* Dreizehntes Kapitel

 

Sie stand schmal gegen das Licht der Sonne. »Er will also diesen Tutting auch, weil Tutting der Mörder ist.«

  »Ja, es sieht so aus, aber ich weiß nicht genau, wie sein Beweis aussieht.«

  »Was wird er mit Tutting machen?«

  »Ich weiß es nicht. Ich stelle mir etwas typisch Amerikanisches vor. Er geht nach Siebeneichen, schlägt den Mann zusammen, fesselt ihn und legt ihn dann seinem Boß auf den Tisch.«

  Sie dachte nach und nickte. »Wann wird er das machen?«

  »Er darf es jedenfalls nicht vor heute nacht tun. Erst müssen wir mit Tutting sprechen.«

  »Wir ahnen also, daß es Tutting war, wissen aber nicht genau, wie?«

  »Wir wissen nicht genau, warum«, korrigierte ich. »Jetzt mach dich hübsch, wir gehen essen und warten auf Lennon und Moni.«

  »Glaubst du im Ernst, die kommen?«

  »Sicher kommen sie. Amerikaner lieben den Kampf im Kampf.«

  Wir waren die einzigen Gäste im Lokal, und wir bestellten Züricher Geschnetzeltes, weil wir annahmen, daß man dabei nichts falsch machen kann. Als es kam, war es mit dicker Soße übergossen und widerlich pappig. Kein Wunder, daß die Deutschen immer dicker werden. Der Kellner, der uns bediente, sah dermaßen trübsinnig aus, daß wir nichts sagten und brav ein paar Happen aßen, um dann mitzuteilen, wir seien vollkommen satt. Als er vollkommen niedergedrückt fragte, ob es denn wenigstens geschmeckt habe, strahlte Germaine verlogen: »Phantastisch!« Da hellte sich seine Miene kurz auf, wich dann aber deutlichem Mißtrauen, weil er es wahrscheinlich in der Küche probiert hatte.

  Lennon kam, Moni im Schlepptau. Er machte keine Umschweife, trat direkt an den Tisch und stellte fest, es sei doch dumm, sich nicht zusammenzusetzen.

  »Wir hatten schon gehofft, Ihre Gesellschaft zu bekommen. Wie ist Ihnen denn Tutting in den Sinn gekommen?«

  Er grinste. »Es war die einzig brauchbare Spur, die Axel nicht versauen konnte, weil er sie nicht kannte. Es war die KFZ-Nummer LAU-BN 1, und die hängt an Tuttings Porsche.« Er blätterte in der Speisekarte. »Moni, was willst du?«

  »Nur einen Salat«, sagte sie und starrte Germaine angriffslustig an.

  »Und wie sind Sie darauf gekommen?« fragte Lennon.

  »Tutting baut die Zerstörungsanlagen, die der General abbauen wollte«, erklärte ich. »Aus dieser Ecke ist es ganz einfach. Aber ganz begreife ich es nicht, denn Geld scheint keine Rolle zu spielen in diesem Spielchen.«

  »Geld?« Er starrte mich verwundert an, um dann erheitert zu sagen: »Nein, Geld ist es wirklich nicht.«

  »Was ist es dann?«

  »Sie werden es selbst herausfinden, wenn Sie darüber nachdenken«, sagte er. »Haben Sie einen Termin bei Tutting?«

  »Ja. Und Sie?«

  Er schüttelte den Kopf. »Ich brauche keinen Termin, ich hole ihn mir, wenn die Gelegenheit günstig ist. Wann gehen Sie zu ihm?«

  Ich sagte es ihm. »Soll ich etwas für Sie fragen?«

  »Nein, um Gottes willen nicht. Erzählen Sie ihm nicht, daß wir in Verbindung stehen. Und sagen Sie ihm bloß nicht auf den Kopf zu, daß er ein Mörder ist.«

  »Ich werde ihn mir ansehen und dann entscheiden.«

  »Er wird nicht mit der Wimper zucken, und er wird nicht weglaufen. Er wird bestenfalls lachen und einen Schnaps darauf trinken. Er ist ein zäher Mann, und mehr als eine Zeugenaussage, daß es sein Porsche war, haben wir nicht. Kein Staatsanwalt wird ihn allein deswegen anklagen.«

  »Wer weiß noch von Tutting?«

  »Niemand außer uns.«

  »Warum hat er es denn nun getan?«

  »Wenn Sie Ihrem Gehirn drei Minuten Ruhe gönnen, wissen Sie es«, meinte er lachend.

  »Wir müssen los«, sagte Germaine. Es war wieder deutlich, daß sie weder Lennon mochte noch Moni, und daß sie nicht einmal etwas davon hielt, wenigstens der Form nach höflich zu sein.

