Die Strafe des Direktors

Vom fernen Horizont wehte ein eiskalter Wind über das Meer der Schulbänke. Lisa vermochte nicht zu sagen, ob sich das gigantische Klassenzimmer im Freien oder innerhalb eines unermesslich großen Gebäudes befand. Über ihr war nichts als Weiß, und doch war es keine Wolkendecke. Dieses Weiß verströmte kaum Licht, es wirkte kalkig und ungesund – wie die Decke eines Schulzimmers. Sie musste so unendlich hoch über ihnen schweben, dass weder Struktur noch Ränder zu erkennen waren.

Das Weiß war ein Hinweis darauf, dass es hoch über ihnen so etwas wie ein Dach gab. Der Wind allerdings widerlegte diese Theorie; er sprach eher dafür, dass sie sich unter einem freien, fremden Himmel aufhielten.

Irgendwann hörte Lisa auf, sich Gedanken über solche Belanglosigkeiten zu machen. Was immer dies alles war – eine andere Dimension, eine fremde Welt, oder gar ein Ort irgendwo auf der Erde – machte letztlich keinen Unterschied. Sie und Toby waren gefangen. Das allein zählte.

Der Direktor war vor wenigen Augenblicken zwischen den Bänken im Boden versunken, hatte sich in eine Wolke aus ranzigem Gestank und Kreidestaub aufgelöst.

Toby stand an der Tafel und schrieb Satz um Satz, wagte kaum, über die Schulter zurück zu Lisa zu schauen. Sie machte ihm deswegen keinen Vorwurf. Der dämonische Oberlehrer hatte ihm genug angetan.

Lisa war nicht geschlagen worden. Das war die gute Nachricht. Die schlechte war, dass sie die bekritzelten Schulbänke reinigen musste – bis in alle Ewigkeit, hatte der Direktor verkündet. Zu diesem Zweck war auf einem der Tische ein ausgefranster Lappen erschienen, der nach Tod und Verwesung roch.

»Ein Stück von meinem Leichentuch«, hatte der Direktor geflüstert. Dabei hatte sich seine verdorrte Zunge zwischen seinen Lippen bewegt wie ein Tier im Todeskampf.

Neben dem Lappen stand eine Schale mit einer stinkenden Flüssigkeit.

»Ich möchte wissen, was das für ein Zeug ist«, murmelte Lisa und schüttelte sich vor Ekel.

»Tu einfach, was er dir befohlen hat«, sagte Toby, ohne sich umzudrehen. Die Furcht saß ihm zu tief in den Knochen.

Lisa musste sich überwinden, das Leichentuch anzufassen. Sie packte es und tunkte einen Zipfel in die Schale. Die Flüssigkeit war lauwarm; sie zischte und dampfte wie Säure, als sie mit dem Tuch in Berührung kam.

Lisa schluckte, dann rieb sie probeweise mit dem feuchten Stoff über die Oberfläche der Schulbank. Sie musste ziemlich hart darauf herumrubbeln und -kratzen, bis sich ein winziger Teil der Krakeleien auflöste.

»Warum hat er dich nicht geschlagen?«, fragte Toby leise. Seine Hand mit der Kreide schrieb weiter an die Tafel: Ich bin ein böses Kind.

»Keine Ahnung.« Lisa rieb noch einmal über die Tischplatte, dann legte sie den Lappen beiseite und trat zu Toby an die Tafel.

»Du kannst jetzt aufhören«, sagte sie. »Er ist nicht mehr hier.«

Toby schrieb weiter. »Er wird kontrollieren, wie viel wir geschafft haben. Er spürt es, wenn wir nicht gehorchen.«

Lisa legte sanft eine Hand auf seine Schulter. Toby fuhr zusammen. Lisa nahm an, die Berührung bereite ihm Schmerzen. Vielleicht hatte der Direktor ihn an der Schulter getroffen. Doch Toby schüttelte hastig den Kopf.

