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Im Mittelpunkt

In der nächsten Dreiviertelstunde drückte sich Bob das Näschen am Busfenster platt und beobachtete fasziniert, wie Busse, Fahrräder, Lastwagen und Fußgänger an uns vorbeiflogen. Bestimmt ein ungewöhnliches Schauspiel für eine Katze, aber Bob blieb cool wie immer.

Nur das hysterische Sirenengeheul von Polizei, Feuerwehr oder Krankenwagen war ihm unheimlich. Wenn ein solcher Wagen dem Bus und damit auch den empfindlichen Ohren des Katers zu nahe kam, riss er sich schleunigst vom Fenster los und drückte sich so lange schutzsuchend an mich, bis der laute Störenfried im Verkehrsgewühl wieder untergetaucht war. Für einen Londoner Straßenkater war Bobs Benehmen allerdings merkwürdig. Er musste die aufdringlichen Geräusche unserer Notdienste doch längst gewöhnt sein. Und schon grübelte ich wieder darüber nach, wie dieser seltsame Kater vor unserer Begegnung wohl gelebt haben könnte.

»Keine Angst, Bob!«, flüsterte ich und streichelte ihm beruhigend über den Rücken. »So klingt es immer im Zentrum von London. Daran musst du dich gewöhnen.«

Es war schon seltsam. Dieser Straßenkater war mir nichts schuldig. Ich hatte alles versucht, ihm das klarzumachen. In den letzten Wochen hätte er jederzeit verschwinden können. Aber jetzt war es an der Zeit, Bobs Entscheidung zu akzeptieren: Er war in mein Leben getreten, um zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, dass wir diese Busfahrt noch sehr oft gemeinsam machen würden.

An der U-Bahn-Station Court Road mussten wir raus. Heute schulterte ich nicht nur Gitarre und Rucksack, als die Ausstiegsstelle näher kam, sondern nahm auch noch Bob auf den Arm. Auf dem Gehweg fischte ich in meinen Manteltaschen nach den Schuhbändern, die ich früher schon als Leine für ihn benutzt hatte. Sie waren noch da. Bob bekam die Behelfsleine umgebunden, denn es war zu gefährlich, ihn an dieser belebten Kreuzung von Tottenham Court Road und Oxford Street frei laufen zu lassen. Die Menschenmassen von Touristen, Leuten auf Shoppingtour und anderen, die ihrem Tagesgeschäft nachgingen, war Bob schließlich nicht gewöhnt. In diesem Getümmel hätte ich ihn leicht verlieren können. Im schlimmsten Fall wäre er noch von einem Bus oder Taxi überfahren worden.

Tatsächlich wirkte er nun doch etwas eingeschüchtert. Ein fremdes Revier, viele vorbeihastende Beine und keinerlei schützende Zufluchtsstellen in Sicht – zumindest nahm ich an, dass er so etwas dachte. Ich bahnte uns einen Weg durch die Menge. Seine Anspannung war deutlich zu erkennen, weil er ständig hilfesuchend zu mir aufsah. Es wurde Zeit, aus dem Gewühl zu verschwinden. Ich wollte über die ruhigeren Nebenstraßen nach Covent Garden. »Na, Bob, dann wollen wir mal abbiegen!«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

Aber es half nichts, er fühlte sich weiterhin unbehaglich. Er lief zwar ohne Bocken und Zerren neben mir her, aber ich konnte die flehenden Blicke, die er mir dauernd zuwarf, nicht länger ertragen. Er wollte auf meine Schulter. »Okay, aber lass das nicht zur Gewohnheit werden!«, gab ich nach. Ich setzte ihn auf meine Schulter, wie beim Überqueren der Tottenham High Road. Schnell fand er eine bequeme Position: Hinterteil und Hinterpfoten auf meinem rechten Schulterblatt, seine linke Körperseite wärmte meine Halsbeuge, und mit den Vorderpfoten stützte er sich auf meinem rechten Oberarm ab. Von vorne sah er aus wie ein Späher im Aussichtskorb eines Piratenschiffes. Ich verbiss mir ein Lachen, weil ich mir vorkam wie Long John Silver. Nur hatte ich statt einem Papagei einen Kater auf der Schulter.

Sofort fühlte sich Bob wieder stark und sicher. Ich spürte sein leichtes Schnurren an meinem Hals, während ich weiter Richtung Covent Garden marschierte.

