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Die Verwechslung

Im Frühling und Sommer des Jahres 2008 wurde es immer schwieriger, ja fast unmöglich, in London als Straßenmusiker zu überleben.

Dafür gab es gleich mehrere Gründe. Die meisten Leute glauben, dass Straßenkünstler nicht von der aktuellen Wirtschaftslage abhängig sind. Aber da irren sie sich gewaltig. Die schwere Wirtschaftskrise in diesem Jahr machte auch vor mir und meinen Straßenkünstler-Kollegen nicht Halt. All die gutherzigen Leute, die bisher über das Kleingeld, das sie uns in den Gitarrenkasten schnippten, nicht weiter nachdenken mussten, hatten plötzlich nichts mehr für uns übrig. Ein paar nette »Stammkunden« sprachen es sogar aus. Sie hatten Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Was sollte ich da noch sagen? Die Konsequenz für mich war, mehr Stunden auf der Straße zu spielen. Trotzdem verdiente ich meist weniger als früher, um Bob und mich über Wasser zu halten.

Das hätten wir noch verkraftet, aber gleichzeitig starteten die Behörden einen erbitterten Kleinkrieg gegen alle Straßenkünstler, die es wagten, außerhalb ihres zugeteilten Stadtteils aufzutreten. Keine Ahnung, warum sie gerade in dieser schweren Zeit damit anfingen. Ich zerbrach mir nur noch den Kopf darüber, wie ich mit Bob weiter überleben sollte.

Die meisten der Covent Guardians waren bisher ganz umgänglich gewesen. Natürlich hatte ich öfter Ärger mit den Strengsten von ihnen, aber mehr als den obligatorischen Platzverweis gab es bisher nicht zu befürchten. Doch ihr Umgangston änderte sich jetzt schlagartig. Sie konfiszierten unser Handwerkszeug, um ernst genommen zu werden. Ich glaube nicht, dass sie neue Befugnisse hatten; es war wohl eher der Befehl von oben, härter durchzugreifen.

Außerdem hatten sie Verstärkung bekommen. Einer dieser neuen Radikalen hatte schon ein paar Mal gedroht, mir die Gitarre wegzunehmen. Zum Glück bin ich nicht auf den Mund gefallen und konnte es ihm wieder ausreden. Jedes Mal versprach ich, mir im Bereich der Straßenmusiker einen Platz zu suchen oder nach Hause zu gehen. Aber ich gehorchte nur für eine halbe Stunde, dann schlich ich mich wieder zurück in die James Street.

Daraus wurde ein zermürbendes Versteckspiel, bis mir irgendwann die Verstecke ausgingen. Die neuen Covent Guardians hatten Argusaugen; sie spürten mich überall auf. Fast täglich wurde ich verscheucht oder verwarnt. Es laugte mich aus. Meine Zeit als Straßenmusiker ging zu Ende, auch wenn ich es noch nicht wahrhaben wollte. Bis ein Ereignis im Mai das Fass zum Überlaufen brachte.

Alles begann damit, dass mir auch die Mitarbeiter der U-Bahn-Station Covent Garden verstärkt zusetzten. Sie waren wirklich extrem schlecht auf mich zu sprechen. Ich weiß nicht, warum sie sich an meiner Musik gegenüber der U-Bahn-Station so störten. Sie überquerten extra die Straße, nur um mich zu beschimpfen.

Das hätte mich nicht weiter gestört, denn Pöbeleien gehören zu meinem Job. Aber sie hatten sich gegen mich verschworen und einen Plan ausgeheckt, um mich für immer zu vertreiben: mit Hilfe der Polizei. Deshalb hatte ich jetzt auch noch die Ordnungshüter am Hals, die jedes Mal umständlich meine Papiere überprüften und eine Verwarnung aussprachen. Ich reagierte auf diese höhere Gewalt wie immer: Ich packte zusammen, versprach, nie wiederzukommen, um genau das zu tun, sobald die Luft rein war. Als Vergehen sah ich das nicht, denn schließlich schadete ich doch niemandem, oder?

Aber eines Nachmittags eskalierte die Situation.