  »Wir sehen uns morgen«, sagte Lennon mit einem Lächeln.

  Im Wagen gestand Germaine, ihr sei mulmig. »Versteh mich nicht falsch, aber ich habe noch nie mit einem Mörder Small talk gemacht. Was sagt man da so?«

  »Er ist nicht überführt, er hat nicht gestanden, die Beweislage ist mies. Und er wird ein wasserdichtes Alibi haben. Benimm dich also normal, und falls dir etwas eine Frage wert ist, stelle sie ruhig.«

  »Soll ich fragen, wie er es gemacht hat?«

  »Das vielleicht nicht gerade. Wir sind keine Rächer, und wir sind nicht einmal Kriminalisten. Wir haben journalistische Absichten. Wie lebt der Mann, wie ist er?«

  »Was ist, wenn er uns plötzlich erschießen will?«

  »Beten.«

  »Ich habe Angst, Baumeister.«

  »Ich auch.«

  Dann schwiegen wir, während wir durch den lauen Abend fuhren, Tuttings Anwesen lag auf der Kuppe eines Hügels und war nach Süden ausgerichtet. Es lag sehr massig und weiß im Abendlicht und hatte im Rücken einen Mischwald. Wir mußten eine Abbiegung von der Landstraße durch eine Senke fahren, die vor einem hohen, massiven Stahltor endete. Rechts und links wanderte ein hoher Zaun endlos weiter, schlug wohl einen Riesenkreis um das ganze Grundstück. Auf den Eckpfeilern des Tores saßen auf beiden Seiten Kameras. Hinter dem Tor lag ein parkähnliches Gelände, das Haus war von hier aus nicht mehr zu sehen.

  Ich stieg aus und suchte nach einer Klingel, aber es gab keine. Die Augen der Kamera wanderten mit mir. Dann schwang das Tor auf, ich setzte mich wieder in den Wagen und fuhr hindurch. Es ging eine Bodenwelle hinauf, und das Haus kam wieder in Sicht. Wie sich jetzt zeigte, waren es mehrere Häuser, die wabenartig aneinanderklebten.

  »Heiliger Strohsack, das ist aber ein Eigenheim«, murmelte Germaine.

  Tutting stand vor einer Art breiten Freitreppe. Et war ein hagerer, fast asketisch wirkender Mann mit kurzem grauem Kraushaar. Er trug eine dunkelgrüne Cordhose zu einem offenen weißen Hemd, seine nackten Füße steckten in Sandalen.

  »Guten Abend«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. »Tut mir leid, aber eher hatte ich keine Zeit. Frau...?«

  »Germaine Suchmann, meine Freundin«, sagte ich. »Ich bin Baumeister.«

  »Willkommen«, sagte er gänzlich unpathetisch. »Kommen Sie herein, meine Frau hat einen Eistee gemacht.«

  Das klang freundlich zurückhaltend und sehr bürgernah. Hätte er vertraulich hinzugefügt, wir möchten um Gottes willen seinen großen Reichtum und all das vergessen, hätte es mich auch nicht gewundert. Sein Händedruck war fest, sein Gesicht ein wenig rund, trotzdem blieb der asketische Eindruck. Seine Augen waren von jenem strahlenden Blau, wie man es in den Wiesenniede-rungen an der Küste häufig findet. Seine Hände waren schlank und sehnig. Er war, wie Trude Schott es genannt hatte, ein wirklicher Typ.

  »Wir gehen am besten auf die Terrasse«, sagte er. Dann sah er Germaine an. »Sind Sie auch Journalistin?«

  »O nein«, sagte sie so ungezwungen wie möglich. »Der General war mein Freund.«

  »Ach ja«, sagte er ohne jede Betonung. »Ja, das tut mir leid.« Dann sah er unsere erstaunten Gesichter und erklärte: »Das ist mein Arbeitshaus. Ich brauche viel Platz.«

  Das Haus, das von außen so ausgesehen hatte wie eine große, zweistöckige Villa, bestand innen aus einer einzigen Halle. Es war schwierig auszumachen, was an dieser Halle am auffälligsten war. Der Raum war bis in die Höhe des ersten Geschosses rot verklinkert, dann kam eine etwa zwei Meter breite hölzerne Balustrade, die rundum lief. Der gesamte Dachstuhl ruhte auf vier Eichenstämmen, bei deren Anblick ich sofort fragen mußte: »Wo haben Sie denn diese Stämme her?«

