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Der Stationsvorsteher

Der Urlaub in Australien hatte mir wirklich gutgetan. Meine Familie, allen voran meine Mutter, hatte mir neue Kraft gegeben. Ich fühlte mich so stark und selbstsicher wie seit Jahren nicht mehr. Aber meine gute Laune war noch besser, seit Bob wieder bei mir war. Er hat mir sehr gefehlt in Tasmanien. Nur mit ihm war ich rundum glücklich.

Schnell hatte uns der Alltag wieder. Wir waren unzertrennlich und teilten Freud und Leid. Bob hatte auch nach drei gemeinsamen Jahren immer noch die eine oder andere Überraschung für mich parat.

In Australien redete ich dauernd von Bob und erzählte jedem, was für ein kluger Kater er doch war. Bestimmt haben mich manche Leute deswegen für verrückt gehalten. »Eine Katze kann nicht so schlau sein«, wird sich so mancher gedacht haben. Doch etwa zwei Wochen nach meiner Rückkehr musste ich feststellen, dass ich ihn noch unter Wert angepriesen hatte.

Es war schon immer eine lästige Pflicht, Bob zur Erledigung seiner tierischen Geschäftchen nach draußen zu lassen; schließlich wohnten wir im fünften Stock. Das Kistchen in der Wohnung lehnte er nach wie vor kategorisch ab. Mehrere Säcke voll mit hochwertigem Katzenstreu stapelten sich in einem Schrank und staubten traurig vor sich hin – seit meinem ersten Einkauf von Katzenutensilien vor drei Jahren.

Es war ein Riesentheater, jedes Mal fünf Stockwerke nach unten, raus auf die Grünfläche und wieder zurück nach oben laufen zu müssen. Seit ich aus Australien zurück war, fiel mir aber auf, dass er nicht mehr so oft raus musste wie früher.

Anfangs tippte ich auf ein medizinisches Problem und brachte ihn zur Tierambulanz im Blue Cross Bus in Islington Green. Die Tierärztin fand jedoch nichts Ungewöhnliches. Sie vermutete eine altersbedingte Stoffwechselveränderung.

Die Erklärung für Bobs vermindertem Drang nach draußen hatte allerdings keinen medizinischen Ursprung, sondern einen sehr amüsanten. Kurz nach unserem Tierarztbesuch wachte ich eines Morgens sehr früh auf. Es war erst kurz nach sechs, aber meine innere Uhr war noch ziemlich durcheinander. Ich quälte mich schlaftrunken aus dem Bett, um ins Bad zu gehen. Die Toilettentür stand halb offen, und ein leises, plätscherndes Geräusch drang an mein Ohr. Wie seltsam, dachte ich und machte mich schon darauf gefasst, einen Einbrecher beim Wasserlassen zu überraschen. Vorsichtig schubste ich die Badezimmertür weiter auf – und staunte Bauklötze. Bob saß auf dem Toilettensitz und pinkelte ganz entspannt in die Kloschüssel.

Es sah aus wie in dem Film Meine Braut, ihr Vater und ich, als Robert De Niros Kater Jinxie in einer bestimmt lang geprobten Szene die Toilette seiner Besitzer benutzt. Nur Bob tat es wirklich und ganz ohne Training. Offenbar war ihm der aufwendige Besuch seines Freiluftklos selbst schon zu viel geworden, und er hatte seine eigene Lösung gefunden. Bisher war ich der Meinung gewesen, er begleite mich aus Langeweile bis auf die Toilette. Dabei hat sich der kleine Schlaumeier alles abgeguckt und ahmte mich nun perfekt nach.

Als er mich bemerkte, warf er mir einen seiner vernichtenden Blicke zu, als wolle er sagen: »Was guckst du? Ich gehe aufs Klo, ist doch ganz normal, oder?« Er hatte natürlich recht. Warum ließ ich mich immer noch überraschen? Bob konnte alles, das sollte ich längst wissen.

Unsere längere Abwesenheit war vielen unserer Kunden rund um die Angel Station tatsächlich aufgefallen. In der ersten Woche nach meinem Urlaub begrüßten uns viele Leute mit freudigem Lächeln und warmen Worten wie: »Ah, da seid ihr ja wieder!« oder »Ich dachte schon, ihr habt im Lotto gewonnen.« Einer von Bobs weiblichen Fans brachte sogar eine Karte, auf der stand: »Wir haben dich vermisst.« Es war schön, wieder »zu Hause« zu sein.

Aber es gab auch Leute, die sich nicht sonderlich über unsere Rückkehr freuten. Eines Abends hatte ich eine hitzige Auseinandersetzung mit einer Chinesin. Sie war mir schon öfter aufgefallen, weil sie Bob und mich immer mit missbilligenden Blicken bedachte. Diesmal blieb sie vor mir stehen und drohte mit dem Zeigefinger.

»Das nicht gut, nicht gut«, schimpfte sie.

»Entschuldigung, aber was ist nicht gut?«, fragte ich erstaunt.

»Das nicht normal für Katz’, so sein«, radebrechte sie in schlechtem Englisch. »Er sooo ruhig, du gibst Drogen zu Katz’.«

Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, auch wenn ich diesen Vorwurf nicht zum ersten Mal hörte. Als ich noch in Covent Garden Straßenmusik gemacht hatte, war mir von einem arroganten Besserwisser, der aussah wie ein Gelehrter, Ähnliches vorgehalten worden: »Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Ich glaube, ich weiß, was Sie dem Kater geben, damit er so ruhig und unterwürfig ist«, ging er unerwartet auf mich los.

»Und was sollte das sein, Sir?«, fragte ich vorsichtig.