Bob und ich waren wie immer auf dem Weg nach Covent Garden. Wir hatten damals gerade Besuch von Dylan, den ich noch aus der Band kannte. Man hatte ihm fristlos die Wohnung gekündigt, weil er sich geweigert hatte, eine horrende Mieterhöhung seines neuen, skrupellosen Vermieters zu akzeptieren. Er brauchte für ein paar Wochen ein Dach über dem Kopf, bis er etwas Neues gefunden hatte. Da ich selbst schon in einer solchen Notlage gewesen war, konnte ich das nicht ablehnen. Er schlief auf meinem Sofa.

Zuerst war Bob gar nicht begeistert von unserem neuen Mitbewohner. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich würde ihm nicht mehr genug Aufmerksamkeit schenken, wenn da noch ein Zweibeiner rumhing. Aber das hielt nicht lange an, denn Dylan war ein großer Tierfreund, und Bob hat schnell begriffen, dass er mehr Zuwendung bekam denn je. Bob stand sehr gern im Mittelpunkt.

An diesem Nachmittag wollte Dylan mit uns in die Stadt kommen und sich Covent Garden ansehen. Es war sonnig und warm, genau das richtige Wetter für einen Ausflug. Während ich an meiner Lieblingsecke in der James Street meine Gitarre auspackte, spielte er mit Bob. Rückblickend bin ich immer noch froh und dankbar, dass Dylan an diesem Tag dabei war.

Gerade als ich mir den Gitarrenriemen über den Kopf zog, bog mit hoher Geschwindigkeit ein Polizeibus um die Ecke und hielt mit quietschenden Reifen vor uns am Straßenrand. Drei uniformierte Beamte sprangen heraus und kamen zielstrebig auf uns zu.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte Dylan verdattert.

»Keine Ahnung, die übliche Verwarnung, nehme ich an«, antwortete ich noch ganz gelassen. Natürlich würde ich ihnen wieder versprechen, hier nicht mehr zu spielen.

Aber diesmal fuhren sie schwerere Geschütze auf.

»Okay, Sie! Sofort mitkommen!«, sagte einer der drei Polizisten streng.

»Wieso das denn?«, fragte ich verdattert.

»Wir verhaften Sie wegen des Verdachts auf Nötigung.«

»Was? Wen soll ich denn genötigt haben? Was, verdammt noch mal …« Sie ließen mich gar nicht ausreden. Einer hielt mich fest, der zweite las mir meine Rechte vor, und der dritte legte mir Handschellen an.

»Wir klären das auf der Wache! Wir nehmen Ihre Sachen mit, und Sie steigen in den Bus, bevor wir ungemütlich werden«, drohte mir einer der drei Beamten.

»Und was wird aus meinem Kater?«, fragte ich entsetzt und deutete auf Bob.

»Wir haben Hundezwinger auf der Wache, da stecken wir ihn gerne rein«, antwortete ein anderer ungerührt. »Außer es gibt jemanden, der ihn mitnehmen kann.«

In meinem Kopf drehte sich alles. Ich verstand das alles nicht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir Dylan wieder einfiel. Er stand etwas abseits und sah betreten weg. Ganz offensichtlich wollte er nicht in die Sache hineingezogen werden.

»Dylan, bitte kümmere dich um Bob!«, rief ich ihm zu. »Bring ihn nach Hause. Die Schlüssel sind im Rucksack!«

Erleichtert sah ich, dass er nickte. Er hob Bob hoch und sprach beruhigend auf ihn ein. Bob wirkte total verstört. Er verstand nicht, warum mich die Männer von ihm trennten. Durch das vergitterte Rückfenster des Busses beobachtete ich die kleiner werdende Silhouette von Dylan und Bob auf dem Gehweg, bis die Entfernung sie verschluckte.

Sie brachten mich zur Polizeiwache. Ich wusste immer noch nicht, worum es eigentlich ging. Ein Polizist schubste mich unsanft an den Empfang, wo mir ein Schreibtischhengst befahl, meine Taschen zu leeren. Dann verfrachteten sie mich in eine Zelle. Dort sollte ich warten, bis ein Polizeibeamter für mich Zeit hätte.

Die karge Zelle war mit Graffiti übersät, und der Fußboden stank nach eingetrocknetem Urin. Der Geruch rief unangenehme Erinnerungen in mir wach. Es war nicht meine erste Begegnung mit einer Polizeiunterkunft. Vor meinem Drogenentzug war ich öfter wegen Bagatell-Diebstählen verhaftet worden.