  »Stämme und Balken sind gut zweihundert Jahre alte Eiche. Ich habe sie in einem alten Bauernhof bei Husum gefunden, und weil es nicht anders zu machen war, habe ich den Hof gekauft, das Haupthaus mit neuem Holz renoviert, die alten Balken rausgezogen und hier eingebaut. Ich sage immer: Das ist das teuerste Brennholz der Republik.«

  »Wie viele Gewehre sind das in den Schränken?«

  »Dreißig ungefähr, aber ein Teil davon unbrauchbare Sammlerstücke.«

  »Remingtons?«

  »Aber ja, insgesamt sechs.«

  In der Mitte der Halle war ein offener runder Kamin auf einen Basaltblock gesetzt. Der Rauchfang war ein riesiger Trichter aus mit Weißblech beschlagenem Eichenholz, aufgehängt am Firstbalken. In diesem Haus gab es nicht eine einzige normale Lösung.

  »Wer hat denn die Statik bei der Baubehörde durchgedrückt?«

  Er lächelte wie ein Junge.

  »Ich. Bei einem Fest.«

  Eines fiel mir sofort auf: Es gab in diesem großen Raum kein einziges Buch. Es gab Sitzecken in Leder und Plüsch, es gab sehr tiefe, behagliche Sessel, es gab Felle auf dem weiß gefliesten Boden, es gab einen Büffelkopf und einen Bärenkopf an der Wand, sogar die ekelhaft graue Masse eines Nashornkopfes - aber kein Buch.

  »Wo sind Ihre Bücher?« fragte ich.

  »Ich habe keine Zeit für Bücher. Kommen Sie, meine Frau wartet.« Er ging voraus durch eine der vier hohen Fenstertüren, die nach hinten in den Garten führten.

  In einer weiß gelackten Sitzgruppe aus Holz saß eine dunkelhaarige Frau, die selbst so frischgelackt aussah, als sei sie einem Werbeprospekt der BRIGITTE entsprungen. »Meine Frau Marlies«, sagte er.

  Wir gaben ihr die Hand, lächelten sie an, setzten uns, bekamen Eistee eingeschenkt.

  »Was führt Sie nun genau zu mir?« fragte er.

  »Sie sind ein mächtiger Mann«, sagte ich. »Wie fühlt sich ein mächtiger Mann, dessen schärfster politischer Gegner soeben ermordet wurde? Erleichtert?«

  »Also ist es kein Gerücht? Also ist er wirklich ermordet worden?«

  »Zweifelsfrei«, sagte ich. »Wie fühlen Sie sich?«

  Beim Nachdenken machte er schmale Augen. »Nicht sehr gut natürlich. Ravenstein war politisch ganz eindeutig ein Narr. Aber er war sympathisch und auf eine gewisse Weise auch klug. Ich wollte mit ihm öffentlich diskutieren, in Bonn. Kennt man den Mörder?«

  »Nein.«

  »Mögen Sie noch Tee?« fragte Marlies Tutting.

  »O ja, bitte.« Germaine wandte sich an Tutting. »Fehlt Ihnen etwas, seit Otmar Ravenstein tot ist?«

  Er sah sie verblüfft an, wurde nachdenklich und sagte schließlich: »Ja, mir fehlt etwas. Marlies, holst du bitte noch Gebäck?« Das kam sehr scharf.

  Seine Frau lächelte vollendet und ging irgendwohin.

  »Wir hatten einen langen Tag«, sagte er in einem Ton, als habe sie sich danebenbenommen, als seien fehlende Kekse eine Todsünde.

  »Wieso war der General ein Narr?«

  Die Antwort kam schnell. »Weil er bei allen Überlegungen voraussetzte,- daß Gorbatschow erstens erfolgreich ist und zweitens ein unbedingt ehrlicher Mann. Naivität, mein Lieber, kann auf diesem Sektor für unser Volk unbedingt tödlich sein. Und wissen Sie, ob der Nachfolger Gorbatschows friedlich sein wird? Und wird Gorbatschow es überhaupt durchstehen?« Er sprach ein wenig lauter und breitete dann die Arme aus wie ein Prediger. »Schauen Sie sich Vietnam an. Weshalb haben unsere amerikanischen Freunde den Krieg dort verloren? Doch nicht, weil die Nordvietnamesen besser waren, sondern weil sie die gesamte Logistik von den Kommunisten geschenkt bekamen.«

  »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, erwiderte ich wütend. »So eine Geschichtsverzerrung habe ich noch nie gehört. Die Amis haben wie ein Sack Seife angegeben, daß sie in Vietnam die Freiheit der ganzen westlichen Welt verteidigen, und sie haben einfach deshalb die Hucke vollgekriegt, weil sie an die eigenen Sprüche auch noch geglaubt haben. Bitte, Tutting, hier sind wir in Deutschland und nicht in Vietnam. Sie haben mit Ihrer kleinen erlesenen Firma diesen Landstrich hier zur größten Selbstzerstörungsanlage der Welt ausgebaut. Wie fühlt man sich denn, wenn die eigene Bevölkerung sagt: Weg damit?«

