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Der Weihnachtskater

In den Tagen und Wochen nach dem schrecklichen Verschwinden von Bob am Piccadilly Circus waren wir unzertrennlich. Wir klammerten uns aneinander wie zwei Ertrinkende an einen Rettungsring. Diese Geschichte hatte uns ganz schön zugesetzt.

Sie hatte mich auch dazu gebracht, lange und ausführlich über unsere Freundschaft nachzudenken. Sollte Bob mich je verlassen wollen, um wieder in Freiheit auf der Straße – oder wo auch immer er sonst hergekommen war – zu leben, dann könnte und sollte ich ihm das nicht verwehren.

Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn Bob eines Tages nicht mehr glücklich bei mir wäre. Wahrscheinlich würde ich ihn bei der RSPCA oder im Battersea-Heim für Hunde und Katzen abgeben. Die hatten ein sehr schönes Katzengehege. Schließlich wollte ich nicht sein Gefängniswärter sein. Ich hatte kein Recht, einen guten Freund wie ihn unglücklich zu machen. Das hätte er nicht verdient.

Aber zum Glück musste ich eine solche Entscheidung nie treffen.

Seit er fast verloren gegangen wäre, gab es Tage, an denen Bob lieber zu Hause blieb. Wenn er sich unter die Couch verkroch, sobald ich sein Geschirr vom Haken nahm, wusste ich, dass er nicht mitkommen wollte. Ich ließ ihm seinen Willen. Aber meistens kam er sofort angerannt, strich mir um die Beine und ließ sich schnurrend sein Geschirr anlegen. Aber etwas hatte sich geändert. Er ließ mich kaum noch aus den Augen, fühlte sich in meiner Nähe aber gut aufgehoben. Als wüsste er jetzt, dass ich ihn nie im Stich lassen würde.

Trotz seiner schlechten Erfahrungen mit Menschenmengen war er in solchen Situationen jetzt weniger ängstlich als vorher. Vielleicht gaben ihm auch meine Vorsichtsmaßnahmen mehr Sicherheit. Seine Leine war nun immer am Karabinerhaken meines Gürtels festgebunden. Dadurch blieb er in meiner Nähe, auch wenn wir uns in einer Menschentraube fortbewegen mussten. Und er war anhänglicher denn je. Unsere Freundschaft war auf eine harte Probe gestellt worden – und hatte sie bestanden.

Trotzdem war unser Leben kein Zuckerschlecken. Wenn man seinen Lebensunterhalt auf den Straßen von London verdient, kommt man um bedrohliche Situationen nicht herum. Etwa zwei Wochen nach der Begegnung mit dem aufgeblasenen Sumo-Monster trafen wir in Covent Garden auf eine Gruppe französischer Stelzenkünstler. Aus Katzenperspektive waren sie gigantisch, und mit ihren gruseligen Horrormasken und flatternden Gewändern waren sie Bob gar nicht geheuer. Er flüchtete auf meinen Schoß, während die langen Vogelscheuchen um uns herumstaksten. Ich konnte mich kaum auf das Singen konzentrieren, weil ich Probleme hatte, die Melodie auf der Gitarre beizubehalten. Bobs Schwanz peitschte vor lauter Aufregung hin und her. Immer wieder traf er damit das Griffbrett meiner Gitarre, sodass ich statt der Saiten nur noch Katzenhaare zwischen den Fingern hatte.

»Bob, hör auf damit«, schimpfte ich und entschuldigte mich bei zwei Touristen, die bei uns stehen geblieben waren, um zuzuhören. Aber die fanden Bobs Faxen äußerst unterhaltsam und hielten meine Patzer für einen Teil unserer Show. Glaubten die wirklich, man könnte eine Katze dressieren?

Kaum waren die Stelzenkünstler weitergezogen, rückte Bob wieder von mir ab und machte ganz auf cooler Kater. Er hielt mich wohl für seinen Bodyguard. Und der war ich auch verdammt gerne.