Wer auf der Straße lebt oder ein Drogenproblem hat, versucht immer irgendwie Geld aufzutreiben. Ladendiebstahl ist die einfachste Lösung. Mein Spezialgebiet war Fleisch. Ich klaute Lammkeulen und teure Filetsteaks. Jamie Oliver Steaks. Lammschenkel. Geräucherten Schinken. Das Zeug hatte den höchsten Wiederverkaufswert. Nur kein Hühnerfleisch. Das war zu billig und brachte nichts ein. Für hochwertiges Fleisch bekam ich die Hälfte des ausgezeichneten Ladenpreises. Pubs sind willige Abnehmer für diese Ware. Wenn sie teures Fleisch billig kriegen können, nehmen sie es. Pubs machen gern solche Geschäfte, das weiß jeder.

Zum ersten Mal habe ich 2001 oder 2002 gestohlen, um meine Drogen bezahlen zu können. Davor habe ich dafür gebettelt. Ich hatte bereits ein Methadon-Programm hinter mir, war aber nur kurzfristig clean. Nach diesem ersten Entzug steckten sie mich in eine schäbige Notunterkunft, in der jeder auf Drogen war. Alles dort war schmuddelig: die Zimmer, die Bettlaken, die Duschen und vor allen Dingen die Bewohner. Es war ein unerträglicher und menschenunwürdiger Ort. Bevor ich mich versah, war ich rückfällig geworden.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich zum ersten Mal beim Stehlen erwischt wurde. Es war bei Marks and Spencer’s an der Angel Station in Islington. Ich achtete sehr darauf, bei meinen kleinen Raubzügen nicht aufzufallen. Ich zog mich gut an und bändigte meine Rockmusiker-Mähne mit einem Lagerfeld-Zopf. Ich sah aus wie ein Postbote, der nach getaner Arbeit kurz in den Supermarkt schlüpft, um sich auf dem Heimweg noch schnell mit Milch zu versorgen. Aussehen war alles. Ich hatte sogar eine Postbotentasche mit dem Royal-Mail-Abzeichen drauf, die ich mir lässig über die Schulter hängte. Sie verlieh mir den nötigen Vertrauensbonus, sodass kein Mensch von mir Notiz nahm. Heute ist diese Tasche kein Freifahrtschein mehr, aber damals war es eine gute Masche, um unbehelligt zu klauen. Wäre ich mit einem Rucksack oder einer Einkaufstasche herumgewandert, hätte ich keine Chance gehabt, auch nur einen Kaugummi aus dem Laden zu schmuggeln. Aber an diesem Tag bei Marks and Spencer’s haben sie mich geschnappt. Mit Fleisch im Wert von 120 Pfund.

Auf der Tolpuddle Street im Stadtteil Angel kam ich zum ersten Mal in Polizeigewahrsam. Sie haben mich wegen Diebstahls zu 80 Pfund Strafe verdonnert. Aber ich wurde nicht verhaftet, weil es mein erstes Vergehen war.

Leider war mir dieser Zusammenstoß mit der Polizei keine Lehre. Die Sucht ließ mir keine andere Wahl – irgendwie musste ich an Geld kommen. Ich brauchte meine tägliche Dosis Heroin und manchmal auch ein bisschen Crack. Kein Geld für Drogen zu haben ist viel schlimmer als das Risiko, erwischt zu werden. Niemand will ins Gefängnis. Aber die Sucht ist stärker als alles andere. Jegliche Schuldgefühle werden von dieser unkontrollierbaren Gier ausgelöscht. Man versucht sich rauszureden, man belügt sich und andere. Niemand glaubt dir – weil du dir selbst nicht mehr glauben kannst. Wenn du ganz unten bist, kommst du nicht mehr hoch.

Die Straßenmusik war meine Rettung. Es war eine legale Einkommensquelle. Ich hatte keine kriminellen Verzweiflungstaten mehr nötig. Und trotzdem saß ich jetzt wieder in einer Zelle. Das war ein Schlag in die Magengrube.

Eine halbe Stunde ließen sie mich in der Zelle schmoren, dann öffnete sich die Tür, und ein Beamter in weißem Diensthemd gab mir Handzeichen, mitzukommen. »Los, komm schon«, bellte er.

»Wohin bringen Sie mich?«, wollte ich wissen. »Sie werden schon sehen«, war die unbefriedigende Auskunft. Er schubste mich in einen kleinen, kahlen Raum mit einem Tisch und ein paar Plastikstühlen. Zwei Beamte warteten schon auf mich. Sie machten einen ziemlich gelangweilten Eindruck.