Hier in den Nebenstraßen waren nicht so viele Menschen unterwegs, und mit der Zeit vergaß ich vollkommen, dass Bob auf meiner Schulter saß. Mit den Gedanken war ich bereits bei der Arbeit und ging die üblichen Fragen durch: Würde es das Wetter zulassen, mindestens fünf Stunden zu spielen? Wahrscheinlich schon. Der Himmel war zwar bedeckt, aber die Wolken waren weiß und weit weg. Es würde wohl kaum regnen. Auf welches Publikum würde ich heute in Covent Garden treffen? Kurz vor Ostern waren schon viele Touristen in der Stadt. Wie lange würde es heute dauern, die 20 bis 30 Pfund zu verdienen, die mir – und jetzt natürlich auch Bob – reichen würden, um für die nächsten Tage einkaufen zu können? Beim letzten Mal hatte ich dafür fast fünf Stunden lang Gitarre spielen müssen. Mal sehen, vielleicht hatten wir heute Glück, vielleicht auch nicht. So ist das, wenn man sein Geld als Straßenmusiker verdient – man hat kein festes Einkommen und weiß nie, was kommt.

Ich war tief in Gedanken versunken, als mir plötzlich auffiel, dass wir angestarrt wurden. Normalerweise wurde ich nicht beachtet, kein Mensch würdigte mich eines Blickes. Ich war nur einer von vielen Straßenmusikern in London und als solcher immer noch unsichtbar. Ich war ein heruntergekommener Typ, den man meidet und dem man möglichst aus dem Weg geht.

Aber als ich an diesem Nachmittag die Neal Street entlang ging, wurde ich plötzlich wahrgenommen. Jeder, der uns entgegenkam, sah mir direkt ins Gesicht. Oder besser gesagt, die Leute starrten auf Bob.

Zuerst registrierte ich nur ein paar ungläubige und irritierte Blicke. Das konnte ich niemandem übel nehmen. Wir waren schon ein seltsames Paar: Ein großer, langhaariger Typ mit einem roten Kater auf der Schulter. Sogar für London etwas ungewöhnlich.

Aber die meisten Leute reagierten wohlwollend. Bob zauberte ein Lächeln auf die meisten Gesichter der Passanten, die uns entgegenkamen. Es dauerte nicht lange, und wir wurden zum ersten Mal angesprochen.

»Ah, lasst euch ansehen!«, rief eine gut gekleidete Dame mittleren Alters, die uns voll bepackt mit edlen Einkaufstüten entgegenkam. »Der ist aber süß! Darf ich ihn mal streicheln?«

»Aber ja!« Warum sollte ich es nicht erlauben? Eine Streicheleinheit von einer Fremden würde Bob schon nicht schaden, dachte ich.

Sie ließ ihre Tüten fallen und schmiegte ihr Gesicht ganz nahe an Bobs Katerkopf.

»Oh, bist du ein hübscher Kerl!«, schmeichelte sie ihm. »Es ist doch ein Junge, oder?«

Ich brachte ein verdattertes »Ja« heraus, denn so viel Nähe war ich wirklich nicht gewöhnt.

»Wie er da auf Ihrer Schulter sitzt! So brav! So etwas sieht man nicht oft. Der fühlt sich aber wirklich wohl bei Ihnen, nicht wahr?«

Kaum hatte sich die Dame verabschiedet, hielten uns zwei junge Mädchen auf. Auch sie wollten Bob streicheln. Es waren zwei Teenies aus Schweden, die in London Urlaub machten.

»Wie heißt er denn? Dürfen wir ein Foto machen?«, überhäuften sie mich mit Fragen. Kaum hatte ich genickt, knipsten sie auch schon wild drauflos.

»Er heißt Bob«, gab ich Auskunft.

»Ah, Bob. Cooler Name!«

Wir unterhielten uns noch ein Weilchen. Eine der beiden hatte selbst eine Katze und sogar ein Foto dabei. Nachdem ich es ausgiebig bewundert hatte, entschuldigte ich mich höflich. Die Mädchen hätten Bob sonst noch stundenlang geknuddelt.

Ich wollte die Neal Street entlang Richtung Long Acre. Aber wir kamen nicht weit. Kaum war ein Bewunderer weg, stand schon der nächste vor uns, und der nächste, und der nächste … . Nach jedem Schritt war wieder jemand da, der Bob streicheln und mit ihm reden wollte.

Mein Stolz auf meinen beliebten Freund verflog mit der Erkenntnis, dass wir so unser Ziel nie erreichen würden. Normalerweise brauchte ich zehn Minuten von der Bushaltestelle bis zu meinem Lieblingsplatz in Covent Garden. Jetzt waren wir bereits eine halbe Stunde unterwegs und noch nicht mal in der Nähe des ehemaligen Blumenmarktes.

