Katze.jpg

18

Die Heimreise

Ich hätte nicht gedacht, dass Bob und ich uns noch näher kommen könnten. Aber die beiden Horrornächte hatten uns tatsächlich noch inniger aneinander gebunden. In den nächsten Tagen klebte Bob an mir wie ein Magnet. Er passte auf mich auf, als hätte er Angst vor einem Rückfall.

Dabei ging es mir so gut wie seit Jahren nicht mehr. Allein der Gedanke an die dunklen Zeiten der Abhängigkeit jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, würde es keinen Rückfall mehr geben.

Zur Feier meines persönlichen Erfolges wollte ich mein Apartment renovieren. Dafür arbeiteten Bob und ich jeden Tag ein bisschen länger an der U-Bahn-Station. Mit dem so verdienten Extrageld kaufte ich Farbe, ein paar passende Kissen und ein paar Bilder für die kahlen Wände.

Dazu erstand ich noch eine neue Couch aus einem Second-Hand-Möbelhaus in Tottenham. Der Bezug war aus schwerem weinrotem Stoff, der mit ein bisschen Glück den scharfen Krallen von Bob standhalten würde. Das alte Sofa war nur noch schäbig, und das leider nicht nur aus Altersgründen: Bob hatte sich an den Sofabeinen und auf der Sitzfläche mit Genuss die Krallen geschärft. Ab sofort war ein derartiges Benehmen strengstens verboten.

Die Wochen vergingen, und die Nächte wurden länger und kälter. Bob und ich verbrachten immer mehr Zeit auf unserem kuscheligen neuen Sofa. Ich freute mich schon auf unser nächstes gemeinsames Weihnachtsfest. Aber wieder einmal kam alles ganz anders.

Außer Rechnungen bekam ich kaum Post. Deshalb fiel mir der Umschlag sofort auf, der eines Morgens im November 2008 in meinem Briefkasten lag. Es war ein Luftpost-Brief mit einem Poststempel aus Tasmanien, der Insel vor der Südküste Australiens. Er kam von meiner Mutter.

Wir hatten seit Jahren kaum Kontakt, aber trotz der Entfremdung zwischen uns waren ihre Zeilen unterhaltsam und liebevoll. Sie erzählte von ihrem Umzug in ein neues Haus in Tasmanien, und sie schien glücklich zu sein.

Der Grund für diesen Brief war eine Einladung.

»Würdest du mich über Weihnachten besuchen, wenn ich dir den Flug bezahle?«, wollte sie wissen. Außerdem schlug sie vor, einen Abstecher nach Melbourne zu meinen Paten zu machen, die wichtiger Bestandteil meiner Jugend gewesen waren.

»Sag mir Bescheid«, beendete sie den Brief. »In Liebe, Mam.«

Früher hätte ich diesen Brief sofort in den Müll geworfen. Ich war trotzig, störrisch und viel zu stolz, um ein Almosen meiner Familie anzunehmen. Aber ich hatte mich geändert. Mein Kopf war klar, ich sah das Leben jetzt mit anderen Augen, und ich konnte förmlich spüren, wie all die Wut und der Ärger, die ich so lange mit mir herumgeschleppt hatte, von mir abfielen. Ich wollte zumindest über ihr Angebot nachdenken.

Ich machte mir die Entscheidung nicht leicht, denn es galt, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Natürlich wäre es fantastisch, meine Mutter wiederzusehen. Egal, welche Probleme wir über die Jahre miteinander gehabt hatten, sie war meine Mutter, und ich vermisste sie sehr.

Seit ich abgerutscht und auf der Straße gelandet war, hatten wir nur noch wenig Kontakt. Ich war auch nie ehrlich zu ihr gewesen; sie hatte keine Ahnung, was aus mir geworden war. In den letzten zehn Jahren hatten wir uns nur einmal getroffen, im Jahr 2000, als sie kurz in England gewesen war. Da hatten wir uns in einem Pub in Epping Forest getroffen und fast vier Stunden miteinander verbracht.

Als ich vor zehn Jahren nach der vereinbarten Zeit nicht zurück nach Australien gekommen war, hatte ich für sie eine Geschichte erfunden: Ich könne nicht nach Hause kommen, weil ich eine Band gegründet hätte und wir gerade versuchten »groß rauszukommen«.

