9. KAPITEL

Rick Taylor kehrte die Scherben des Tonkrugs zusammen.

Mit einer Kopfbewegung wies er genervt auf den Patienten. “So verhält er sich jetzt schon seit Freitag.”

Dr. Anthony Henshaw rieb sich nachdenklich am Kinn und sah sich in dem verwüsteten Zimmer um. Die Stühle waren umgeworfen, alle Bücher aus dem Regal gerissen. Die Poster waren von den Wänden gerissen. “Was ist denn los, Lee?” fragte Henshaw den rothaarigen Patienten.

“Er will nicht darüber reden”, sagte Rick und schüttete die Scherben in eine Plastiktüte. “Es hat angefangen, als er diese Show gesehen hat. ‘West Coast Morning’ heißt sie, und diese Moderatorin, Kaylie oder wie sie heißt, war an diesem Tag nicht mit dabei. Es hieß ‘aus persönlichen Gründen’, und der gute Lee hier”, er wies mit dem Kopf wieder zu dem Mann, “ist einfach durchgedreht. Seitdem kann ich hier einmal am Tag das ganze Zimmer aufräumen.”

Henshaw runzelte die Stirn. Das klang nicht gut. Er war gerade von einem Kongreß in Chicago zurückgekehrt und hatte von Dr. Jones erfahren, daß Lee Johnston einen Rückfall hatte.

“Du vermißt Kaylie, stimmt’s, Lee?” fragte er, aber der Patient saß nur reglos am Fußende des Bettes und antwortete nicht. Wie im Gebet hielt er die Hände im Schoß verschränkt.

Nachdenklich sah Dr. Henshaw ihn an. Lee war schon immer ein besonders schwieriger Fall gewesen. Er setzte sich neben den Patienten auf das Bett. “Findest du es schlimm, wenn Kaylie nicht in der Show ist?” wollte er wissen.

Keine Reaktion, nur Lees Lippen zuckten leicht.

“Selbst die Leute vom Fernsehen machen manchmal Urlaub.

Auch sie brauchen hin und wieder etwas Freizeit.”

“Er spricht heute nicht”, sagte Rick und packte kopfschüttelnd die Bücher zurück ins Regal. “Weder mit mir noch zu sonst jemandem. Ich glaube, er wartet auf die Vormittagsshow.” Über die Schulter hinweg sah er den Arzt an

“Hoffen wir, daß sie wieder dabei ist. Vielleicht beruhigt Lee sich dann.”

Rick ging aus dem Raum, und Henshaw versuchte

vergeblich, mit Lee zu reden. Der Mann war still, aber trotzdem völlig verkrampft. Er schien den Arzt neben sich gar nicht zu bemerken. Nach zehn Minuten gab Henshaw auf. Er mußte noch zu anderen Patienten, und in einer halben Stunde fand eine Besprechung statt.

Die Hände in den Taschen ging er durch lange Flure zum Bürotrakt. Aus seinem Zimmer ganz am anderen Ende des Gebäudes konnte er in den großen Garten sehen. Er ließ sich in den Sessel fallen und fragte sich, ob Lee Johnston jemals wieder gesund würde. Dennoch hatte man in Erwägung gezogen, ihn zu entlassen. Abgesehen von ein paar Vorfällen hatte Johnston sich mustergültig verhalten.

Henshaw spielte nachdenklich mit einem Kugelschreiber. Ein paar Leute hatten sich immer wieder nach Johnston erkundigt.

Oft genug hatte der Ex-Mann von Kaylie Melville ihn

angerufen. Anscheinend hing der Mann immer noch an dieser Frau. Genau wie Lee. Und dann war da noch Kaylies

Mitarbeiter, Alan, der offensichtlich immer wieder mit ihr zusammenarbeitete. Es gab sogar Gerüchte über eine Verlobung, doch das alles war Dr. Henshaw ziemlich egal. Solange es nicht seinen Patienten betraf.