»Na, wenn ich Ihnen das sage, hätten Sie ja die Möglichkeit, auf etwas anderes umzusteigen.« Er war sichtlich überrascht, dass ich ihn herausforderte.

»Jetzt kommen Sie! So eine Anschuldigung müssen Sie schon begründen«, forderte ich ihn auf.

Ohne ein weiteres Wort verschwand er in der Menge. Das war auch besser für ihn, denn wenn er so weitergemacht hätte, wäre mir womöglich die Hand ausgerutscht.

Die Chinesin machte mir den gleichen Vorwurf. Auch diesmal wollte ich das nicht auf mir sitzen lassen. »Was glauben Sie denn, das ich ihm gebe?«, fragte ich sie.

»Das weiß ik nikt«, antwortete sie, »aber Sie geben irgendetwas.«

»Also, wenn ich ihn ruhigstellen würde, warum sollte er dann bei mir bleiben? Dann würde er doch bei der erstbesten Gelegenheit abhauen, oder? Ich kann ihm ja nicht vor allen Leuten Beruhigungsmittel einflößen, oder?«

»Pfff«, war ihre Antwort auf meine Fragen. Dabei machte sie abwehrende Handbewegungen in meine Richtung und wandte sich zum Gehen. »Is nich gut, is nich gut«, wiederholte sie noch, bevor sie in der Menge verschwand.

Ich habe mich damit abgefunden, dass es immer Leute geben wird, die mich verdächtigen, Bob schlecht zu behandeln, die keine Katzen mögen oder etwas dagegen haben, dass ein Big-Issue-Verkäufer mit Katze anstatt mit Hund unterwegs ist.

Schon zwei Wochen nach dem Streit mit der Chinesin hatte ich eine andere Art der sich wiederholenden Auseinandersetzungen.

Seit ich mit Bob unterwegs bin, hat es immer Leute gegeben, die ihn mir abkaufen wollten. »Wie viel willst du für die Katze?«, fragten sie mich. Meine Standardantwort war: »Das könnten Sie sich nicht leisten.«

Auch an der Angel Station gab es Leute, die mir Bob abschwatzen wollten. Eine Frau war besonders hartnäckig. Jedes Mal unterhielt sie sich zuerst freundlich mit mir und fing im Laufe des Gesprächs an, mich zu bearbeiten.

»Schau, James«, ging es jedes Mal los. »Ich finde, Bob sollte nicht mit dir auf der Straße herumlungern. Er verdient ein schönes, warmes Zuhause und ein besseres Leben, meinst du nicht auch?«

Und am Ende kam immer die Frage: »Also, wie viel willst du für ihn haben?«

Ich schüttelte nur noch den Kopf, woraufhin sie versuchte, mich mit Zahlen zu locken. Sie fing mit 100 Pfund an und ging hoch bis 500 Pfund.

Bei ihrem letzten Besuch vor ein paar Tagen übertraf sie sich selbst: »Ich gebe dir 1000 Pfund.«

Ich sah ihr geradewegs in die Augen. »Haben Sie Kinder?«, wollte ich wissen.

»Äh, ja, wieso?«, stotterte sie etwas verwirrt.

»Gut. Okay. Also, für wie viel Geld würden Sie Ihr jüngstes Kind verkaufen?«

»Was soll die Frage?«

»Wie viel kostet Ihr jüngstes Kind?«

»Ich glaube nicht, dass das eine angemessene Frage ist …«

»Doch, genau darum geht es«, unterbrach ich sie. »Denn Bob ist mein Kind, er ist mein Baby. Und wenn Sie mich fragen, ob ich Bob verkaufe, dann ist das für mich, als würden Sie Ihr Kind verkaufen müssen.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief weg. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Aber die meisten Leute waren so nett wie die U-Bahn-Mitarbeiter der Angel Station. Eines Tages unterhielt ich mich mit Vanika, einer Fahrkartenkontrolleurin, die ganz vernarrt in Bob war. Sie amüsierte sich darüber, wie viele Leute wegen Bob stehen blieben, mit ihm redeten und Fotos von ihm machten.

»Er macht unsere Haltestelle noch berühmt, warte es ab!«, scherzte sie.

»Ja, bestimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Ihr solltet Bob als Mitarbeiter einstellen. In Japan gibt es einen Kater, der ist Stationsvorsteher. Er trägt sogar eine kleine Uniform-Mütze.«

Vanika kicherte: »Ich weiß nicht, ob es gerade freie Stellen bei uns gibt!«

»Na, wenigstens einen Ausweis oder so was könntet ihr ihm doch geben«, spann ich die Idee weiter.

Ihr Gesicht wurde nachdenklich. Sie verabschiedete sich, und ich vergaß unser Gespräch.

Als wir Vanika etwa zwei Wochen später an unserem Verkaufsplatz vor dem U-Bahnhof wieder trafen, grinste sie uns schon von Weitem verheißungsvoll entgegen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Nichts. Aber ich hab hier was für Bob.« Stolz präsentierte sie mir einen laminierten Fahrausweis mit Bobs Foto.

»Wow, das ist ja toll!«, rief ich aus.

»Das Foto habe ich aus dem Internet«, erklärte sie mir.

Ich war verblüfft. Wie zum Teufel kam Bob ins Internet?

»Und was bedeutet dieser Ausweis?«, wollte ich wissen.

»Das heißt: Bob darf ab sofort und auf Lebenszeit kostenlos U-Bahn fahren«, lachte sie.

»Ich dachte, Katzen brauchen sowieso nicht zu bezahlen«, grinste ich.

»Okay, also dann bedeutet der Ausweis, dass wir alle große Bob-Fans sind und ihn als Familienmitglied betrachten.«

Ich spürte einen Kloß im Hals und musste mich schwer zusammenreißen, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.