Dabei blieb ich auch, als ich sie Jahre später wiedertraf. Ich fühlte mich schrecklich, ihr diese Lügenmärchen aufzutischen, aber ich hatte weder den Mut noch die Kraft, ihr zu gestehen, dass ich obdachlos und heroinabhängig war und nichts anderes tat, als mein Leben zu vergeuden.

Ich hatte keine Ahnung, ob sie mir glaubte. Damals war mir alles egal. Danach rief ich sie nur noch selten an und meldete mich oft monatelang nicht bei ihr, obwohl ich wusste, dass sie sich Sorgen machte.

Manchmal hat sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich zu erreichen. Wie nach den Bombenanschlägen am 7. Juli 2005. Zum Glück war ich nicht in der Nähe gewesen, aber meine Mutter – am anderen Ende der Welt – hatte davon natürlich keine Ahnung. Ich kam nicht auf die Idee, sie deshalb anzurufen. Ihr Lebensgefährte Nick arbeitete damals bei der Polizei in Tasmanien. Irgendwie hat er es geschafft, einen Londoner Kollegen zu überreden, nach mir zu suchen. Über die Polizeiakten fanden sie meinen Aufenthaltsort heraus und schickten zwei Polizisten in meine Notunterkunft in Dalston.

Sehr früh morgens trommelten sie mit den Fäusten an meine Tür und erschreckten mich fast zu Tode.

»Keine Angst, Sie haben nichts verbrochen«, beschwichtigte mich einer der beiden, als ich die Tür öffnete. Ich war noch ganz verschlafen, aber die Furcht stand mir trotzdem ins Gesicht geschrieben. »Es gibt da zwei Menschen auf der anderen Seite der Erde, die wissen möchten, ob Sie noch leben.«

Ich wollte schon sagen, dass ich eben fast vor Schreck gestorben wäre, aber dann verkniff ich mir diesen Kommentar. Die beiden wirkten nicht gerade erfreut über ihren Suchauftrag. Stattdessen kontaktierte ich meine Mutter und versicherte ihr, dass es mir gut ging. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich irgendjemand meinetwegen Sorgen machen könnte. Ich war damals wohl ziemlich gedankenlos und egozentrisch. Ich war ausschließlich mit meinem Überlebenskampf beschäftigt. Das war inzwischen anders.

Nach all den Jahren, die ich meine Mutter vernachlässigt und hintergangen hatte, war diese Einladung meine Chance, etwas wiedergutzumachen. Die Zeit war gekommen, ihr endlich die Wahrheit zu sagen.

Außerdem würde mir nach all den Jahren in London und der ständigen Nachtarbeit ein Urlaub in der Sonne extrem guttun. Die Umstellung auf das neue Medikament hatte doch an meinen Kräften gezehrt. Ein paar Wochen in wärmeren Gefilden wären schon eine gute Sache. Meine Mutter hatte geschrieben, dass sie auf einem kleinen Bauernhof mit vorbeifließendem Bach im Niemandsland wohnte. Welch herrlicher Kontrast zur Großstadt London! Australien, oder besser gesagt: die Schönheit der australischen Landschaft, hatte mich schon als Kind tief beeindruckt. Eine Rückkehr dahin wäre Balsam für meine geschundene Seele.

Ja, die Liste mit den Vorteilen war lang. Aber die mit den Nachteilen leider noch länger. Und ganz oben auf der Liste, die gegen einen Urlaub in Australien sprach, stand: Bob!

Wer sollte sich um ihn kümmern? Woher sollte ich wissen, ob er auf mich warten würde? Wollte ich wirklich wochenlang von meinem Seelenverwandten getrennt sein?

Die erste dieser Fragen erledigte sich schneller, als ich dachte.

Kaum hatte ich Belle von der Einladung meiner Mutter erzählt, erklärte sie sich bereit, Bob zu sich zu nehmen. Sie war die ideale Bob-Sitterin, und ich vertraute ihr blind. Aber ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie Bob meine Abwesenheit verkraften würde. Ein weiteres Problem war das Geld. Auch wenn meine Mutter für das Flugticket aufkommen würde, brauchte ich Geld, um überhaupt einreisen zu dürfen. Ich hatte mich umgehört und erfahren, dass man mindestens 500 Pfund dabei haben musste, um ins Land gelassen zu werden.

Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht und tatsächlich ein paar Tage und Nächte hin und her überlegt. Letztendlich wollte ich fliegen. Warum auch nicht? Ein bisschen Abwechslung und Sonnenschein würden mir guttun.