Ein paarmal hatte Dr. Henshaw Kaylie getroffen, und selbst er, der seit siebenundzwanzig Jahren glücklich verheiratet war und zwei Enkel hatte, konnte verstehen, daß es Männer gab, die beim Anblick von Miss Melville verrückt wurden. Ob sie es wußte oder nicht, sie hatte eine unglaublich aufreizende Ausstrahlung.

Der Arzt schob sich das schüttere Haar aus der Stirn und legte seine Brille auf den Tisch. Wie konnte er Lee bloß helfen?

Nur durch ein Wunder würde er Johnston davon überzeugen können, daß Kaylie kein Interesse an ihm hatte.

***

Es dauerte Stunden, bis sie zurück in San Francisco war.

Während der langen Fahrt durch die Berge kämpfte Kaylie immer wieder gegen ihr schlechtes Gewissen an. Die Sonne ging allmählich auf, und Kaylie schob ihre Zweifel beiseite.

Jetzt war nicht die Zeit, in ihrem Entschluß zu wanken.

Beim Gedanken an Don und wie er mit ihr geschlafen hatte, schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie hörte noch die geflüsterten Liebesschwüre und roch den Duft seines Körpers. Immer noch sah sie ihn nackt auf dem Bett liegen.

Mit einem raschen Blick in den Rückspiegel stellte sie fest, daß sie schwarze Ringe unter den Augen hatte. “Ach komm schon”, sagte sie aufseufzend zu sic h selbst. “Vergiß ihn!” Hatte er es nicht verdient, dort oben zurückgelassen zu werden?

Doch das Feuer ihrer Leidenschaft konnte sie nicht so rasch verdrängen. Mit welcher Zärtlichkeit er sie geküßt hatte!

Er war gleichzeitig wundervoll und schrecklich, und Kaylie wollte nicht, daß er aus ihrem Leben verschwand. Um zu vergessen, schaltete sie das Radio ein und versuchte, einen Nachrichtensender zu empfangen. “Du schuldest ihm nichts.

Nach allem, was er dir angetan hat!”

Sie bog auf die Schnellstraße in Richtung Westen nach San Francisco. Bei der Zentrale vom Sicherheitsdienst würde sie Dons Wagen mitsamt den Schlüsseln abgeben. Wenn sie Brad Hastings, Dons engsten Mitarbeiter, traf, würde sie ihm sagen, wo er seinen Chef abholen konnte.

Bei dem Gedanken lächelte sie leicht gequält. Don würde außer sich sein vor Wut. Endlich hatte sie ihn doch noch überlistet, obwohl sie sich an dem Sieg nicht richtig freuen konnte.

Kaylie umfaßte das Lenkrad fester, als sie die grünschillemde Bucht von San Francisco erblickte. Die Sonne spiegelte sich im Wasser, und am Horizont erkannte sie die Wolkenkratzer der Stadt.

In der Stadt herrschte wie üblich stockender Verkehr, und auf den Fußwegen hasteten die Menschen vorüber.

Mit dem Jeep waren die steilen Straßen der Innenstadt kein Problem, und bald darauf parkte Kaylie vor ihrem

Apartmenthaus. Sie ließ die Handbremse einrasten und stellte den Wagen ab. Abgesehen vom Ticken der Wagenkühlung hörte sie kaum einen Laut, und schlagartig überkam sie das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Als habe sie etwas Lebenswichtiges im Blockhaus zurückgelassen.

“Sei nicht töricht!” schalt sie sich, schloß den Jeep ab und ging zum Fahrstuhl, um in ihr Apartment im dritten Stock zu fahren.

Drinnen sah alles genauso aus, wie sie es letzte Woche zurückgelassen hatte, aber die Atmosphäre kam ihr leerer, irgendwie verloren, vor. Und das, obwohl Don hier nie gelebt hatte.

“Das bildest du dir ein”, rief sie sich zur Ordnung, zog sich rasch aus und ging unter die Dusche. Sie mußte einen klaren Kopf bekommen, ein paar Anrufe tätigen, und später konnte sie dann noch einmal in Ruhe über Don nachdenken.