  Er war irritiert, gereizt. Sein Gesicht wurde richtig hart. »Das Volk ist dumm!« stellte er fest. »Das Volk wird meine Vorsicht nie begreifen.«

  »Das Volk«, murmelte Germaine, »kennt Sie gar nicht, Herr Tutting.«

  »Aber sie werden dankbar sein, wenn ich sie rette«, sagte er lächelnd.

  »Soweit sie diese >Rettung< überleben. Sagen Sie, wer hat eigentlich diese Art Selbstzerstörungsanlagen erfunden?« fragte ich.

  Er zuckte zusammen, aber noch war er nicht soweit, noch wurde er nicht unvorsichtig, fiel nicht aus der Rolle. »Ich habe mir solche Anlagen auf der ganzen Welt angesehen. Dann habe ich sie verbessert und hier durchgeführt. Natürlich immer in enger Zusammenarbeit mit den Herren der NATO und denen vom Bundesverteidigungsministerium.«

  »Die Amis sind Ihre Freunde, nicht wahr?«

  Er hatte sich wieder ganz in der Gewalt, grinste jungenhaft. »Das hat Ihnen die Trude erzählt. Ja, das stimmt. Sie kommen tatsächlich als Freunde. Sie kommen auch, weil sie von mir seit Jahren lernen. Jetzt machen sie es überall, wo es nötig ist, so wie ich es konstruiert habe.«

  Germaine beugte sich vor. »Ist es richtig, daß Sie diese Aufträge finanziell gar nicht nötig haben?«

  Er war wieder ganz entspannt. »Richtig. Finanziell ist das kaum mehr als ein Zubrot, ganz uninteressant. Bei Fragen, die das Schicksal unseres Volkes bestimmen, spielt Geld keine Rolle. Anfangs habe ich sogar zugebuttert und kräftig rote Zahlen geschrieben. Heute fragen mich die Freunde, wenn sie Rat brauchen.«

  »Die Amerikaner?«

  »Ja, natürlich. Die Leute im Pentagon haben noch das nötige Mißtrauen. Die lassen sich nicht einsalben, die wissen genau, was gebacken ist, wenn die Russen richtig loslegen.«

  »Dann lebt hier niemand mehr, Sie auch nicht«, sagte ich. »Deshalb geht es ja auch nicht um Zerstörung, sondern Vertrauen, um Friedenspolitik eben.«

  Seine Frau kam mit einem silbernen Tablett, auf dem ein Berg Kekse lag, und stellte es vor uns auf den Tisch.

  »Danke«, sagte er knapp. »Und nun geh mal, Kindchen. Das hier ist zu speziell für dich.«

  Seine Frau lächelte uns entschuldigungheischend an und murmelte: »Ich wollte sowieso gerade nach den Kindern sehen.« Dann ging sie mit einem sehr geraden Rücken davon.

  Ich merkte, daß Germaine scharf werden wollte, und hustete. Sie begriff und schwieg. Ich holte die Olivenholzpfeife aus der Tasche und stopfte sie betulich.

  »Der kleine Bautrupp, der das alles einrichtet, ist Ihnen sicher der liebste«, meinte ich.

  »Aber ja«, sagte er lebhaft. »Wir sind nur zehn Leute, mit mir zusammen eine Fußballmannschaft. Und wir spielen sogar tatsächlich Fußball. Ja, das ist mein liebstes Unternehmen, alles brave, saubere Kerls. Ich bezahle sie weit über Tarif. Diese Männer tragen wirklich Verantwortung, denn im Zweifelsfall muß das, was sie bauen, ja auch hundertprozentig klappen!«

  »Aber es endet immer mit dem Tod«, stellte ich fest. »Bedrückt Sie das nicht?«

  »Nein«, lächelte er. »Krieg wird es immer geben, und Krieg ist nun einmal Tod.«

  »Sie gehen von morgens bis abends mit Tod um«, sagte Germaine.

  »Wenn Sie die Geschichte der Kriege studieren«, sagte er, »werden Sie entdecken, daß immer nur sehr wenige Männer weit genug vorausgedacht haben.«

  »Und Sie haben vorausgedacht?« fragte ich.

  »Das sehe ich als meine Pflicht«, antwortete er knapp.

  »Beim General hat auch jemand vorausgedacht«, sagte Germaine.