»Schon gut«, sagte er. »Das tut nicht weh.«

»Warum bist du dann so zusammengezuckt?«

»Ich … ich …«, stammelte er und wurde bis über beide Ohren rot. »Ach, gar nichts.«

Lisa sah ihn verständnislos an, dann zuckte sie die Achseln. »Wir müssen überlegen, wie wir von hier wegkommen.«

»Es gibt keinen Weg.«

»Hast du nach einem gesucht?«

»Nein. Aber wenn er uns dabei erwischt, wie wir hier rumstöbern, bestraft er uns.« Toby stieß einen resignierten Laut aus. »Das wird er so oder so tun … uns bestrafen, meine ich.«

»Das Risiko müssen wir eingehen.«

»Dich hat er ja auch noch nicht verprügelt.«

Lisa schaute betroffen zu Boden. »Nein. Tut mir Leid.« Sie überlegte kurz, dann sagte sie:

»Hör zu, wir machen’s so: Du schreibst weiter, dann kann dir nichts passieren. Und ich schau mich ein bisschen um – zum Beispiel an der Stelle, wo dieser Mistkerl auftaucht und wieder verschwindet.«

Toby ließ die Kreide sinken und drehte sich zum ersten Mal zu ihr um. »Tu das nicht, Lisa. Ich … ich will nicht, dass dir was passiert.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Das ist lieb von dir.« Sie nahm seine Hand mit der Kreide und führte sie wieder zur Tafel. »Trotzdem muss ich nachschauen.«

»Aber eigentlich müsste ich … ich meine, ich bin doch der … Junge«, entgegnete er ein wenig hilflos.

»Hey, komm schon«, sagte sie sanft und ein wenig altklug, »wir sind Teenager! Da werden wir doch nicht wie zwei bescheuerte Erwachsene über Gleichberechtigung reden, oder?«

Jetzt konnte er nicht anders und grinste.

»Okay«, sagte er.

Lisa lächelte noch einmal, dann drehte sie sich um. Dabei fiel ihr Blick auf etwas, das am Boden lag. Tobys Baseballmütze.

Lisa hob sie auf und reichte sie Toby. »Hier, das ist deine, oder?«

Er nahm sie und schluckte hörbar. »Lisa? Darf ich dich was fragen?«

»Klar.«

»Glaubst du, wir kommen jemals wieder nach Hause?«

Sie tat alles, um ihre eigene Angst herunterzuspielen, und so nickte sie mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte. »Na, sicher. Ich hab ein paar Freunde, die bestimmt gerade in diesem Moment alles versuchen werden, um uns zurückzuholen.«

»Kyra und die anderen?« Er überlegte. »Ihr seid ziemlich gute Freunde, nicht wahr?«

»Stimmt. Die allerbesten.«

Er scharrte verlegen mit einem Fuß auf dem Boden herum. »Ich muss dich noch was fragen.«

»Schieß los.«

»Wenn wir … ich meine, wenn wir wirklich wieder nach Hause kommen, meinst du, wir zwei könnten auch mal was miteinander unternehmen? ’n Eis essen oder ins Kino gehen?«

Lisa sah ihn überrascht an. Es war das allererste Mal überhaupt, dass ein Junge sie so etwas fragte.

»Ger … gerne«, erwiderte sie stockend.

Toby nickte ernsthaft. »Dann tun wir besser alles, um so schnell wie möglich von hier abzuhauen.« Er ließ die Kreide sinken, setzte seine Baseballkappe auf und trat entschlossen neben Lisa. »Zusammen schaffen wir’s.«

Sie lächelten einander an, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu der Stelle, wo der Direktor sich in weiße Staubschwaden aufgelöst hatte.

 

»Die Wurzel hat ja dein Gesicht«, entfuhr es Mara. »Sie sieht aus wie du.«

Kyra schaute die Alraune mit großen Augen an. Die Wurzelknolle in ihrer Hand wirkte mit ihren Armen und Beinen tatsächlich wie ein Lebewesen. Beinahe erwartete Kyra, dass sie aufspringen, zu Boden hüpfen und davonlaufen würde.

Doch ihr winziges Ebenbild lag weiterhin starr auf ihrer Handfläche, fühlte sich kühl und leblos an.