Als das Weihnachtsfest 2007 näher rückte und unser erstes gemeinsames Kalenderjahr zu Ende ging, hatten wir uns prima zusammengerauft. Wir waren ein eingespieltes Team. Jeden Morgen, wenn ich aufstand, saß Bob bereits in der Küche vor seiner Schüssel und wartete geduldig auf seinen Dosenöffner. Sobald er sein Frühstück verschlungen hatte, wurden Gesicht und Pfoten fein säuberlich geleckt und das Fell auf Hochglanz poliert. Danach war meist der Besuch seines Freiluftkistchens angesagt, weil er sein Katzenklo in der Wohnung immer noch höchst ungern benutzte. Manchmal öffnete ich ihm nur die Wohnungstür, weil sich morgens meist jemand fand, der ihm unten die Haustür öffnete. Seine Lieblingsbüsche fand er auch ohne mich und dank um die Pfote gewickelter Nachbarn auch einen Türöffner für den Rückweg.

Nach meinem Frühstück und meiner Morgentoilette schnappte ich mir Rucksack und Gitarre, und wir machten uns auf den Weg in die Innenstadt.

Es waren nur noch wenige Tage bis zum 24. Dezember, und die Einkaufsstraßen waren entsprechend voll. Die Leute waren in vorweihnachtlicher Spendierlaune, und Bob wurde im wahrsten Sinne des Wortes mit Geschenken und Leckerchen überschüttet.

Es hatte schon immer Passanten gegeben, die Bob etwas mitbrachten. Sein erstes Geschenk kam von einer Büroangestellten, die in der Nähe der James Street arbeitete. Sie blieb immer stehen, wenn sie an uns vorbeikam, und wir unterhielten uns ein bisschen. Sie war ganz vernarrt in Bob, weil er sie an ihren roten Kater erinnerte, der leider nicht mehr lebte.

Kurz vor Weihnachten stand sie eines Abends mit einem schicken Tütchen aus einem vornehmen Katzengeschäft vor uns. »Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich habe Bob etwas Schönes mitgebracht«, strahlte sie.

»Natürlich nicht«, versicherte ich ihr.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«, betonte sie unnötigerweise und fischte eine kleine Spielmaus aus der Tüte.

»Da ist ein bisschen Katzenminze drin«, erklärte sie mir. »Aber nur ganz wenig, keine Bange!«

Dabei war mir nicht wohl. Katzenminze ist ein Suchtmittel. Ich habe schon viel darüber gelesen und erinnere mich, dass es Katzen ganz verrückt macht, wenn sie einmal davon abhängig sind.

Schlimm genug, dass ich mich damit herumquälte, von den Drogen loszukommen. Ein süchtiger Kater hätte mir gerade noch gefehlt. Aber sie meinte es nur gut und wollte Bob eine Freude machen. Und ich wollte sie nicht enttäuschen. Sie blieb eine Weile stehen und genoss den Anblick von Bob, wie er mit der Maus spielte.

Je schlechter das Wetter wurde, desto mehr praktische Geschenke wurden für Bob abgegeben. Eines Tages steuerte eine verdammt gut aussehende Russin mit breitem Lächeln auf uns zu.

»Hallo, ihr zwei«, begrüßte sie uns. »Das Wetter ist so schlecht und es ist so kalt. Ich habe Bob etwas zum Warmhalten gestrickt.« Sie zog einen wunderschönen, hellblauen Schal in Katzengröße aus ihrer Handtasche.

Ich brachte nicht mehr als ein verblüfftes »Wow!« hervor. »Das ist toll!«, bedankte ich mich dann und wickelte Bob den Minischal direkt um den Hals. Er passte perfekt, und mein Ladykiller sah wirklich gut damit aus. Unsere edle Spenderin war auch ganz angetan. Zwei Wochen später tauchte sie wieder auf, diesmal mit einem zum Schal passenden, blauen Mäntelchen. Ich bin zwar kein Mode-Experte, wie jeder leicht erkennen kann, aber sogar mir war klar, dass Bob in dieser Kombination einfach fantastisch aussah. Es dauerte nicht lange, und die Leute standen Schlange, um Bob in seinem modischen Outfit zu fotografieren. Wenn ich für jedes Foto Geld verlangt hätte, wäre ich inzwischen reich.

Seither bekam Bob immer mehr selbstgestrickte Schals und Mäntelchen geschenkt.