Als sie anfingen mich zu verhören, bekam ich es mit der Angst zu tun.

»Wo waren Sie gestern Abend gegen 18.30 Uhr?«, fragte einer.

»Ähhm, ich habe in Covent Garden Gitarre gespielt«, antwortete ich.

»Wo?«

»In der James Street gegenüber vom U-Bahn-Ausgang«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Haben Sie die U-Bahn-Station irgendwann an diesem Abend betreten?«, fragte mich einer der beiden Polizisten.

»Nein, ich gehe nie in die Bahnhofshalle, ich fahre immer mit dem Bus«, gab ich Auskunft.

»Wie kommt es dann, dass wir mindestens zwei Augenzeugen haben, die behaupten, dass Sie in der U-Bahn-Station eine Kontrolleurin beschimpft und bespuckt haben?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich entsetzt.

»Unsere Zeugen haben gesehen, wie Sie mit dem Aufzug nach oben kamen und dann versuchten, über das Drehkreuz zu springen, weil Sie keine Fahrkarte hatten!«

»Also, wie gesagt, das war ich ganz sicher nicht!«, wehrte ich ab.

»Und als eine Mitarbeiterin Sie ansprach, wurde diese von Ihnen beschimpft …«

Ich saß da und schüttelte den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

»… dann wurden Sie von der Mitarbeiterin zum Schalter geführt und aufgefordert, eine Fahrkarte zu kaufen«, ergänzte der andere Beamte.

»Sie kauften also gegen ihren Willen eine Fahrkarte und spuckten dann auf das Schalterfenster.«

Bei dieser lächerlichen Anschuldigung platzte mir der Kragen.

»So ein Blödsinn! Ich habe es bereits gesagt: Ich war weder gestern Abend noch sonst irgendwann in dieser oder sonst einer U-Bahn-Station. Ich fahre niemals mit der U-Bahn. Mein Kater und ich fahren immer und ausschließlich mit dem Bus!«

Die beiden Polizeibeamten starrten mich ungläubig an. Ihren Blicken nach waren sie überzeugt, dass ich sie anlog. Dann fragten sie, ob ich meine Aussage zu Protokoll geben wolle. Ich gab an, dass ich den ganzen Abend draußen vor der Angel Station Gitarre gespielt hatte und dass die Bilder der Überwachungskameras dies bestätigen würden. Währenddessen spielten sich in meinem Hinterkopf ganz andere Szenarien ab. Mein Herz raste vor Angst und ich konnte nur hoffen, dass die beiden Bullen meine Panik nicht bemerkten.

Vielleicht war das eine Falle? Wenn nun jemand die Überwachungsbilder des Vortages manipuliert hatte? Was passierte, wenn diese Geschichte vor Gericht landete und meine Aussage gegen die von drei vertrauenswürdigen Angestellten der Londoner U-Bahn-Gesellschaft stand?

Aber meine größte Sorge galt Bob.

Was würde aus ihm, wenn ich ins Gefängnis musste? Wer sollte sich um ihn kümmern? Würde er bei Fremden bleiben oder abhauen und in den Straßen von London verloren gehen? Könnte er allein auf der Straße noch überleben? Ich bekam pochende Kopfschmerzen von all diesen schrecklichen Gedanken.

Sie behielten mich noch mehrere Stunden auf dem Revier. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Der Verhörraum hatte kein Fenster, und ich hatte keine Ahnung, ob es draußen noch hell war oder schon dunkel. Irgendwann kam eine Polizistin in Begleitung eines schlecht gelaunten männlichen Kollegen herein.

»Ich brauche einen DNA-Test«, informierte sie mich. Ihr Begleiter baute sich mit verschränkten Armen in einer Ecke auf und starrte mich böse an.

»Kein Problem«, gab ich zur Antwort und ignorierte ihren Wachhund. Mein Gewissen war rein. »Was soll ich tun?«, fragte ich sie.

»Einfach sitzen bleiben und den Mund aufmachen. Ich nehme mit diesem Stäbchen etwas Speichel aus Ihrem Mund«, erklärte sie mir.

Sie öffnete einen kleinen Koffer, der voller Tupfer und Teströhrchen war.

»Mund bitte weit öffnen«, befahl sie, und ich fühlte mich plötzlich wie beim Zahnarzt. Aber die Prozedur war lange nicht so schmerzhaft. Die Beamtin steckte mir ein langes Wattestäbchen in den Mund und drehte es ein paar Mal an meiner Wangeninnenseite.