Sie mußte schmunzeln, als sie sich ausmalte, wie sie den Jeep zurückbrachte und Brad Hastings erklärte, wo Don steckte.

Doch, entschied sie, Don hatte das verdient. Und für seine Dreistigkeit kam er mit dieser Schmach noch gut davon.

Also warum hatte sie bloß dieses schlechte Gewissen und bedauerte, daß die Zeit mit Don allein so plötzlich vorbei war?

Während sie sich abtrocknete und ihr Haar fönte, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Don zurück. Sie hörte ihren

Anrufbeantworter ab. Einige Leute hatten angerufen, unter anderem Alan, Tracy und Dr. Henshaw. Sie wählte die Nummer von Whispering Hills und wartete angespannt darauf, daß die Telefonistin sie zu dem Psychiater von Lee Johnston

durchstellte.

Schließlich hob er ab. “Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, bis ich Sie sprechen konnte”, sagte er und erklärte ihr, daß er für einige Zeit nicht in der Stadt gewesen sei. Kaylie fragte ihn ohne Umschweife nach Johnston, und eine Weile schwieg der Arzt.

“Seinetwegen brauchen Sie sich für lange Zeit keine Sorgen zu machen”, sagte er vorsichtig.

Eigentlich hätte sie jetzt erleichtert sein müssen, doch bei Dr.

Henshaws, vorsichtiger Ausdrucksweise mußte sie wieder an Dons Worte denken. Offenbar hatte Don recht, und Dr.

Henshaw hielt etwas zurück. “Wie lange Zeit?”

“Das hängt von der Entscheidung der Gerichte ab.”

“Aber Sie und die anderen Ärzte können Empfehlungen geben.”

“Keine Sorge, Miss Melville. Lee wird nicht entlassen, und das wird, so fürchte ich, auch noch lange so bleiben.”

“Also, ich finde, Sie sollten wissen, daß da jemand anderer Ansicht ist”, erwiderte sie. Was konnte es schon schaden, wenn sie dem Arzt davon erzählte? Doch er hatte bereits von den zwei merkwürdigen Anrufen erfahren. Für ihn war das Ganze

“blanker Unsinn”.

Als Kaylie auflegte, war sie einigermaßen überzeugt, daß Johnston noch einige Zeit in der Anstalt bleiben würde.

Dennoch war sie nicht ganz zufrieden.

Das liegt daran, daß Don nicht hier ist, sagte ihr eine innere Stimme, während sie beim Sender anrief.

Die Empfangsdame stellte sie zum Produzenten von West Coast Morning durch. “Kaylie!” schrie Jim in den Apparat, und unwillkürlich mußte sie lächeln. “Wird Zeit, daß wir mal was von dir hören! Wie geht’s deiner Tante?”

Schlagartig wurde sie ernst. Wie sollte sie mit Dons

Lügengeschichten umgehen? “Sie, ja, ihr geht es schon besser”, brachte sie schließlich hervor. Vorerst wollte sie die Sache mit der Entführung für sich behalten. “Sogar schon viel besser”, fügte sie gepreßt hinzu und verfluchte Don im stillen. “Tut mir leid, daß ich nicht selbst angerufen habe. Das ging alles so rasend schnell.” Wenigstens das war keine Lüge.

“Macht nichts. Margot hat uns alles erklärt.”

Nicht ganz. Kaylie fand, daß Margot ihr noch einige

Erklärungen schuldig war.

“Wir haben dich hier vermißt”, scherzte Jim gutgelaunt

“Ohne dich ist die Sendung nur eine halbe Sache, und wir haben unzählige Anrufe bekommen. Die Leute machen sich Sorgen um dich und deine Tante. Das mußt du morgen in der Show

unbedingt erklären. All diese kleinen persönlichen Dinge interessieren die Zuschauer ungemein.”