Eine Frau stickte sogar den Namen Bob auf seinen von ihr gestrickten Schal. Bob wurde zum Cat-Model. Er führte jede neue Kreation vor, die wir von seinen Fans geschenkt bekamen. Das Wort Catwalk bekam durch ihn eine völlig neue Bedeutung.

Diese Entwicklung bestätigte meine schon lang gehegte Vermutung: Ich war nicht der Einzige, der Bob große Zuneigung entgegenbrachte. Fast jeder wollte sein Freund sein. Ich beneidete ihn ein wenig um diese besondere Gabe. Mir ist es noch nie leichtgefallen, Freunde zu finden.

Aber niemand war mehr verliebt in Bob als meine Ex-Freundin Belle. Wir waren immer noch gute Freunde, verstanden uns besser als in der Zeit, als wir zusammen gewesen waren. Sie besuchte uns oft. Angeblich, um mit mir zu reden, aber ich glaube, sie kam vor allem wegen Bob. Die beiden konnten stundenlang auf dem Sofa miteinander spielen. Bob war auch ganz verrückt nach ihr.

Kurz vor Weihnachten stand sie eines Tages mit einer Plastiktüte vor meiner Tür. »Was hast du da?«, fragte ich misstrauisch.

»Das ist nicht für dich, sondern für Bob!«, wies sie mich zurecht.

Bob hatte friedlich auf seinem Lieblingsplatz unter der Heizung gelegen. Als er seinen Namen hörte, schoss sein Kopf mit einem fragenden »Grrrk?« hoch.

»Komm her, Bob, ich habe eine Überraschung für dich!«, lockte Belle den Kater und schmiss sich samt Tüte auf die Kuschelcouch. Wie alle Katzen war Bob sehr neugierig. Auch wenn er scheinbar unbeeindruckt zu ihr hinüberschlenderte, sein langer Hals beim Abschnüffeln der Tüte strafte ihn Lügen. Belle lachte und zog zwei Mini-T-Shirts hervor.

Auf einem prangte das Bild von einem süßen Katzenbaby. Das andere war rot mit grünen Umrandungen. Darauf stand in weißen, großen Buchstaben »Santa Paws« und darunter war der Abdruck einer weißen Katzenpfote.

»Ist das cool, Bob!«, rief ich beeindruckt. »Der perfekte Wärmespender für die Weihnachtszeit in Covent Garden. Damit würdest du sogar das Herz von Ebernezer Scrooge erweichen!«

Und genau so war es.

Ich weiß nicht, ob es an der Weihnachtsstimmung oder an Bobs niedlichem Santa-Paws-T-Shirt lag, jedenfalls waren alle entzückt über den Weihnachtskater.

»Oh, sieh mal, da ist Santa Paws!«, bekamen wir ständig zu hören. Viele Leute blieben stehen und warfen ein paar Münzen in meinen Gitarrenkasten. Andere wollten unbedingt Bob beschenken.

Wie diese elegante Dame, die gar nicht mehr aufhören wollte, Bob zu kraulen. »Was für ein außergewöhnlicher Kater!«, wandte sie sich nach einer Weile an mich. »Was wünscht er sich zu Weihnachten?«

»Keine Ahnung, Madam«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Na, dann frage ich anders: Was könnte er brauchen?«

»Hmm, ein zweites Geschirr mit Leine wäre nicht schlecht. Oder ein wirklich warmer Mantel für die eisigen Tage. Oder Spielsachen. Jedes Kind wünscht sich Spielzeug zu Weihnachten, nicht wahr?«

»Alles klar.« Sie nickte und verschwand, nicht ohne Bob noch mal innig über den Rücken gestreichelt zu haben.

Ich dachte nicht weiter darüber nach, aber nach einer Stunde war sie wieder da. Mit glücklichem Lächeln überreichte sie mir einen handgestrickten Weihnachtssocken mit Katzenbild vorne drauf. Ich warf einen Blick hinein. Er war bis obenhin vollgestopft mit allem, was ein Katzenherz begehrt. Futter, Spielzeug und vieles mehr.

»Sie müssen mir aber versprechen, den Socken nicht vor Weihnachten auszupacken. Legen Sie ihn bitte für Bob bis zur Bescherung unter den Christbaum.« Ich hatte nicht das Herz, ihr zu sagen, dass ich mir weder Christbaum noch Weihnachtsdekoration leisten konnte, um unser Zuhause festlich zu schmücken. Mehr als ein elektrisch beleuchteter Mini-Baum aus Plastik, den ich in einem Secondhandladen erstanden hatte, war nicht drin.