Es war noch so viel zu erledigen! Vor allem brauchte ich einen neuen Reisepass. Das war gar nicht so leicht mit meiner Vergangenheit, aber dank der Hilfe eines Sozialarbeiters konnte ich all die nötigen Papiere, inklusive einer neu ausgestellten Geburtsurkunde, vorlegen.

Dann musste ich den Flug buchen. Air China hatte das beste Angebot. Von London nach Peking und von dort aus weiter nach Melbourne. Es würde länger dauern als mit jeder anderen Fluggesellschaft, und der Zwischenstopp in Peking dauerte ewig. Aber es war bei Weitem das günstigste Angebot. Meine Mutter hatte mir inzwischen ihre E-Mail-Adresse gegeben, und so sandte ich ihr auf diesem Weg alle nötigen Informationen sowie meine Passnummer. Ein paar Tage später erhielt ich, ebenfalls per E-Mail, die Buchungsbestätigung. Soweit war alles geregelt.

Jetzt fehlten mir nur noch die 500 Pfund. Ich hatte noch einen Monat Zeit bis zu meinem Abflug. Um das Geld aufzubringen, arbeitete ich von früh bis spät, sieben Tage die Wochen und bei jedem Wetter. Bob war fast immer dabei; nur wenn es stark regnete, ließ ich ihn zu Hause, nicht nur wegen seiner Abneigung gegen Regen, sondern vor allem, weil ich Angst hatte, er könne sich vor meiner Abreise noch erkälten. Einen kranken Bob hätte ich nie und nimmer allein gelassen.

Jeder Cent, den ich übrig hatte oder den ich mehr verdiente, wanderte in eine kleine Blechdose, die ich gefunden hatte. Langsam aber sicher füllte sie sich. Kurz vor meinem Abflugdatum hatte ich das nötige Bargeld zusammen. Ich konnte tatsächlich fliegen.

Am Tag meiner Abreise fuhr ich schweren Herzens zum Londoner Flughafen Heathrow. Ich hatte mich in Belles Wohnung von Bob verabschiedet. Für ihn war das bei Weitem nicht so schlimm wie für mich. Woher sollte er schließlich wissen, dass ich für sechs Wochen verschwand? Mir war völlig klar, dass er bei meiner Freundin bestens aufgehoben war, aber Sorgen machte ich mir trotzdem. Ich war eine echte Glucke geworden, wenn es um Bob ging.

Ich hatte einen angenehmen und entspannten Flug erwartet, aber da war ich auf dem Holzweg. Ich war sechsunddreißig Stunden unterwegs und hatte nichts als Probleme.

Dabei fing alles ganz gut an. Der Flug nach Peking mit der Air China dauerte elf Stunden und verlief ohne Zwischenfälle. Ich sah mir den Bordfilm an und nahm eine Mahlzeit zu mir. Leider konnte ich nicht schlafen, weil ich mich ziemlich mies fühlte. Das lag nur zum Teil an meinen Tabletten; vor allem war das schlechte Londoner Wetter daran schuld. Ich hatte wohl zu viele Stunden im strömenden Regen gestanden, um The Big Issue zu verkaufen. Und so war ich plötzlich erkältet und schniefte und nieste den gesamten Flug über. Bei einer nicht mehr enden wollenden Nies-Attacke erntete ich zwar ein paar schräge Blicke der Stewardessen und Passagiere um mich herum, aber bis Peking kümmerte mich das wenig.

Als wir auf dem Flughafen ausrollten, machte der Kapitän über das Bordmikrofon eine Durchsage, erst in Chinesisch, dann in Englisch: Wir wurden aufgefordert, bis auf Weiteres sitzen zu bleiben.

Seltsam, dachte ich noch.

Dann kamen zwei uniformierte Chinesen mit Gesichtsmasken an Bord. Sie gingen durch den Mittelgang und steuerten direkt auf mich zu. Bei mir angekommen, blieben sie vor mir stehen, und einer der beiden hielt mir ein Fieberthermometer hin.

Eine Stewardess war aus dem Nichts aufgetaucht und übersetzte: »Die Herren sind von der chinesischen Regierung. Sie müssen Ihre Temperatur messen.«

»Okay«, erwiderte ich verdutzt. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für Widerworte, das war offensichtlich.