Der Wurzelkörper war grob und ohne Details, doch das kleine Gesicht, kaum größer als ein Fünfmarkstück, war so eindeutig Kyras Zügen nachempfunden, dass ihnen allen einen Augenblick lang der Atem weggeblieben war.

»Warum hat sie dein Gesicht?«, fragte Mara fassungslos. Ihre Empörung über das Ausreißen der Pflanze war vergessen.

Kyra gab keine Antwort. Es musste mit den Sieben Siegeln zu tun haben. Hatten die Alraunen auf irgendeine Weise gespürt, dass sich jemand in der Schule befand, der das Erbe einer wahren Hexe in sich trug?

Mara riss sich von den beiden Jungen los und wirbelte Kyra an der Schulter herum. »Ich bin hier die Hexe«, sagte sie wütend. »Ich hab die Alraunen gepflanzt! Das da müsste mein Gesicht sein!«

Kyra starrte das ältere Mädchen an, als hätte es den Verstand verloren. »Du bist tatsächlich eifersüchtig?« Sie schwenkte ungläubig die Wurzel. »Hierauf?«

Mara hatte Tränen in den Augen. Jahrelang hatte sie davon geträumt, eine echte Hexe zu sein – und nun, da sie es zum ersten Mal mit wahrer Magie zu tun hatte, machte Kyra ihr den Triumph streitig. Beinahe tat sie den Freunden Leid.

Nur einen Augenblick lang.

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Denn mit einem Mal griff Mara nach einem Bein der Alraunenwurzel und wollte sie Kyra entreißen. »Gib das her!«

Kyra packte die Wurzel fester. »Ich denk ja gar nicht dran.«

Mara zerrte heftiger an der Wurzel, Kyra hielt dagegen.

Mit einem trockenen Bersten brach die Wurzel entzwei.

Die Mädchen stolperten auseinander. Mara betrachtete entgeistert ihre Hälfte des Wurzelkörpers: ein Bein, ein Arm, ein Teil des Torsos.

»Oh nein«, keuchte sie. Ihr Gesicht war verzerrt wie unter Schmerzen.

Kyra hielt ihr Bruchstück in der Hand – sie hatte den Kopf der Alraune erwischt, so als könnte sich das kleine Wurzelgesicht nicht von seinem lebenden Vorbild trennen.

Und dann, wie aus dem Nichts, gellte ein entsetzlicher Schrei durch die Schule.

Nils wirbelte herum. Der Strahl seiner Taschenlampe irrlichterte durch die Kräuterkammer der Hexenhauses. »Was ist das?«

»Wer ist das?«, murmelte Chris.

Der Schrei hallte lang gezogen durch die Säle und Korridore des Gemäuers, um dann abrupt zu verstummen.

»Der Direktor«, flüsterte Kyra in die plötzliche Stille. »Ich glaube, wir haben ihm weh getan.«

Sie packte Mara am Arm. »Wo sind die drei anderen Alraunen? In welchen Räumen?«

Mara zögerte. Sie war viel zu verwirrt, um wirklich zu begreifen, was um sie herum vorging. Das unheimliche Kreischen machte ihr Angst, und erstmals schien ihr der Gedanke zu kommen, dass Kyra und ihre Freunde im Recht waren. Vielleicht hatte sie wirklich an Dingen gerührt, die zu groß, zu mächtig für sie waren.

»Eine ist in der Schwarzen Lagune im zweiten Stock«, sagte sie stockend.

»Klasse«, krächzte Nils lakonisch. »Von da kommen wir gerade.«

»Eine ist im Erdgeschoss, im Kürbiszimmer. Und die letzte hab ich runter in den Keller gebracht, ins Archiv.« Mara atmete kräftig ein und aus, so als bekäme sie kaum Luft. »Das liegt an der Aufregung«, dachte Kyra.

»Okay«, meinte Chris. »Dann wissen wir wenigstens, was wir zu tun haben.«

»Und Lisa?«, fragte Nils.