»Das war’s auch schon!« Sie verschloss das Wattestäbchen in einem ihrer Teströhrchen, schrieb meinen Namen auf einen Aufkleber und verstaute es in ihrem Koffer.

Kurz darauf durfte ich endlich gehen. Am Empfang bekam ich den Inhalt meiner Taschen wieder und musste dafür unterschreiben. Außerdem musste ich einen Schriftsatz unterzeichnen, der mich darauf hinwies, dass ich auf Bewährung entlassen war. Außerdem verpflichtete ich mich mit meiner Unterschrift, in zwei Tagen wieder zu erscheinen.

»Und wann werde ich wissen, ob man mich anklagt?«, fragte ich den Beamten hinter dem Tresen. Eigentlich erwartete ich keine Antwort. Aber ich bekam die Auskunft, dass dies in den nächsten beiden Tagen geklärt würde.

»Echt jetzt?«, fragte ich ungläubig nach.

»Höchstwahrscheinlich«, bestätigte er mir.

Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder davor fürchten sollte. Zumindest würde ich schnell erfahren, ob ich ins Gefängnis müsste oder nicht. Bei dem Gedanken, eventuell weggeschlossen zu werden – noch dazu für etwas, was ich definitiv nicht getan hatte – lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Als ich wieder auf der Straße stand, fand ich mich in einer stockdunklen Nebenstraße der Warren Street wieder. Ich erkannte die Umrisse von mehreren Gruppen Obdachloser, die – versteckt in Toreinfahrten – ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten.

Es war kurz vor 23 Uhr. Erst gegen Mitternacht erreichte ich die U-Bahn-Haltestelle Seven Sisters. Es waren nur noch Betrunkene und Nachtschwärmer unterwegs, die um diese Zeit aus den Pubs geworfen wurden.

Als ich endlich zu Hause ankam, atmete ich erleichtert auf. Dylan sah fern, und Bob hatte sich auf seinem Lieblingsplatz unter der Heizung zusammengerollt. Kaum hatte ich die Wohnungstür aufgeschlossen, sprang er auf und kam federnden Schrittes auf mich zu gelaufen. Dabei sah er mich mit schief gelegtem Kopf erwartungsvoll an, als wollte er sagen: »Na, wo kommst du denn jetzt her?«

»Hallo, mein Freund, alles okay?«, fragte ich, während ich in die Knie ging, um ihn zu streicheln. Er sprang sofort an mir hoch und rieb seinen Kopf an meiner Wange.

Dylan verschwand in der Küche. Als er zurückkam, reichte er mir wortlos eine kalte Dose Bier, frisch aus dem Kühlschrank.

»Ah, das brauche ich jetzt! Vielen Dank!«, seufzte ich, riss die Dose auf und genehmigte mir einen großen Schluck.

Wir saßen noch lange zusammen und redeten. Während Bob selig über meine Rückkehr auf meinem Schoß schlief, zerbrachen sich Dylan und ich den Kopf darüber, was da heute gelaufen war. Auch wenn die gesamte U-Bahn-Belegschaft nicht gerade glücklich über meine Auftritte als Straßenmusiker vor der James Station war, konnte ich nicht glauben, dass sie mich für ein Verbrechen büßen lassen würden, das ich nicht begangen hatte.

Dylan versuchte mich zu beruhigen: »Nicht mal die würden es schaffen, deine DNA so zu manipulieren, dass sie mit der auf dem Schalterfenster übereinstimmt!«

Da hatte er zwar recht, aber ich war trotzdem ziemlich verunsichert.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Die Verhaftung hatte mich mehr mitgenommen, als ich dachte. Egal, wie oft ich mir vorsagte, dass alles gut gehen würde, ich konnte die dunklen Vorahnungen nicht abschütteln. Ich sah es buchstäblich vor mir, wie mein mühsam aufgebautes »normales« Leben zusammenbrach, wie ein Kartenhaus beim ersten Luftzug. Eine innere Stimme, die ich nicht abstellen konnte, raunte: »War’s das? Stürzt du jetzt wieder ab?« Ich fühlte mich so hilflos und wütend – und ich hatte eine Scheiß-Angst.