Ein paar Tage später änderte ich jedoch meine Meinung. Sie hatte recht. Ich sollte mir dieses Jahr ein richtiges Weihnachtsfest gönnen. Schließlich hatte ich etwas zu feiern: Ich hatte Bob und war nicht mehr allein!

Seit Jahren hatte mir Weihnachten nichts mehr bedeutet; ich fand, es gab für mich keinen Grund, dieses Fest zu feiern. Ich gehörte zu den Leuten, die Weihnachten eher fürchten.

In den letzten zehn Jahren hatte ich Weihnachten meist in Notunterkünften verbracht. Die Hilfsorganisationen meinten es gut mit uns, und die weihnachtlichen Festessen waren durchwegs fröhliche Veranstaltungen. Aber ich hatte an diesen Abenden immer einen Kloß im Hals, den ich nur mühsam unterdrücken konnte. Weil mich dieses Fest immer daran erinnerte, was mir fehlte: ein Zuhause und eine Familie. Es führte mir »alle Jahre wieder« schmerzlich vor Augen, wie sehr ich mein Leben verpfuscht hatte.

Einmal habe ich Heiligabend auch allein verbracht. Da war es noch schwerer, zu vergessen, dass meine Familie am anderen Ende der Welt lebte. Zumindest der Großteil meiner Familie. Ein anderes Mal war ich bei meinem Vater. Nachdem ich ein Jahr von der Bildfläche verschwunden war und auf der Straße gelebt hatte, hielt ich wieder losen Kontakt zu ihm. Manchmal rief ich ihn an, und diesmal lud er mich ein, Weihnachten mit ihm und seiner neuen Familie in seinem Haus im Süden von London zu verbringen. Es war kein schöner Abend. Mein Vater ließ mich deutlich spüren, was er von mir hielt. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich war kein Sohn, auf den man stolz sein konnte.

Ich war dankbar für das gute Essen und vor allem für die Gesellschaft. Trotzdem sind wir uns nicht einmal an diesem Abend nähergekommen. Wir haben diese Art von »Familienfest« nie wiederholt.

Aber diesmal war alles anders. Ich lud Belle ein, am Heiligabend auf einen Drink vorbeizukommen. Für den ersten Weihnachtstag hatte ich mich in Unkosten gestürzt und fertig zubereitete Truthahnbrust mit sämtlichen Beilagen gekauft. Ich konnte nicht richtig kochen und mir fehlten die nötigen Küchenutensilien. Für Bob hatte ich ein paar besondere Leckerbissen und seine Lieblingssorte »Hühnchen in feiner Soße« besorgt.

Wir standen relativ früh auf an diesem Tag und machten gleich einen kleinen Spaziergang, damit Bob seine Geschäftchen erledigen konnte. Dabei trafen wir mehrere Nachbarn, die auf dem Weg zu Verwandten waren. Wir wünschten uns »Frohe Weihnachten« und schenkten uns ein fröhliches Lächeln. Diese flüchtigen Begegnungen gaben mir ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit. Kein Vergleich mit den Weihnachtsfesten der letzten Jahre.

Als wir nach Hause kamen, bekam Bob seine Santa-Socke. Er hatte sie schon vor Tagen entdeckt und wusste genau, dass sie für ihn war. Ich holte jede Überraschung einzeln für ihn hervor. Da waren Leckerchen, Spielmäuse, Bälle mit Glöckchen und kleine, weiche Kissen, die mit Katzenminze gefüllt waren. Er war überglücklich und fing sofort an, mit seinem neuen Spielzeug zu spielen. Er benahm sich wie ein aufgeregtes Kind unter dem Weihnachtsbaum. Es war ein hinreißender Anblick, und ich war glücklich, ihn so zu sehen.

Gegen Mittag machte ich den Truthahn warm. Dann setzte ich uns beiden ein Weihnachtsmützchen auf, gönnte mir eine Dose Bier und machte es mir für den Rest des Tages vor dem Fernseher gemütlich. Es war mein schönstes Weihnachtsfest seit Jahren.