»Lisa ist nicht mehr hier im Hexenhaus«, sagte Kyra. »Wir hätten sie sonst gefunden. Entweder ist sie weggelaufen, oder der Direktor hat sie irgendwohin verschleppt.«

Hinter ihnen, am Eingang der Kammer, ertönte ein Knirschen.

Chris stöhnte. »Wenn man vom Teufel spricht …«

Ein schwarzer Scherenschnitt schob sich durch die Tür herein. Sofort breitete sich im Raum der Gestank von Alter und Verwesung aus. Das Zischen des Rohrstocks ertönte.

Nils hielt mit der Taschenlampe auf die Gestalt. Zum ersten Mal sahen sie das Gesicht der Kreatur.

Mara schrie auf.

Kyra griff sie am Arm, zerrte sie mit sich nach hinten. Chris und Nils folgten ihnen. Stolpernd und fluchend wichen sie zurück zur Rückseite der Kammer, tiefer in das Gewirr der künstlichen Pflanzen.

»Ungezogene Kinder«, zischte es aus dem Schatten, der sich jetzt wieder über die Fratze des Direktors legte. »Ihr verdient Strafe.«

»Da hinten ist eine versteckte Tür.« Mara deutete auf ein Dickicht aus Plastikgewächsen. Ihre Hälfte der Wurzel hielt sie noch immer fest umklammert.

Kyra schob sich ihr Alraunenstück unter den Hosenbund. »Wo führt sie hin?«

»Das ist ein Notausgang«, erwiderte Mara. Sie stolperte über eine abgebrochene Pflanze, aber Chris erwischte sie gerade noch rechtzeitig und zog sie zurück auf die Füße.

Mara war dabei gewesen, als das Hexenhaus geplant und gebaut worden war. Sie kannte jede Ecke der verwinkelten Konstruktion.

Jetzt drückte sie die Plastikgewächse beiseite und stieß den schmalen Durchgang auf, der dahinter verborgen war. Kyra und die beiden Jungen folgten ihr in eine dunkle Schneise, die entlang der Seite des Speisesaals verlief, außerhalb der Hexenhauskulisse. Hinter sich hörten sie das Säuseln und Zischen des Direktors, der ihnen eng auf den Fersen war.

»Warum entfacht der nicht wieder irgendein Feuer?«, presste Chris atemlos hervor.

»Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir die erste Alraune zerstört haben«, überlegte Kyra laut.

Chris wurde hellhörig, trotz ihrer überstürzten Flucht. »Glaubst du, er verliert mit jeder der vier ein wenig von seiner Macht?«

»Wäre doch möglich, oder? Schließlich haben ihn die Alraunen erst aus dem Jenseits zurückgerufen. Irgendwie zieht er aus ihnen die Energie, die ihn am Leben hält.«

Sie erreichten die Kesselhöhle, und Augenblicke später stürmten sie durch die Tür des Speisesaales hinaus auf den dunklen Flur. Mara verhedderte sich in den schwarzen Stoffbahnen an den Wänden und schlug einen Augenblick lang panisch um sich, ehe sie wieder freikam und mit den Freunden Richtung Treppenhaus rannte.

»Nach oben oder unten?«, fragte Nils, als sie die Stufen erreichten.

»Wir trennen uns«, entschied Kyra. »Wir müssen die Alraunen so schnell wie möglich finden und zerstören. Denkt an Lisa!«

Weder Chris noch Nils schien der Vorschlag zu gefallen, sich allein auf die Suche nach den Hexenpflanzen zu machen, aber sie sahen ein, dass dies ihre einzige Chance war.

»Gut, ich gehe nach oben und nehme mir die Lagune vor«, sagte Chris.

Kyra warf einen Blick auf Mara, die noch immer unter Schock stand und am ganzen Leib zitterte. »Nils, geh du mit Chris. Mara und ich suchen die Alraune unten im Erdgeschoss.«

»Bist du sicher?«, fragte Nils zweifelnd. Die Vorstellung, Kyra mit Mara allein zu lassen, erfüllte ihn mit Unbehagen.