Am nächsten Tag machte ich einen großen Bogen um Covent Garden. Bob und ich spielten in der Neal Street und versuchten noch zwei weitere Plätze in der Nähe der Tottenham Court Road. Aber ich war nicht bei der Sache. Dauernd musste ich daran denken, was am nächsten Tag bei meinem Termin auf der Polizeistation passieren würde. Auch in der folgenden Nacht fand ich wenig Schlaf.

Mein Termin auf der Polizeistation war um zwölf Uhr mittags. Ich fuhr früh los, denn ich wollte nicht zu spät kommen und die Beamten noch mehr verärgern. Bob ließ ich zu Hause, nur für den Fall, dass es wieder Stunden dauern sollte. Mein feinfühliger kleiner Mitbewohner war genauso zappelig wie ich. Er spürte, dass ich nervös war, vor allem, weil ich mein Frühstück im Stehen einnahm. Ich konnte einfach nicht still sitzen. Wie ein eingesperrter Tiger lief ich in der Küche auf und ab, während ich meinen Toast hinunterwürgte. Bob lief immer hinter mir her oder zwischen meine Beine, sodass ich mehr als einmal stolperte.

»Keine Angst, Bob«, verabschiedete ich mich von ihm. Auf sein fragendes »Krrrk?« versicherte ich ihm: »Ich bin bald wieder da.« Ich wollte ihn nicht noch mehr beunruhigen. Wenn ich mir nur so sicher wäre, wie ich klang!

Ich brauchte eine Weile, um die Polizeistation wieder zu finden, die sich in einer kleinen Gasse parallel zur Tottenham Court Road versteckte. Hingefahren war ich in einem Polizeibus, und als ich rausgekommen war, war es finstere Nacht gewesen. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass ich suchen musste. Trotz allem war ich zwanzig Minuten früher da. Bis zu meinem Termin stand und saß ich auf dem Korridor herum, unfähig, mich auch nur auf einen einzelnen Gedanken zu konzentrieren.

Endlich wurde ich in einen Raum gebeten, in dem zwei Beamte auf mich warteten: ein Mann in den Vierzigern und eine jüngere Frau.

Auf dem Tisch vor den beiden türmten sich Akten, die nichts Gutes verhießen. Hatten die etwa alles über meine Vergangenheit ausgegraben? Gott allein weiß, welche Leichen in diesem für mich nebulösen Keller meiner Drogenzeit zu finden waren.

Der ältere Mann teilte mir ohne Umschweife mit, dass die Vorwürfe gegen mich fallen gelassen wurden.

»Der DNA-Test war wohl negativ? Mein Speichel hat nicht zu dem am Schalter gepasst, was?« Die gute Nachricht hatte mir wieder Leben eingehaucht und eine Portion meines alten Selbstbewusstseins zurückgegeben.

Er gab mir keine Antwort, sondern sah mich nur mit der schmallippigen Andeutung eines Lächelns an. Er durfte dazu nichts sagen, das wusste ich. War auch nicht nötig. Sie mussten jetzt meine Version der Geschichte glauben. Jemand von den U-Bahn-Mitarbeitern hatte versucht, mich zu verleumden, zum Glück ohne Erfolg.

Sie ließen mich nur kurz durchschnaufen. Dann zogen sie ihr Ass aus dem Ärmel. Die junge Beamtin teilte mir mit, dass ich stattdessen wegen »illegalem Musizieren auf der Straße« oder, um es formell auszudrücken, wegen »Belästigung« angeklagt würde.

Sie schoben mir ein Blatt Papier unter die Nase und wiesen mich darauf hin, dass ich in einer Woche bei Gericht zu erscheinen hatte.

Total erleichtert verließ ich das Polizeirevier. »Belästigung« war ein Ordnungsdelikt, kein Vergleich mit Nötigung. Mit ein bisschen Glück käme ich mit einer kleinen Geldstrafe davon, sozusagen als erzieherischer Klaps auf die Finger. Bei Nötigung hätte ich schlechte Karten gehabt. Das ist wie versuchte Körperverletzung, ein schweres Vergehen, das entsprechend bestraft wird. Dafür hätte ich tatsächlich im Knast landen können. Das Ganze war gut ausgegangen, so musste ich es sehen und so wollte ich es sehen. Trotzdem war ich sauer über die Ungerechtigkeit, die mir da widerfahren war. Die Polizei hatte mir das Protokoll ausgehändigt, und es gab überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen mir und dem von Zeugen beschriebenen Spucker. Ich nahm mir vor, diese Papiere aufzuheben. Vielleicht konnte ich sie wegen unrechtmäßiger Verhaftung verklagen.