Der Gedanke, während der Sendung zu lügen, ließ Kaylies Magen verkrampfen. “Und diese Anrufe?” fragte sie. “Hat jemand namens ‘Ted’ angerufen?”

“Ich glaube nicht. Was ist denn mit dem? Es hat noch jemand seinetwegen angerufen. Tracy war dran.” Kaylie hörte, wie Jim die Muschel abdeckte und mit seiner Assistentin sprach. “Sie sagt, daß ein Hastings angerufen hat. Er arbeitet für deinen Ex-Mann. Geht da irgendwas vor?”

“Nur der Anruf von einem Verrückten”, wiegelte sie ab und berichtete Jim von den Ankündigungen. Er wirkte nicht beruhigt, als sie erzählte, daß Lee Johnston nicht entlassen werden solle.

“Noch ein Verrückter. Ich sage dir, die Stadt ist voll von solchen Leuten”, stellte Jim fest und beendete das Gespräch.

Kaylie legte auf, schnappte sich ihre Jacke und die

Handtasche und lief aus der Wohnung.

Die Zentrale von Dons Sicherheitsdienst befand sich im fünften Stock eines Gebäudes nicht weit von der Küste.

Entschlossen schob Kaylie die Glastür auf und ging zum Empfang. Die Frau hinter dem Pult, Peggy Wagner, war eine dickliche Frau um die Fünfzig. Sie trug ihr graues Haar nach hinten gesteckt und hatte eine Brille auf. Peggy arbeitete schon seit der ersten Stunde für Don.

“Mrs. Flannery!” rief sie und lächelte Kaylie strahlend entgegen. “Sind Sie hier, um Mr….”

“Hastings. Der Stellvertreter vom Chef”, unterbrach Kaylie rasch und hoffte, daß sie nicht zuviel Aufme rksamkeit erregte.

Peggy hatte sich nie an den Gedanken gewöhnen können, daß Don und Kaylie geschieden waren.

“Sie haben Glück. Er ist da”, sagte Peggy und kündigte über die Sprechanlage Kaylies Besuch an. “Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.” Sie nahm sich den Kopfhörer ab und sagte ihrer Kollegin, daß sie gleich zurück sei. Dann führte sie Kaylie durch ein Gewirr von Gängen.

Am Ende eines langen Flurs klopfte sie an eine Tür und öffnete sie für Kaylie. In dem Zimmer lag Parkettboden, und neben einem Eichenschreibtisch standen noch andere teure Möbelstücke darin. Dennoch hatte der Raum nichts Protziges.

Peggy wies auf eine Ledersitzgruppe. “Setzen Sie sich, er wird jeden Augenblick hier sein. Möchten Sie etwas zu trinken?

Kaffee? Tee?”

“Nein, danke”, lehnte Kaylie ab. Hoffentlich kam Hastings bald, damit sie schnell erklären konnte, wo Don war, und hier wieder rauskam.

“Es wird nicht lange dauern”, versicherte Peggy ihr nochmals, bevor sie die Tür hinter sich schloß.

Anstatt sich zu setzen, ging Kaylie nervös zum Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Wolkenkratzer erhoben sich in den blauen Himmel, und über der Bucht kreiste ein Flugzeug. Unten hasteten die Menschen vorbei.

Hinter ihr klickte die Tür leise.

Na endlich! Innerlich schmunzelnd griff Kaylie in die Handtasche nach Dons Schlüsseln. “Ich freue mich, daß Sie Zeit für mich haben”, sagte sie und wandte sich um. Im nächsten Moment wäre sie am liebsten im Boden versunken.

Don zog die Tür hinter sich ins Schloß.

Ihr Herzschlag raste. Die Schlüssel fielen ihr aus der Hand, und ihr Mund war schlagartig wie ausgedörrt.

“Ich freue mich auch”, erwiderte er spöttisch. Sein Gesichtsausdruck war furchterregend, und seine

Wangenmuskeln verkrampften sich. Die Lippen hielt er fest zusammengepreßt, und sein Blick war kalt.

Kaylie schluckte, wich jedoch keinen Schritt zurück.