»Ganz sicher«, erwiderte Kyra. »Wir schaffen das schon. Oder, Mara?«

Das ältere Mädchen nickte geistesabwesend.

Chris machte sich auf den Weg nach oben, gefolgt von Nils. Nach wenigen Stufen blieben sie noch einmal stehen. »Wir kommen nach, so schnell wir können.«

»In Ordnung«, entgegnete Kyra. »Lasst euch nicht erwischen, ja?«

Chris schenkte ihr ein Lächeln, dann verschwanden die beiden Jungen im dunklen Treppenhaus.

Kyra schaute sich um. Aus der Tür des Speisesaals quoll Finsternis wie schwarzes Papier, das ein Windstoß ins Freie trug. Der Direktor war ihnen auf den Fersen.

»Komm«, rief sie und lief die Treppe hinunter. Mara rannte hinterher.

Als sie im Erdgeschoss ankamen, hörten sie, dass der Direktor ihnen folgte. Es waren nicht so sehr seine Schritte auf den Steinstufen, die sein Näherkommen verrieten; es war sein durchdringendes Röcheln und Keuchen – der Atem des Untoten.

»Das Kürbiszimmer ist da drüben«, rief Mara und deutete den Korridor am Fuß der Treppe hinunter.

Der Raum lag ganz am Ende des Ganges.

»Mist«, fluchte Kyra, »das ist ja ’ne Sackgasse.«

»Ich kann’s nicht ändern«, gab Mara zurück, die ihren ersten Schrecken allmählich überwunden hatte.

Wenn sie dort hinunterliefen, konnte der Direktor ihnen mühelos den Rückweg versperren.

Dennoch – es war die einzige Möglichkeit. Und vielleicht gelang es ihnen ja, ihren Gegner so lange abzulenken, bis Chris und Nils die Alraune im zweiten Stock zerstört hatten. Möglich, dass ihnen das einen Vorteil verschaffte.

Der Leichengestank folgte ihnen, als sie den Korridor hinunterliefen, vorbei an geschlossenen Türen, die weitere Halloween-Attraktionen verbargen. Wer hatte heute Nachmittag schon ahnen können, dass am Abend das wahre Grauen Einzug in der Schlossschule halten würde?

Kyra schaute über die Schulter nach hinten.

»Die Tür ist doch nicht abgeschlossen, oder?«

Der Direktor war am Fuß der Treppe angelangt und nahm erneut die Verfolgung auf. Die ganze Zeit über murmelte und zischelte er vor sich hin, aber weder Kyra noch Mara verstanden seine Worte.

»Sie müsste offen sein«, erwiderte Mara hastig. »Ich hab sie jedenfalls nicht abgeschlossen.«

Kyra erreichte die Tür als Erste. Sie drückte die Klinke hinunter. Sekundenlang durchfuhr sie die schreckliche Gewissheit, dass der Eingang des Kürbiszimmers verschlossen war. Sie würden hilflos dastehen müssen, in die Enge getrieben, während der Direktor mit seinem Rohrstock näher und näher kam.

Aber, nein – schließlich war Mara im Besitz des Schlüsselbunds.

Die Tür schwang jedoch auch ohne Maras Zutun auf. Die beiden sprangen Seite an Seite hindurch: die Tochter einer Hexe und das Mädchen, das alles gegeben hätte, um eine echte Hexe zu werden.

Kyra warf die Tür hinter sich zu.

»Hier«, Mara zog einen klirrenden Schlüsselbund aus der Tasche, »lass mich mal.«

Mit bebenden Händen wählte sie einen der Schlüssel aus und versuchte, ihn ins Schloss zu stecken.

Er passte nicht.

»Mist!«, fluchte Mara.

Sie probierte es mit einem anderen. Vergeblich.

»Beeil dich«, trieb Kyra sie an. »Er wird gleich an der Tür sein! Du musst sie abschließen!« Sie umklammerte die Klinke, in der sinnlosen Hoffnung, ihren Gegner so aufhalten zu können.

Mara versuchte es mit einem dritten Schlüssel. Dann mit einem vierten.