Erst gegen drei Uhr nachmittags erreichten wir endlich und mit einer geschlagenen Stunde Verspätung die U-Bahn-Station.

Vielen Dank auch, Bob, wetterte ich in Gedanken. Du kostest mich mit deinem Charme ein paar Pfund Tageseinnahme. Aber richtig böse konnte ich mal wieder nicht sein.

Trotzdem war die Lage ernst. Wenn Bob mich jeden Tag so aufhielt, konnte ich ihn nicht mehr mitnehmen, überlegte ich. Aber diesen Vorsatz würde ich ganz schnell wieder aufgeben.

Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits seit eineinhalb Jahren in Covent Garden als Straßenmusiker unterwegs, täglich von zwei Uhr nachmittags bis circa acht Uhr abends. Meiner Erfahrung nach war das die beste Zeit, um sowohl Touristen als auch Leute zu treffen, die vom Einkaufen oder von der Arbeit kamen. Am Wochenende fing ich früher an und spielte über die Mittagszeit. Donnerstag, Freitag und Samstag machte ich Spätschicht, denn das waren die Ausgehtage der Londoner.

Ich hatte gelernt, mich nach meinem Publikum zu richten und genau dann und dort zu spielen, wo viele unterwegs waren. Der Gehweg auf der James Street, genau vor dem Ausgang der U-Bahn-Station Covent Garden, war mein Stammplatz. Dort war bis 18.30 Uhr immer viel los. Danach graste ich die Pubs ab, weil die Leute zum Rauchen und Trinken meist vor den Lokalen standen. In den Sommermonaten, wenn sich die Geschäftsleute nach einem harten Arbeitstag bei Bier und Zigaretten in der Abendsonne entspannten, waren sie meist auch in Spendierlaune.

Aber es war nicht alles eitel Sonnenschein. Manche Leute reagierten sehr ungehalten, wenn ich sie ansprach. Pöbeleien wie »Verpiss dich, du Schnorrer!« oder »Such dir einen richtigen Job, du faules ****« waren leider auch an der Tagesordnung. Aber so war das nun mal. Ich hatte mich daran gewöhnt und mir ein dickes Fell zugelegt. Es gab genug Leute, die meine Musik mochten und mir dafür ein Pfund zusteckten.

Meine Auftritte auf der James Street waren leider nicht ganz legal, denn mein Lieblingsplatz lag außerhalb der Zone für Straßenmusiker. Covent Garden war von den Behörden für Straßenkünstler in Kleinkunstviertel aufgeteilt. Die Verwaltung obliegt dem Stadtrat, dessen Mitarbeiter penibel auf die Einhaltung dieser Einteilung achten. Wir nennen diese Leute »Covent Guardians«, die Wächter von Covent Garden.

Der Platz, auf dem ich offiziell spielen durfte, lag im Osten des Viertels, in der Nähe des Royal Opera House und der Bow Street. Für die Covent Guardians ist das der Bereich für die Straßenmusiker. Die Westseite von Covent Garden war den Straßenkünstlern zugesprochen worden. Aber die Jongleure und Alleinunterhalter bevorzugten den Platz vor dem Punch and Judy, einem Pub mit ziemlich grobem Publikum, das sich aber gern unterhalten ließ.

In der James Street, wo ich am liebsten spielte, sollten eigentlich nur die menschlichen Statuen ihrem Erwerb nachgehen. Es gab einen Charlie Chaplin, der echt was drauf hatte, aber er war sehr selten da. Meist war sein Platz leer und nach meinem Verständnis somit frei für mich. Die Covent Guardians konnten mich natürlich jederzeit vertreiben, aber das Risiko ging ich gerne ein. Die Stelle war einfach ideal, weil die U-Bahn im Zehnminutentakt Horden von Passagieren ausspuckte. Wenn mir nur einer von tausend etwas in den Gitarrenkasten warf, konnte ich davon leben.

Es war kurz nach drei, als wir endlich an meinem Stammplatz ankamen. Gerade als ich in die James Street einbiegen wollte, wurden wir zum -zigten Mal angesprochen, diesmal von einem jungen Schwulen, der offenbar gerade aus dem Fitnessstudio kam. Jedenfalls trug er ziemlich verschwitzte Sportklamotten.

Er knuddelte Bob fast zu Tode und fragte tatsächlich – ich glaube, es war ein Scherz – ob er mir Bob abkaufen könnte.