“Na? Überrascht?”

“Das wäre stark untertrieben”, gab sie zu und hoffte, dadurch die angespannte Stimmung zu lockern.

“Tja, das muß ich dir lassen, Kaylie. Du hast mich überlistet.”

Aus dem Augenwinkel heraus blickte er sie an. “Ich hatte schon gedacht, daß wir beide weiter wären, aber du wolltest anscheinend weiter Spielchen treiben. Und fast hätte es auch geklappt.” Er warf seine Lederjacke über eine Stuhllehne und schob sich die Ärmel seines blauen Sweatshirts hoch. Sein Haar war vom Wind zerzaust, und sein Gesicht war rot vor Zorn. “Ich sollte dir einen Job anbieten. Seit langem bist du der erste Mensch, der mich ausgetrickst hat.”

Langsam kam er auf sie zu. “Du hast meine Schlüssel geklaut, meinen Wagen gestohlen…”

“Ich habe dich gewarnt, Don”, sagte sie und zwang sich, nicht vor ihm wegzulaufen.

“Mich gewarnt?” Er schüttelte den Kopf und lachte auf. “Das ist ein guter Scherz.” Sein Gesicht war vollkommen angespannt, und in seinen Augen erkannte Kaylie das Ausmaß seiner Wut.

Aber sie wollte sich nicht einschüchtern lassen.

“Ich habe dir vertraut”, sagte er leise.

“Während du mich gleichzeitig einsperrst?” fuhr sie ihn an.

Er konnte sich kaum noch beherrschen. “Wir haben miteinander geschlafen, verdammt!”

“Das, das weiß ich.”

“Und es hat dir nichts bedeutet!” schrie er plötzlich.

“Nein, Don, ich…”

“Du hast mit mir geschlafen, damit ich nicht mehr so aufpasse, und dann bist du mitten in der Nacht verschwunden wie irgendeine billige…” Er verstummte mitten im Satz, doch die Anschuldigung hing in der Luft.

“Billige was?” schrie sie zurück.

“Ach, vergiß es.” Unvermittelt schlang er die Arme um sie und küßte sie leidenschaftlich. Als er den Kopf hob, war die Wut in seinem Blick nicht mehr so deutlich zu erkennen. “Was hast du eigentlich mit mir vor, Kaylie?”

“Ich? Was sollte ich mit dir vorhaben?” flüsterte sie.

“Hat dir die letzte Nacht nichts bedeutet?”

“Doch, sicher. Ich habe gemerkt, daß … daß zwischen uns noch etwas da ist.”

“Und wie würdest du das bezeichnen?”

“Ich weiß es nicht, Don!” brachte sie erschöpft heraus. Sie war an den Grenzen ihrer Belastbarkeit angelangt, als er sie dicht an sich zog.

“Du hast mich bewußt getäuscht.”

“Und du hast mich verführt!”

Don zuckte mit den Mundwinkeln. “Wenn ich mich richtig entsinne, hast du es sehr genossen. Davon abgesehen, könnten wir noch lange darüber diskutieren, wer wen verführt hat.”

Da mußte sie ihm recht geben, und sie wand sich aus seiner Umarmung, damit sie klar denken konnte. Ihr Puls hatte sich immer noch nicht normalisiert. Als sie sich eine Strähne aus der Stirn streichen wollte, bemerkte sie, daß ihre Finger stark zitterten. Hastig ballte sie die Hand zur Faust und steckte sie in die Tasche. “Wie bist du hierher zurückgekommen?”

Wütend blickte er sie an. “Mit einem Hubschrauber. Er stand keine zwei Kilometer von der Hütte entfernt”, stieß er hervor.

“Ich bin schon seit Stunden zurück.”

“Daß ich fliehen würde, habe ich dir gesagt.”

“Aber nicht, daß du mit mir schlafen würdest, um mich in Sicherheit zu wiegen. Oder?”

