zehn Jahren. Seitdem stand der Altbau leer und wartete auf eine gründliche Renovierung – doch dafür fehlte das Geld. Es hatte die Schülervertretung eine Menge Zeit und Mühe gekostet, die Schulleitung zu überreden, den Trakt für Giebelsteins erste große Halloweenfeier zu öffnen.

Alle Räume des Altbaus waren dekoriert worden, in jedem erwartete die Besucher eine neue gruselige Überraschung. Die Fenster waren verdunkelt, und in monatelanger Arbeit waren im Kunstunterricht und in der Freizeit aufwändige Kulissen gezimmert worden. Während mutige Besucher die einzelnen Horrorszenarien begutachteten und dabei von Zombies, Vampiren und anderen Monstern attackiert wurden, fand im Innenhof der Schule ein Halloweenmarkt statt. Daneben gab es – auf einer eigens hergerichteten Bühne – eine Gruselshow mit unheimlichen Zauberkunststücken, eine kurze, ziemlich blutige Theateraufführung und den Auftritt einer einheimischen Heavy-Metal-Band.

Der Tag war ein voller Erfolg gewesen, und fast alle Schüler hatten eifrig mitgearbeitet – sogar Lisa und ihre sonderbare Clique.

Toby hatte den Vormittag in einem viel zu warmen Werwolfkostüm verbracht und sich brüllend in den Ketten einer Kerkerzelle gewunden. Später hatte er dann die Rolle eines Führers übernommen und Besuchergruppen von einem Horrorraum zum anderen begleitet. Deshalb kannte er den Altbau und seine Dekorationen wie seine Westentasche.

Jetzt löschte er das Licht im Labor des Verrückten Wissenschaftlers und trat hinaus auf den menschenleeren Korridor. Die Wände des Gangs waren mit schwarzem Stoff verhängt, der sich oben an der Decke ausbeulte wie ein orientalischer Baldachin. Notleuchten auf Metallständern summten wie ein Wespenschwarm – sie waren nur für den heutigen Tag angebracht worden, da sich herausgestellt hatte, dass das alte Stromnetz des Trakts nicht mehr genutzt werden konnte. Das Licht der Notleuchten war spärlich und von einem ungesunden Gelb, aber alle waren der Meinung gewesen, dass es ganz wunderbar zur unheimlichen Atmosphäre beitrug.

Als Tobys Blick auf seine Hände fiel, hatte das Licht sie gelblich verfärbt. Er fand, dass die Haut krank aussah, wie von hässlichen Ekzemen befallen. Leichenhände.

Er atmete tief durch – und hörte ein Geräusch!

Erschrocken schaute er sich um, doch der Gang war noch immer in beiden Richtungen verlassen. Ihm kam der Gedanke, dass seine Freunde ihm vielleicht einen Streich spielen wollten, um ihm den Gewinn der Wette zu vermiesen.

Da – schon wieder!

Es war ein kurzes, kaum hörbares Zischen, wie von etwas Dünnem, das rasch durch die Luft saust, gefolgt von einem leisen Klatschen. Wie der Schlag einer Peitsche.

Toby stand mucksmäuschenstill und horchte. Das Einzige, was er jetzt noch hörte, war der dumpfe Lärm vom Innenhof, wo sich die Halloweenfeier anscheinend ihrem Höhepunkt näherte. Die dicken Mauern des Altbaus dämpften die Laute und Stimmen, vermischten sie zu einer unwirklichen Klangsuppe, die hin und wieder hochschwappte, um sich gleich darauf zu einförmigem Schweigen zu glätten. Die Stoffbahnen an den Wänden taten ein Übriges, die Spuren der Außenwelt auszusperren.

Das Peitschengeräusch war jedoch aus dem Inneren des Gebäudes gekommen, daran bestand kein Zweifel. Sogar aus diesem Stockwerk. Vielleicht aus einem der angrenzenden Räume.

Toby räusperte sich. »Hallo? Ist da jemand?«

Gut möglich, dass sich ein paar der älteren Schüler aus der Oberstufe hier herumtrieben und Bier tranken. Oder vielleicht eines der Liebespaare, die sich sonst in die Gebüsche vor der Schule verdrückten. Plötzlich war Toby ziemlich neugierig.

Vorsichtig schlich er zur nächsten Tür.

Ein Windstoß von weiß-Gott-woher wehte den Gang hinunter und bauschte die schwarzen Stoffe an den Wänden auf. Es sah aus, als schöben sich bizarre Gestalten an den Mauern entlang, heimlich, verborgen hinter den Stoffbahnen. Der Luftzug rauschte auf Toby zu und passierte ihn. Hinter ihm setzte sich das Aufbauschen der Stoffe fort, raste genauso schnell davon, wie es herangekommen war.