Sie schoben mir das Thermometer in den Mund und warteten. Die beiden Beamten sahen immer wieder auf die Uhr. Dann nuschelten sie etwas in Landessprache, und die Stewardess übersetzte: »Sie müssen die beiden Männer begleiten. Sie wollen ein paar Routine-Untersuchungen machen.«

Damals war der Hype um die Schweinegrippe gerade auf dem Höhepunkt, und China war geradezu panisch darauf bedacht, sie nicht ins Land einschleppen zu lassen. Erst vor ein paar Tagen hatte ich einen Bericht darüber gesehen, dass China bei dem geringsten Verdacht auf Infektion die Passagiere nicht einreisen ließ. Sie wurden für Tage in Quarantäne festgehalten.

Mit mulmigem Gefühl folgte ich den beiden Gesundheitswächtern. Ich sah mich bereits meinen Urlaub in einer chinesischen Quarantäne-Zelle verbringen.

Sie nahmen alle möglichen Proben von mir, von Blut über Speichel bis Urin. Wahrscheinlich fanden sie alle möglichen interessanten Dinge – aber weder das Schweinegrippen-Virus noch Sars oder sonstige ansteckenden Krankheiten. Zwei Stunden später wurde ich von einem gleichgültigen Beamten entlassen. Wie ich nun zu meinem Anschlussflug kommen sollte, schien niemanden zu interessieren. Der Flughafen von Peking gleicht einem riesigen Flugzeughangar, in dem ich völlig orientierungslos herumirrte.

Mir blieben noch drei Stunden, um mein Gepäck einzusammeln und meinen Anschlussflug ausfindig zu machen. Ich war seit Jahren auf keinem Flughafen mehr gewesen und hatte ganz vergessen, wie groß und seelenlos sie waren. Vor allem dieser: Es gab eine Zugverbindung von einem Teil von Terminal 3 zum anderen.

Erst eine Stunde vor Abflug fand ich meinen Anschlussflug. Als ich mich endlich auf meinem Sitzplatz zurücklehnen konnte, seufzte ich erleichtert auf. Total erschöpft durch die Anspannung der letzten Stunden verschlief ich den kompletten Flug nach Melbourne. Aber dort lief ich in die nächste Falle. Auf meinem Weg durch die Zollkontrolle war da plötzlich dieser Hund, ein Labrador, der gierig an meinem Gepäck schnüffelte.

»Entschuldigen Sie, Sir, würden Sie bitte mit uns kommen?«, hörte ich auch schon die Stimme seines Besitzers, eines Zollbeamten.

»Oh – mein – Gott!«, dachte ich verzweifelt. »Ich werde meine Mutter heute wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen!«

Sie führten mich in einen Untersuchungsraum. Dort durchwühlten sie zuerst meinen Koffer. Dann wurde meine Tasche mit einem elektronischen Drogentester abgetastet. Ich hatte ein Problem.

»Auf Ihrem Gepäck befinden sich Spuren von Kokain«, sagte einer der Wächter.

Ich war sprachlos und konnte mir das überhaupt nicht erklären. Weder ich noch irgendjemand, den ich kannte, nahm Kokain. Das konnte sich keiner meiner Bekannten leisten.

Zum Glück stellte sich heraus, dass eine kleine Menge für den persönlichen Gebrauch nicht strafbar war.

»Wenn Sie gelegentlich Kokain schnupfen, brauchen Sie es nur zuzugeben und wir lassen Sie laufen!«, erklärte mir der Beamte.

Nun war es an der Zeit, meine Situation offenzulegen. »Ich bin in einem Drogen-Entzugsprogramm und nehme gar nichts – weder gelegentlich, noch regelmäßig.« Dann zeigte ich ihnen den Brief von meinem Therapieleiter, der erklärte, warum ich Subutex nahm.

Sie mussten einsehen, dass sie einen Unschuldigen mitgenommen hatten. Auch hier wurde ich letztendlich entlassen. Mit einer Stunde Verspätung durfte ich endlich raus aus dem Zollbereich. Aber das war immer noch nicht das Ende meiner Reise: Ich musste noch ein Flugzeug nehmen, um nach Tasmanien zu gelangen. Als ich endlich dort ankam, war es bereits früher Abend, und ich war total geschafft.

Meine Mutter wiederzusehen war einfach wundervoll. Sie erwartete mich am Ausgang des Flugsteiges und umarmte mich lange und stürmisch. Sie weinte vor Freude; ich glaube, sie war heilfroh, mich lebend wiederzusehen.

Ich war auch sehr glücklich, sie zu sehen, aber geweint habe ich deshalb nicht.