“Du hättest damit rechnen müssen, daß…”

Abrupt faßte er sie am Handgelenk und zog sie an sich. “Ich habe nicht damit gerechnet, daß du mich benutzt, Kaylie. Wie konntest du so tief sinken, daß du mit mir ins Bett gehst, um zu erreichen, was du vorhast?”

“Das habe ich nicht!” erwiderte sie aufgebracht.

“Wieso sollte ich dir glauben?”

Kaylie sah in seinem Blick, wie sehr sie ihn verletzt hatte.

Die Erkenntnis tat auch ihr weh, und sie fragte sich, warum zwischen ihnen beiden alles so kompliziert war.

“Ich habe dir vertraut”, flüsterte er, und sein Atem strich ihr über das Gesicht.

“Aber ich habe dir eine ganz klare Warnung gegeben, Don”, erwiderte sie ruhig. “Immer wieder habe ich dir gesagt, daß ich mich nicht so einfach verschleppen und gefangenhalten lasse.

Du hast mir nicht geglaubt, stimmt’s? Weißt du, wenn du mich ganz normal gefragt hättest, ob ich ein paar Tage mit dir verbringen will, wäre es vielleicht ganz anders gekommen.”

“Wärst du mit mir mitgekommen?” fragte er ungläub ig.

“Willst du mir tatsächlich erzählen, du hättest deinen tollen Job für eine oder zwei Wochen im Stich gelassen, bloß um einige Zeit bei mir zu sein?”

“Ja!” rief sie. “Dann hätte ich gehofft, daß wir vielleicht bei den guten Seiten unserer Ehe wieder neu beginnen könnten.

Wenn ich auch nur für eine Sekunde gehofft hätte, wir könnten einen wundervollen Neuanfang wagen, wäre ich

mitgekommen.”

“Aber das glaubst du jetzt nicht mehr, oder?”

Den Tränen nahe schüttelte sie den Kopf. “Mit dieser Entführung hast du mir wieder gezeigt, wer du wirklich bist, Don. Du wirst dich niemals ändern. Du würdest mich immer einsperren und versuchen, mir deinen Willen aufzuzwängen.”

“Wie zum Beispiel letzte Nacht?” sagte er leise, und Kaylie sah, daß er schlucken mußte.

Wie betäubt nahm Kaylie seinen frischen Duft wahr und mußte sofort daran denken, wie sie mit ihm nackt im Bett gelegen hatte. Sie bemerkte, wie sich beim Atmen seine Brust hob und senkte. Erst vor wenigen Stunden noch hatte sie diese Brust gestreichelt.

Als sie wieder zu ihm aufsah, wirkte sein Gesicht entspannter und sanfter. “Oh, Kaylie.” Er seufzte auf. “Was soll ich bloß mit dir machen?”

“Nichts, Don. Das ist der springende Punkt! Was mit mir geschieht, ist ganz allein meine Entscheidung. Ich bin nicht dein Eigentum.”

“Ich habe dich niemals besitzen wollen.”

“Das habe ich aber ganz anders in Erinnerung.” Doch innerlich war sie sich nicht mehr so sicher. Hätte sie damals ihre Ehe retten können, wenn sie auf ihren Rechten beharrt hätte?

“Du hast zu schnell aufgegeben”, entgegnete er.

“Ich sollte lieber gehen, bevor wir uns Dinge an den Kopf werfen, die uns hinterher nur leid tun”, sagte sie verletzt.

“Und was wird aus Johnston?”

“Ich habe mit Dr. Henshaw gesprochen. Er hat mir versichert, daß Johnston noch lange nicht entlassen wird.”

“Und du glaubst ihm?”

“Warum sollte er mich anlügen?”

Don wurde nachdenklich. Er glaubte diesem Henshaw nicht.

Nein, lieber verließ er sich auf irgendwelche anonyme Anrufer.

“Ich hätte dich niemals fliehen lassen sollen.”

“Fliehen lassen?”