Toby öffnete die nächste Tür und trat ein. Dahinter befand sich ein ehemaliger Waschraum, viel größer als die modernen Toiletten im Neubau. Die Wände waren mit rissigen, gelbstichigen Kacheln bedeckt. Nur zwei Notleuchten spendeten Licht.

Die Armaturen und Toilettenschüsseln waren abmontiert worden. Stattdessen hatte man in einer Ecke des Raumes die Attrappe einer alten Duschkabine aufgestellt. Der Vorhang war – in Anspielung an den Horrorklassiker Psycho – von innen mit Kunstblut bespritzt. Am Boden lag ein Körper, eine Puppe, die irgendwer als zerstückelte Leiche ausstaffiert hatte. Erst jetzt fiel Toby auf, wie verteufelt echt diese Illusion wirkte.

Auf der anderen Seite des Raumes stand ein alter Schaukelstuhl, die Rückenlehne zur Tür gedreht. Auf seinen glänzenden Eichenkufen wippte er vor und zurück.

Vor und zurück.

In dem Stuhl saß eine Gestalt. Ein Hinterkopf mit dünnem, grauem Haar ragte über der Lehne empor.

Toby atmete auf. Er hatte mindestens zwanzig Besuchergruppen durch diesen Raum geführt. Er wusste, dass im Schaukelstuhl die mumifizierte Leiche von Mrs Bates saß, die Mutter des Psycho-Schlitzers Norman Bates. Im Film näherte sich ihr von hinten eine ahnungslose Schauspielerin, wirbelte den Stuhl herum – und blickte in das eingefallene Leichengesicht einer Toten. Die Schüler hatten dem noch einen aufgesetzt: Unter der Totenkopfmaske steckte ein Mädchen, das sich ruckartig aufrichtete, einen markerschütternden Schrei ausstieß und mit beiden Händen nach den Besuchern tastete.

In den Gruseldekorationen war der Übergang zwischen Puppen und maskierten Schülern fließend, bis schließlich sogar Toby vergessen hatte, welcher Körper echt und welcher nur eine ausstaffierte Schaufensterpuppe war.

Mrs Bates aber, die tote Frau im Schaukelstuhl, war eine Schülerin gewesen, da war sich Toby sicher! Und die hatte um diese Uhrzeit nichts mehr im Inneren des Altbaus zu suchen. Warum auch, schließlich hätte es keiner länger als unbedingt nötig unter der engen Gummimaske ausgehalten.

Doch im selben Moment begriff Toby, dass der Hinterkopf über der Stuhllehne keinem Mädchen gehören konnte. Das Haar war dünner als das der Perücke, strähniger, wie mit Gel oder Pomade nach hinten gekämmt.

Toby taumelte zurück. Er würde nicht den gleichen Fehler begehen wie die Schauspielerin im Film. Ganz sicher würde er den Stuhl nicht umdrehen. Um nichts in der Welt.

Das war auch nicht mehr nötig.

Hinter Toby schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall die Tür zu, von unsichtbaren Händen ins Schloss geworfen. Und die Gestalt im Schaukelstuhl erhob sich. Drehte sich um.

Es war ein Mann. Er trug einen bodenlangen schwarzen Kittel, ein altmodisches Gewand, das Toby schon einmal auf vergilbten Schwarzweißbildern an Lehrern oder Professoren gesehen hatte. Auf Fotos, die aus den Anfangszeiten der Fotografie stammten.

Das Gesicht des Mannes war kaum mehr menschlich. Die Züge waren eingefallen, statt einer Nase klaffte eine dreieckige schwarze Öffnung. Gelbe Augäpfel wölbten sich rund und geädert aus tiefen Höhlen. Schmale, dunkle Zähne stachen aus Kiefern, die mit etwas überzogen waren, das aussah wie gekochter Schinken, der zu lange offen auf dem Frühstückstisch gestanden hatte. Als die Gestalt den Mund öffnete, um zu sprechen, konnte Toby mit unwirklicher Klarheit erkennen, dass sie eine merkwürdige, kleine Zunge besaß – sie war verrottet und eingeschrumpft wie eine tote Maus am Wegrand.

Toby schrie.

»Komm näher, Junge«, sagte der Mann. »Komm her zu mir.«

In der rechten Hand hielt die Gestalt eine Reitpeitsche oder einen Rohrstock, die er alle paar Sekunden durch die Luft sausen und in die offene Handfläche seiner Linken klatschen ließ.

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