Ihr neues Zuhause war genauso hübsch, wie sie es in ihrem Brief beschrieben hatte. Es war ein großer, geräumiger Bungalow mit einem riesigen Garten dahinter. Das Haus war von Ackerland umgeben, und die Grenze ihres Grundstückes wurde von einem Bach gezogen. Was für ein friedlicher, malerischer Ort! Perfekt zum Entspannen, Erholen und Auftanken neuer Energie. Schon nach zwei Wochen fühlte ich mich wie neugeboren. All die Sorgen ums tägliche Überleben, die mich in London quälten, waren buchstäblich Tausende von Kilometer weit weg, genauer gesagt über 16 000. Meine Mutter überhäufte mich mit mütterlicher Fürsorge und ihren Kochkünsten. Ich spürte förmlich, wie ich zu Kräften kam. Und wie meine Mutter und ich uns wieder näherkamen.

Anfangs führten wir keine tiefschürfenden Gespräche. Sie ließ mir Zeit, bis ich langsam gesprächiger wurde. Eines Abends saßen wir auf der Terrasse und genossen den Sonnenuntergang. Ich hatte schon etwas getrunken, und auf einmal sprudelte alles aus mir heraus. Es war keine überschwängliche Beichte und auch keine hollywoodreife Geschichte, aber ich redete … und redete … ohne Punkt und Komma.

Im Nachhinein hätte ich wissen müssen, dass ein solcher seelischer Dammbruch schon lange fällig war. Ich hatte jahrelang Drogen genommen, um meine Gefühle zu unterdrücken. Mehr noch, ich wollte sie abtöten, sichergehen, keine Gefühle zu haben. Aber seit Bob sich in mein Herz geschlichen hatte, hatte sich mein Gemütszustand langsam verändert. Ich konnte Gefühle wieder zulassen.

Meine Mutter starrte mich fassungslos an, als ich ihr ein paar Tiefpunkte der letzten Jahre in London schilderte. »Als ich dich am Flughafen sah, habe mir schon gedacht, dass es dir nicht besonders gut geht, aber ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm ist«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.

Während ich weiterredete, stützte sie immer wieder ihren Kopf in die Hände, brachte aber nie mehr heraus als: »Warum?«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du deinen Pass verloren hast?«

»Warum hast du mich nicht angerufen und um Hilfe gebeten?«

»Warum hast du deinen Vater nicht angerufen?«

Am Ende gab sie sich selbst die Schuld an meinem verpfuschten Leben. Sie hatte das Gefühl, mich im Stich gelassen zu haben, aber ich versicherte ihr, dass dies nicht der Fall war. Nur ich allein war schuld an meiner Misere. »Du hast nicht für mich entschieden, in Pappkartons zu schlafen und meine Nächte mit Heroin zu verbringen. Es war allein meine Entscheidung!« Ich wollte mit dieser Aussage erreichen, dass sie sich besser fühlte, aber es brachte sie zum Weinen.

Nachdem das Eis gebrochen war, konnten wir über alles reden. Auch über die Vergangenheit und meine Kindheit in Australien und England. Unsere neue Vertrauensbasis erlaubte mir, ganz ehrlich mit ihr zu reden. Ich konnte ihr vorwerfen, dass sie in meiner Kindheit nur ein unnahbarer Schatten gewesen war und dass die Kindermädchen und die vielen Umzüge mir auf lange Sicht nicht sehr gutgetan hatten.

Sie fiel aus allen Wolken, aber sie widersprach mir und erklärte – ob zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt –, sie habe schließlich für unser Einkommen und ein Dach über dem Kopf sorgen müssen. Ich verstand ihren Einwand, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ich mir immer gewünscht hatte, sie wäre mehr für mich da gewesen.

Aber nicht alle unsere Gespräche waren so ernst. Wir konnten auch viel miteinander lachen. Wir lernten uns neu kennen, fanden heraus, wie ähnlich wir uns waren, und amüsierten uns über die vielen Auseinandersetzungen, die wir im Laufe meiner Pubertät gehabt hatten.

Sie gab zu, dass unsere damaligen Konflikte sehr viel mit unser beider Ego zu tun hatten. »Wir sind beide sehr starke Persönlichkeiten. Du hast das von mir«, versuchte meine Mutter unsere Kämpfe von damals zu erklären.