»Oh nein, der ist nicht zu verkaufen«, wehrte ich höflich ab. Nur zur Sicherheit, falls er es doch ernst meinte. Als wir endlich weitergehen konnten, murmelte ich Bob kopfschüttelnd ins Fell: »So was gibt es nur in London, mein Freund! Nur in London!«

Als wir schließlich angekommen waren, peilte ich vorsichtig die Lage. Kein Covent Guardian in Sicht. Manchmal vertrieben mich auch die Sicherheitsleute des U-Bahnhofs, die natürlich auch die amtliche Einteilung kannten. Aber auch von denen war keiner in Sicht.

Ich setzte Bob auf den Gehweg, ganz hinten an die Mauer, öffnete den Reißverschluss meiner Gitarrentasche und zog meine Jacke aus. Es konnte losgehen.

Meistens brauchte ich um die zehn Minuten, bis ich die Gitarre gestimmt hatte, anfing zu spielen und die Aufmerksamkeit der vorbeihastenden Leute auf mich gelenkt hatte. Aber an diesem Tag war alles anders. Noch bevor ich den ersten Ton angeschlagen hatte, verlangsamten ein paar Leute ihr Tempo und warfen mir ein paar Münzen in den Gitarrenkasten. Wie großzügig, dachte ich, konzentrierte mich aber weiter auf das Stimmen meiner Gitarre. Und so dauerte es eine Weile, bis bei mir der Groschen fiel.

Ich stand mit dem Rücken zu den Leuten, hörte aber weiterhin das klimpernde Geräusch von Münzen, die beim Wurf in meinen Gitarrenkasten aufeinanderprallten. Erst als ich eine männliche Stimme hörte: »Hey, tolle Katze!«, drehte ich mich um. Vor mir stand ein junger Mann in Jeans und T-Shirt, der mir das »Daumen-hoch«-Zeichen zeigte und gleich darauf mit breitem Grinsen in der Menge verschwand.

Verdutzt sah ich nach unten und fand die Erklärung für die plötzliche Spendenfreudigkeit meiner Mitmenschen: Bob hatte sich mitten im leeren Gitarrenkasten gemütlich zusammengerollt. Ganz unbewusst hatte er sich charmant in Szene gesetzt. Der Anblick war herzerweichend!

Gitarre spielen habe ich mir als Teenager in Australien so gut wie selbst beigebracht. Freunde zeigten mir die verschiedenen Griffe, und ich habe so lange geübt, bis ich diverse Stücke spielen konnte. Da war ich etwa fünfzehn oder sechzehn. Das ist ziemlich spät, um ein Instrument zu erlernen. In einem Second-Hand-Laden in Melbourne kaufte ich mir eine E-Gitarre. Davor hatte ich nur auf den Akustik-Gitarren von Bekannten geübt. Aber ich wollte unbedingt eine elektrische, weil ich ein großer Fan von Jimi Hendrix war. Ich wollte genauso gut werden wie dieser fantastische Musiker.

Zu meiner Auswahl an Songs, die ich mir für meine Vorstellungen auf der Straße zusammengestellt hatte, gehörten viele alte Nummern, die ich seit Jahren gerne spielte. Kurt Cobain war auch einer meiner Helden, also spielte ich diverse Nirvana-Songs. Aber auch Bob Dylan und Johnny Cash. Eines der beliebtesten Stücke in meinem Repertoire war Hurt. Im Original von Nine Inch Nails, aber ich bevorzugte die Cover-Version von Johnny Cash, einem akustischen Stück. Auch Man in Black von Johnny Cash gehörte dazu. Ein tolles Stück für jeden Straßenmusiker, und es passte so gut zu mir, weil ich immer schwarz gekleidet war. Am besten kam jedoch Wonderwall von Oasis an. Dafür gab es immer die meisten Münzen, besonders abends, wenn ich die Pubs abklapperte.

Ich spielte fast immer dasselbe, tagein, tagaus. Die Leute wollten das so. Auch den Touristen gefiel meine Musikauswahl. Meist begann ich mit About a Girl von Nirvana, um meine Finger zu lockern. So auch an diesem Tag, als Bob vor mir saß und seelenruhig die vorbeiziehenden Massen beobachtete, die aus der U-Bahn-Station strömten.

Schon nach ein paar Minuten blieben ein paar Jugendliche bei uns stehen. Offenbar waren sie aus Brasilien, denn sie trugen alle brasilianische Fußballtrikots und sprachen portugiesisch. Ein Mädchen aus der Gruppe beugte sich vor und begann, Bob zu streicheln. »Ah, gato bonita«, hörte ich.