»Ich find nicht den richtigen.« Panik verzerrte ihre Stimme.

»Mach schon!« Kyra starrte angespannt auf den blitzenden Schlüsselbund in Maras Fingern. Draußen auf dem Flur glaubte sie das Flüstern des Direktors zu hören, geisterhaft und mit jeder Sekunde ein wenig lauter. Er ließ sich Zeit, kam gemächlich den Gang herunter. Er wusste, dass sie in der Falle saßen.

Noch ein Schlüssel. Und wieder war es der falsche.

»Okay«, sagte Mara und holte tief Luft, »das hier ist der letzte. Der muss es sein.«

Tatsächlich – der Schlüssel passte.

Mara drehte ihn zweimal herum. Der Mechanismus klickte und schnappte.

Mara zog den Schlüssel aus dem Schloss und wich zwei Schritte zurück. Kyra ließ die Klinke los und folgte ihr. Im Raum war es stockdunkel, doch Kyra wagte noch nicht, den Lichtschein ihrer Taschenlampe von der Tür zu nehmen.

Das unverständliche Wispern des Direktors wurde jetzt nicht mehr lauter. Er musste sich direkt vor der Tür befinden.

Langsam senkte sich die Klinke.

Einmal, zweimal.

Die Tür blieb zu.

»Jetzt wird sich zeigen, ob er wirklich einen Teil seiner Macht über die Schule verloren hat«, flüsterte Kyra. »Falls wir Unrecht hatten, wird sich die Tür einfach in Luft auflösen. Oder verbrennen.«

Mara schluckte, sagte aber kein Wort.

Das Rütteln an der Klinke wurde heftiger.

»Bitte, bitte, bitte«, wiederholte Mara monoton.

Die Tür gab nicht nach. Sie wurde auch nicht zu Luft oder Feuer.

Sie hatten sich eine Atempause erkämpft.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Kyra. »Wo ist die Alraune?«

Sie drehte sich um und leuchtete mit der Taschenlampe in die Tiefe des Raumes.

Zweihundert Fratzen starrten sie an.

Spitze, gefletschte Zähne. Aufgerissene Mäuler. Verkniffene Augen.

Zweihundert Kürbisgesichter.

Mara schaute sich irritiert um. »Ich hab einen davon mit Erde gefüllt und die Alraune hineingepflanzt.« Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.

»Ich weiß nicht mehr, welcher es war.«

Kyra schaute sich um. Die Organisatoren der Halloweenfeier hatten alle Schüler dazu aufgerufen, einen Kürbis auszuhöhlen und mit einer Dämonenfratze zu verzieren. Nicht jeder hatte mitgemacht, und doch waren genug zusammengekommen, um diesen Raum zu füllen.

Jeder Kürbis steckte auf einem hölzernen Stiel, manche nur knapp über dem Boden, andere höher als die Gesichter der Besucher. Alle Fratzen waren zum Eingang gewandt. Eine Heerschar grinsender Halloweengeister.

»Mara, du musst versuchen, dich zu erinnern«, sagte Kyra eindringlich.

Das ältere Mädchen irrte suchend zwischen den Kürbissen umher. Hektisch fuhr sie sich wieder und wieder durch die langen blonden Haare. Je mehr sie sich aufregte, desto schwerer fiel es ihr, den einen lebenswichtigen Kürbis wieder zu finden.

Ein Knirschen drang vom Korridor herein. Der Direktor kratzte mit seinen knöchernen Fingerspitzen über die Tür. Auf und ab. Auf und ab. Es klang wie das Quietschen von Kreide auf einer Schultafel.

»Bitte, Mara«, drängte Kyra.

»Er war im hinteren Teil des Zimmers«, sagte Mara, »so viel weiß ich noch.«

Das Kratzen an der Tür brach ab.

»Er hat irgendwas vor«, flüsterte Kyra. »Ein Wesen wie er lässt sich doch nicht von einer blöden Tür abschrecken.«

Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Seine magische Macht über die Schule hatte der Direktor vielleicht durch die Zerstörung der ersten Alraune eingebüßt. Aber noch waren da drei andere Hexenpflanzen, und jede musste eine besondere Bedeutung haben.