“Es war verrückt, dir zu vertrauen.” Er preßte die Lippen aufeinander. “Weißt du”, fuhr er sanft fort, “irgendwie hatte ich gehofft, daß wir mit allem klarkommen könnten, wenn wir nur genug Zeit miteinander verbringen.”

“Das haben wir vor sieben Jahren auch nicht geschafft.”

“Richtig. Aber seitdem sind wir älter und reifer geworden.”

“Reifer?” wiederholte sie spöttisch. “In den letzten Tagen habe ich bei uns beiden nicht viel davon gemerkt.”

Er hob die Schultern. “Wir haben uns nicht sehr erwachsen benommen. Vielleicht habe ich mich geirrt. Ich dachte, du könntest mich wieder lieben.”

Kaylie konnte kein Wort herausbringen. Wenn er nur wüßte!

Wie unter einer Welle drohte sie in ihren Gefühlen zu ertrinken.

Sie mußte schleunigst weg von ihm, solange sie dazu noch fähig war. Schnell hob sie seine Schlüssel auf und legte sie auf den Tisch. “Mach’s gut, Don”, brachte sie mit Mühe hervor.

“Wieso läufst du ständig vor mir weg?” fragte er unvermittelt. “Mache ich dir solche Angst?”

Es hatte keinen Zweck zu lüge n. “Ja”, gab sie leise zu.

Er kam zu ihr und küßte sie so plötzlich, daß ihr die Luft wegblieb. Augenblicklich wurde ihr heiß, und das Gefühl, seinen muskulösen Körper zu spüren, den Druck seines

Oberkörpers an ihren Brüsten, seine Schenkel, seine Lippen, ließ sie innerlich erbeben, und sie wurde schlagartig von

brennendem Verlangen nach ihm erfüllt.

Ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren, und sie preßte die Hände gegen seine Schultern. Eigentlich wollte sie ihn von sich schieben, doch sie fand nicht die Kraft dazu. Statt dessen klammerte sie sich haltsuchend an ihn.

Als er schließlich den Kopf hob, war sein Gesicht gerötet, und in seinem Blick lag eine Lust, die sie nur zu gut nachvollziehen konnte. “Sag mir, Kaylie, wieso komme ich nicht los von dir?” stieß er heiser hervor.

Aus denselben Gründen, aus denen ich dich nicht vergessen kann, wollte sie am liebsten sagen, doch dann versuchte sie, sich aus der Umarmung zu lösen. Vergeblich.

Er stützte die Hände seitlich von ihr gegen die Tür, an die sie sich lehnte. “Wieso, Kaylie?” fragte er noch mal. “Warum bist du fortgelaufen?”

Tief sog sie die Luft ein. “Du kennst die Gründe.”

Schlagartig wurde sein Gesicht wie versteinert. “Du hast mir gestern nacht nichts vorgespielt”, sagte er langsam und strich ihr mit einem Finger über die Wange. “Wir haben dasselbe empfunden. Und du kannst deine Gefühle trotzdem ignorieren?”

Er berührte ihre Lippen. “Sag die Wahrheit. Ich weiß einfach, daß du es auch fühlst. Wie kannst du so tun, als bedeutete ich dir nichts?”

“Weil ich es nicht zulassen darf!” antwortete sie mit zitternder Stimme und versuchte, hinter ihrem Rücken den Türgriff zu finden. Als sie die Tür öffnete, hielt Don sie nicht zurück.

Statt dessen trat er einen Schritt zurück. “Willst du wieder flüchten? Und keine Verführung, damit ich dich nicht aufhalte?”

“Mistkerl!” stieß sie gekränkt aus.

“Du bist tatsächlich erwachsen geworden”, stellte er höhnisch fest.

“Das gilt auch für dich”, entgegnete sie und sah ihn kühl an.

“Leb wohl”, sagte sie mühsam beherrscht. Seine Meinung über mich ist mir egal, dachte sie, während sie aus dem Zimmer ging.

Sie hatte ihr eigenes Leben, um das sie sich Gedanken machen mußte. Ein Leben ohne ihn.