»Sie sagt, du hast eine wunderschöne Katze«, übersetzte einer der Jungs. Die Jugendlichen auf Bildungsreise in London waren fasziniert von Bob. Immer mehr Leute blieben stehen. Manche aus reiner Neugier, weil sie wissen wollten, was es da Besonderes zu sehen gäbe. Mindestens sechs der jungen Brasilianer und auch viele andere Passanten kramten in ihren Taschen nach Kleingeld. Ein wahrer Münzregen ergoss sich in meine Gitarrentasche rund um Bob.

»Hey, Bob, du machst dich gut als Partner! Du kannst gern öfter mitkommen«, grinste ich anerkennend.

Da Bobs Anwesenheit nicht geplant gewesen war, hatte ich nur meine Standardration an Leckerchen in meinem Rucksack. Davon steckte ich ihm zwischendurch immer wieder ein paar zu. Auf eine richtige Mahlzeit musste er genauso warten wie ich.

Am frühen Abend spuckte die U-Bahn die zur Stoßzeit üblichen Horden aus: Leute, die von der Arbeit kamen oder im Westend ausgehen wollten. Unglaublich viele von ihnen verlangsamten an diesem Tag ihren Schritt und beäugten verwundert die Katze im Gitarrenkasten. Bob war ein kleiner Publikumsmagnet.

Es wurde schon dunkel, als eine gut gekleidete Dame in den Vierzigern stehen blieb, um ein paar Worte mit mir zu wechseln.

»Wie lange haben Sie ihn schon?«, fragte sie, während sie sich zu Bob hinunterbeugte, um ihn zu streicheln.

»Oh, erst seit ein paar Wochen«, antwortete ich. »Wir haben uns zufällig gefunden.«

»Ihr habt euch gefunden? Das klingt aber interessant!«

Ich wurde misstrauisch. Vielleicht war sie ja eine Tierschützerin, die mir gleich erzählen würde, dass ich kein Recht hatte, ihn zu behalten, oder ähnliches. Aber ich tat ihr Unrecht. Sie war nur eine echte Katzenliebhaberin. Lächelnd hörte sie zu, als ich ihr kurz berichtete, wo ich ihn gefunden hatte und wie ich ihn erst einmal gesund gepflegt hatte.

»Ich hatte auch mal so einen roten Kater«, verriet sie mir und sah dabei ganz traurig aus. Einen Moment fürchtete ich, sie würde in Tränen ausbrechen. »Sie sollten sich glücklich schätzen, dass er Ihnen zugelaufen ist. Katzen sind wunderbare Gefährten. Sie sind beruhigend und klug. Sie haben jetzt einen wahren Freund an Ihrer Seite«, sagte sie.

»Ja, da haben Sie wohl recht«, erwiderte ich lächelnd.

Sie legte tatsächlich fünf Pfund in den Gitarrenkasten, bevor sie weiterging.

Frauen waren besonders angetan von Bob. An diesem Tag waren bestimmt 70 Prozent unserer Spender weiblich.

Bereits nach einer Stunde hatten wir so viel eingenommen, wie ich sonst an einem guten Tag einspielte – über 25 Pfund!

Das ist ja fantastisch, dachte ich.

Aber ich hatte das Gefühl, wir sollten weitermachen. Ich wollte versuchen, unsere Glückssträhne auf den Abend auszudehnen, weil ich immer noch an Bob zweifelte. Obwohl ich mich langsam mit dem Gedanken anfreundete, dass der Kater und ich füreinander bestimmt waren, gab es immer noch eine warnende innere Stimme, die mir fortwährend zuflüsterte: »Eines Tages verschwindet er aus deinem Leben, um seinen eigenen Weg zu gehen.« Verständlich, oder? So, wie er plötzlich in meinem Leben aufgetaucht war, würde er irgendwann wieder abtauchen. Oder sollte ich wirklich mal Glück haben im Leben? Viele Passanten blieben stehen, um Bob zu bewundern und zu streicheln. Ich beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen. Heu ernten, solange die Sonne scheint, oder so ähnlich.

Solange er gerne mitkommt und Spaß hat an unseren Ausflügen, werde ich es genießen, nahm ich mir vor. Und wenn ich dabei auch noch ein bisschen mehr verdiene, freue ich mich einfach darüber.