Ein Viertel seiner Kraft hatte er verloren. Was aber war mit den übrigen drei Alraunen? Zu welcher Heimtücke, welcher Bösartigkeit befähigten sie ihn?

Mara lief jetzt aufgescheucht zwischen den hinteren Kürbissen umher, versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Aber die Angst und die Ungewissheit nahmen ihr jegliche Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Es war wie bei einer besonders wichtigen Klassenarbeit: Vor Nervosität fallen einem nicht einmal die Antworten auf die allerleichtesten Fragen ein. Sie sind wie weggewischt, einfach aus dem Gehirn gelöscht.

Genauso erging es nun Mara. Kyra erkannte, dass sie den richtigen Kürbis auf diese Weise niemals finden würden. Erst recht nicht in der knapp bemessenen Zeit, die ihnen blieb.

Kyra traf eine Entscheidung.

Sie legte die Taschenlampe auf einem Tisch neben dem Eingang ab, sodass der Strahl die stumme Armee der Kürbisse beschien. Dann riss sie einen der vorderen Köpfe von der Stange, schleuderte ihn beiseite und packte den langen Holzstiel mit beiden Händen wie ein Samuraischwert. Damit stürmte sie zu Mara in den hinteren Teil des Zimmers.

»Dann eben auf die harte Tour!«

Mara sprang erschrocken zur Seite, als Kyra wie ein wütender Derwisch unter die Kürbisse fuhr und rasche Schläge in alle Richtungen austeilte. Jeder Treffer saß. Rund um die beiden Mädchen zerplatzten die orangefarbenen Köpfe in Fontänen aus spritzendem Fruchtfleisch.

Zehn, zwanzig Kürbisse zerbarsten unter Kyras wütenden Hieben, und noch immer war nicht derjenige dabei, den Mara mit Erde gefüllt hatte.

Kyra bekam kaum Luft vor Aufregung und Anstrengung. Mehr und mehr Köpfe platzten und wurden über Boden und Wände verspritzt.

Mara erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie griff sich einen der Holzstiele und folgte Kyras Beispiel.

Wie zwei Amazonen im Kampfrausch wüteten die beiden Mädchen im Heer der Hohlköpfe. Ein Kürbismassaker.

Plötzlich aber geschah etwas, womit keine der beiden gerechnet hatte.

Ein Glimmen erschien in den Augen der übrig gebliebenen Kürbisköpfe. Es war, als hätten unsichtbare Hände in jedem von ihnen eine besonders helle Kerze entzündet.

Kürbismäuler schnappten auf und zu wie Krokodilskiefer.

Und dann erhoben sich die ersten Köpfe von ihren Stangen, schwebten meterhoch empor und sammelten sich unter der Decke als Schwarm goldgelber Teufelsfratzen.

»Das ist der Direktor!« Schlagartig begriff Kyra: Sie hatten ihm vielleicht die Macht über seine Schule genommen, aber nicht über jene Dinge, die die Schüler von außen hereingebracht hatten.

Kyra ahnte, dass in diesem Augenblick alle Halloweendekorationen der Schule zum Leben erwachten.

Der Schwarm der Kürbisse unter der Decke wogte aufgeregt auseinander, schloss sich dann wieder und bildete eine pfeilförmige Formation. Die schnappenden Mäuler erinnerten an hungrige Piranhas. Ihre Glutaugen waren hasserfüllt auf die Mädchen gerichtet.

Kyra und Mara wechselten todesmutige Blicke und umfassten ihre Holzknüppel noch fester. Gelbe, glibberige Fetzen klebten auf ihren Gesichtern, Fruchtsaft verklebte ihre Augen und Lippen.

Sie waren bereit. Der Kampf konnte beginnen.

Ein letztes Mal tanzten die Kürbisse auf und nieder wie Heliumballons in einer Brise, dann stürzten sie sich lautlos auf ihre Beute.

 

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