Von Erleichterung beflügelt, machte ich mich auf den Heimweg. Ich hatte gerade noch mal die Kurve gekriegt. Ich wusste nur noch nicht, wohin sie führen würde.

Jetzt musste ich nur noch den Gerichtstermin überstehen. Deshalb fuhr ich in den nächsten Tagen zu einem Bürger-Beratungszentrum, um mich rechtlich beraten zu lassen. Wahrscheinlich hätte ich das schon früher tun sollen, aber meine Verhaftung hatte mich so verstört, dass ich keinen klaren Gedanken mehr hatte fassen können. Es stellte sich heraus, dass mir kostenfreier Rechtsbeistand zustand, weil ich als Teilnehmer eines Drogen-Entzugsprogrammes und Mieter einer Sozialwohnung die Bedürftigkeitskriterien erfüllte. Einen Anwalt, der mich vor Gericht vertrat, fand ich aber für meine Sache zu übertrieben. Ich wollte nur hören, wie ich mich bei Gericht verhalten sollte.

Es klang ganz einfach. Ich musste mich schuldig bekennen, also zugeben, dass ich illegal Straßenmusik gemacht hatte. Und dann darauf hoffen, dass der Richter kein Sadist war, der Straßenmusiker hasste.

Am Tag der Verhandlung zog ich über mein frisches T-Shirt mit der Aufschrift »Extrem unglücklich« auch noch ein sauberes Hemd und rasierte mich. Die Wartezone vor dem Gerichtssaal war überfüllt. Da waren finstere Gestalten mit kahlen Skinhead-Köpfen, die sich mit osteuropäischen Akzenten unterhielten, aber auch ein paar Geschäftsmänner im Anzug, die auf ihre Verhandlung wegen Fahrdelikten warteten.

»James Bowen. Das Gericht ruft Mr. James Bowen« tönte nach kurzer Wartezeit eine vornehme Stimme über den unsichtbaren Lautsprecher. Ich holte tief Luft und betrat den Gerichtssaal.

Der Friedensrichter beäugte mich wie ein Stück Dreck, das versehentlich von der Straße in seinen sauberen Gerichtssaal geblasen worden war. Aber nach dem Gesetz konnte er mir nicht viel anhaben. Vor allem, da dies mein erstes Vergehen dieser Art war.

Sie entließen mich mit drei Monaten auf Bewährung und ohne Geldstrafe. Der Richter schärfte mir aber ein, dass ich beim nächsten Mal mit einer Geldstrafe oder sogar einer Verhaftung zu rechnen hatte.

Belle und Bob warteten vor dem Gerichtsgebäude auf mich. Als Bob mich kommen sah, sprang er von Belles Schoß und kam mir entgegen. Er bemühte sich sehr, cool zu bleiben. Aber seine übermütig blitzenden Augen verrieten mir, wie froh er war, mich zu sehen.

»Und? Wie ist es gelaufen?«, wollte Belle wissen.

»Drei Monate auf Bewährung, aber wenn sie mich noch mal erwischen, bin ich dran«, informierte ich sie.

»Oh! Und was machst du jetzt?«, fragte sie.

Ich sah sie nur an, dann wanderte mein Blick hinunter zu Bob. Die Antwort stand mir wohl ins Gesicht geschrieben.

Ich war am Ende. Meine Zeit als Straßenmusiker war vorbei. Fast zehn Jahre hatte ich vorwiegend davon gelebt. Aber die Zeiten hatten sich geändert, genau wie mein Leben. Vor allem, seit Bob bei mir war. In letzter Zeit hatte ich schon oft darüber nachgedacht, die Straßenmusik an den Nagel zu hängen. Manchmal reichte das Geld nicht mehr für das Nötigste. Und immer öfter gerieten wir in Situationen, die mich – und vor allem auch Bob – in Gefahr brachten. Dazu kam jetzt auch noch diese Bewährungsauflage, die mich noch mehr einschränkte. Sollten sie mich noch einmal erwischen, würden sie mich ins Gefängnis stecken. Das war mir die Sache nicht wert.

»Ich weiß nicht, was ich tun werde, Belle«, antwortete ich nachdenklich. »Aber eines weiß ich bestimmt: Ich hänge die Straßenmusik an den Nagel!«