Am Ende des Abends war die Überraschung perfekt. Gewöhnlich erspielte ich mit meiner Gitarre etwa 20 Pfund pro Tag. Das reichte, um Lebensmittel zu kaufen und die sonstigen Ausgaben für die Wohnung abzudecken. Als ich an diesem Abend gegen acht Uhr Feierabend machte, waren viel mehr Münzen in meinem alten Gitarrenkasten, als ich je auf einem Haufen gesehen hatte. Ich brauchte ganze fünf Minuten, um all das Kleingeld vor mir zu zählen. Vor mir lagen Hunderte von Münzen in allen Größen und sogar mehrere Scheine.

Als ich endlich alles mühsam zusammengezählt hatte, schüttelte ich ungläubig den Kopf. An diesem Tag war die stattliche Summe von 63,77 Pfund zusammengekommen. Für die meisten Leute war das vielleicht nicht viel, aber für mich war es ein kleines Vermögen.

Ich schaufelte die Münzen mit den Händen in meinen Rucksack und warf ihn mir über die Schulter. Er war richtig schwer, und die Münzen klimperten in seinem Bauch wie in einem Riesen-Sparschwein. Ich war völlig aus dem Häuschen. So viel hatte ich als Straßenmusiker noch nie verdient. Dreimal so viel wie sonst an einem Tag!

Ich nahm Bob auf den Arm und kraulte ihm den Nacken. »Das hast du toll gemacht, mein Großer!«, lobte ich. »Das nenne ich einen gelungenen Arbeitstag!«

An diesem Abend konnte ich mir die Tour entlang der Pubs sparen. Außerdem waren wir beide ausgehungert. Wir mussten schnell nach Hause.

Auf dem Weg zur Busstation saß Bob wieder auf meiner Schulter. Ich war nicht unhöflich, aber ich ließ mich auf keine Gespräche mehr ein mit all den Leuten, die stehen blieben und uns anlächelten. Es ging nicht. Es waren einfach zu viele, und ich wollte möglichst noch vor Mitternacht zu Hause zu sein.

»Heute gönnen wir uns ein ganz besonderes Abendessen«, versprach ich Bob, als wir im Bus nach Tottenham einen Platz gefunden hatten. Aber mein Ladykiller hörte mir kaum zu und drückte sich lieber wieder die Nase am Fenster platt. Fasziniert beobachtete er die vorbeifliegenden hellen Lichter und den Verkehr.

Wir stiegen zwei Stationen früher aus als sonst. Ganz in der Nähe dieser Haltestelle auf der Tottenham High Road lag ein sehr gutes indisches Restaurant. Wie oft war ich daran schon vorbeigegangen! Bisher hatte es immer nur zum Lesen der verführerischen Karte gereicht, leisten konnte ich mir die köstlich klingenden Gerichte nie. Sie waren einfach zu teuer. Mehr als ein billiges Curry vom Take-Away-Inder aus der Nachbarschaft war nie drin gewesen.

Heute trat ich ein und bestellte, was mein Herz begehrte: Hühnchen Tikka Masala mit Zitronenreis, Saag Paneer als Beilage und Peshawari Naan zum Nachtisch. Die Kellner warfen mir komische Blicke zu, als sie Bob an der Leine neben mir entdeckten, also teilte ich den Herren mit, dass ich alles in zwanzig Minuten abholen würde. Ich wollte mit Bob in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Auch er sollte heute schlemmen. Ich kaufte für ihn ein paar Beutel von dem teuren Katzenfutter, zwei Packungen von seinem Lieblingstrockenfutter und Katzenmilch. Mir gönnte ich ein gutes Bier.

»Heute lassen wir’s krachen, Bob«, teilte ich ihm mit. »Das war ein denkwürdiger Tag!«

Nachdem ich unser Essen abgeholt hatte, rannte ich so schnell wie möglich mit Gitarre, schwerem Rucksack, Bob und den Tragetaschen aus dem Nobelrestaurant nach Hause. Mein Magen knurrte wie verrückt, denn aus der Tüte stiegen köstliche Düfte in meine Nase. Zu Hause verschlangen Bob und ich unser Gourmet-Mahl, als hätten wir seit Monaten nichts gegessen. Tatsächlich hatte ich seit Ewigkeiten, vielleicht Jahren, nicht mehr so gut gegessen. Und Bob sicher auch nicht.

Danach machten wir es uns richtig gemütlich, ich vor dem Fernseher auf der Couch und Bob auf seinem Lieblingsplatz unter der Heizung. In dieser Nacht schliefen wir beide wie die Murmeltiere.