Aber die meiste Zeit redeten wir über die Gegenwart. Sie wollte alles über meinen Drogenentzug wissen und welche Ziele ich mir für meine Zukunft gesetzt hatte. Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich immer noch einen Schritt nach dem anderen machen musste, aber hoffentlich im neuen Jahr endlich clean sein würde. Manchmal hörte sie einfach nur zu. Das konnte sie früher nicht besonders gut. Aber auch ich habe zuhören gelernt. Ich glaube, wir haben uns in diesem Urlaub erst richtig kennengelernt. Endlich konnte ich die lange aufgestauten Aggressionen gegen meine Mutter begraben. Ich hatte erkannt, dass unsere Kämpfe in meiner Jugend nur stattfanden, weil wir den gleichen Dickschädel hatten.

Natürlich erzählte ich auch sehr viel von Bob. Ich hatte ein Foto von ihm dabei, das ich jedem unter die Nase hielt, der nur das geringste Interesse zeigte.

»Ein kluges Kerlchen!«, lächelte meine Mutter, als sie sein Bild sah. »Oh ja, das ist er!«, grinste ich stolz. »Ich weiß nicht, was ohne Bob aus mir geworden wäre.«

Die Auszeit in Australien tat mir richtig gut. Ich konnte in Ruhe meine Gedanken ordnen und Bilanz ziehen. Was hatte ich bisher erreicht und wie sollte es weitergehen? Ein Teil von mir sehnte sich danach, ganz hierher zurückzukommen. Hier lebte meine Familie. Ich hätte hier mehr Rückhalt, ein kleines, aber wertvolles Netzwerk von Vertrauten. Einen Schatz, den ich erst jetzt zu würdigen wusste und der mir in London schmerzlich fehlen würde. Aber Bob wäre ohne mich verloren, genau wie ich ohne ihn. Und so verwarf ich den Gedanken an eine Rückkehr nach Australien schnell wieder. Bei Anbruch der sechsten Woche auf Tasmanien dachte ich nur noch an den Rückflug nach England.

Diesmal verabschiedete ich mich richtig von meiner Mutter. Sie kam mit zum Flughafen und winkte mir nach, als ich durch die Kontrolle zu meinem Flug nach Melbourne verschwand. Dort wollte ich noch ein paar Tage mit meinem Patenonkel und seiner Frau verbringen. In meiner Jugend war ich oft bei ihnen zu Besuch gewesen, und sie waren mir sehr wichtig. Früher waren sie die Eigentümer der größten privaten Telefongesellschaft Australiens gewesen, die erste Firma in Australien, die Mobiltelefone verkaufte. Sie waren damals sehr vermögend gewesen. Als Junge war ich immer ganz wild darauf gewesen, sie in ihrer Riesenvilla in Melbourne besuchen zu dürfen. Als ich mit meiner Mutter gar nicht mehr klar kam, durfte ich sogar eine Weile bei ihnen wohnen.

Auf meine kleine Lebensbeichte reagierten die beiden ähnlich schockiert wie meine Mutter. Sie boten mir finanzielle Hilfe an und wollten mich bei der Arbeitssuche in Australien unterstützen. Aber ich lehnte dankend ab und erzählte von meiner Verpflichtung namens Bob in England.

Meine Rückflüge waren viel angenehmer als meine Anreise. Ich fühlte mich besser, fitter und gesünder, und so sah ich auch aus. Diesmal fiel ich weder den Zollbeamten noch den Einwanderungsbehörden unangenehm auf. Ich war so ausgeruht und entspannt durch meine Zeit in Australien, dass ich fast die gesamte Flugzeit durchschlief.

Ich konnte es nicht mehr abwarten, Bob wiederzusehen. Gleichzeitig plagten mich Ängste, er könnte sich verändert oder mich gar vergessen haben.

Diese Sorge hätte ich mir sparen können. Kaum hatte ich Belles Wohnung betreten, sprang er vom Sofa und rannte mit steil aufgerichtetem Schwanz auf mich zu. Natürlich hatte ich ihm etwas mitgebracht, darunter auch zwei kleine ausgestopfte Kängurus. Während ich Belle von Australien erzählte, spielte er bereits hingebungsvoll mit einem der kleinen Beuteltiere.

Als wir am Abend in unser eigenes kleines Reich zurückkehrten, kletterte er sofort hoch auf meinen Arm, schmiegte sich in meine Nackenbeuge und machte es sich wie immer auf meiner Schulter bequem. In diesem Moment war meine Reise nach Australien mit all ihren Annehmlichkeiten vergessen. Die zwei Musketiere waren wieder zusammen. Bob und ich gegen den Rest der Welt – als wäre ich nie weg gewesen.