  Es machte den Eindruck, als überlege sie das für sich selbst, als sei es nicht an uns gerichtet.

  »Auf eine gewisse Weise sicher«, sagte Tutting vorsichtig. »Und noch sind wir in Bonn stark genug, und es wachsen neue Männer nach.«

  »Trotzdem die Frage«, schaltete ich mich ein. »Was machen Sie, wenn diese ganzen Anlagen abgebaut werden?«

  »Das ist eine Illusion«, widersprach er heftig. »Und falls es je so weit kommt, verlasse ich mit meiner Familie dieses Land. Meine Freunde werden mich dankbar aufnehmen.« Er stand auf, er erklärte das Treffen für beendet. »Wissen Sie, ich habe noch zu arbeiten.«

  Wir gingen hinter ihm her durch den Hallenbau zu unserem Auto. Das hohe Gittertor schwang auf, wir fuhren hindurch und atmeten erst einmal tief durch.

  »Weshalb hat er Otmar erschossen?« fragte sie.

  »Weil Otmar ihm seine Macht nehmen wird«, sagte ich. »Er ist König in einem unheimlich brutalen Spiel. Alles in diesem Land hat er mit seiner Fußballmannschaft absolut unterminiert. Sprengschächte, Panzersperren, brennende Wälder, ein Reich, in dem nur noch krepiert wird. Und er ist wichtig, ungeheuer wichtig. Er ist so wichtig, daß die Amerikaner ihn einen Freund nennen und Vertrauen zu ihm haben. Und da kommt ein kleiner General und nimmt ihm dieses Reich ab, und zurück bleibt nichts als ein ganz normaler Bauunternehmer. Und das kann er nicht ertragen.«

  »Er ist voller Angst«, sagte sie. »Ob Lennon ihn morgen früh beim Joggen erwischt?«

  »Ich weiß es nicht, aber es würde zu Lennon passen.«

  »Und wenn er mit Leibwächtern joggt?«

  »Lennon wird sich schon etwas ausdenken.«

  Die Nacht war warm, und ich dachte darüber nach, wann es endlich endgültig mit dieser schauerlichen Grenze vorbei wäre.

  »Darf ich bei dir schlafen, Baumeister? Es ist nicht...«

  »Selbstverständlich«, sagte ich. »Wie kann diese Marlies neben Tutting leben, der Mann ist doch manisch besessen.«

  »Irgendwie eben«, sagte sie. »Irgendwie leben auf dieser Welt die meisten Frauen. Wir sind noch nicht sehr weit. Wie geht es jetzt weiter?«

  »Ich weiß es nicht, ich bin einfach todmüde.«

  Ich schreckte hoch, weil jemand wie verrückt gegen die Tür des Hotelzimmers hämmerte. Dann schrie Moni: »Baumeister, verdammt noch mal, Baumeister!«

  Ich sprang auf und öffnete die Tür. Da stand sie, in Jeans, mit nur einem Slipper an den Füßen, in einem weißen Hemdchen. Und alles an ihr war voll Blut.

  »Was ist denn los, um Gottes willen?«

  Sie stolperte herein und keuchte. »Du mußt mir helfen, ich meine, du mußt Jonny helfen. Er hatte eine Verabredung mit Tutting, aber dabei muß etwas schiefgelaufen sein. Jemand hat geschossen, verstehst du. Durch das geschlossene Tor hab' ich ihn gesehen, er torkelte wie ein Betrunkener. Dann schoß es wieder, und Jonny lag auf der Straße und rührte sich nicht mehr. Ich bin einfach über das Tor geklettert und zu ihm hin, aber ich konnte doch nichts tun. Er verblutet! Du mußt ihm helfen, du mußt...«

  »Ich helfe ja.« Ich zog mir Jeans und ein Hemd über. »Germaine, ruf die Bullen, sonst geht alles schief.«

  »Willst du dich erschießen lassen?« fragte sie schrill.

  »Mein Gott!« brüllte ich, »wenn der Jonny bei dem Irren da drin liegt! Ruf die Bullen und komm mit ihnen nach.« Ich stürmte hinter Moni her, und irgendwo auf dieser gottverdammten dunklen Hoteltreppe verstauchte ich mir den Fuß und humpelte den Rest bis zum Auto von Moni, das quer auf der Straße stand. Der Motor lief, und ich schob mich ohne zu fragen auf den Fahrersitz. Die Nacht war noch immer lau, und als wir den Hügel hinaufjagten, taumelte ein verschrecktes Käuzchen aus unserem Scheinwerferkegel.

  »Was wollte Jonny bei Tutting?« fragte ich, während ich mit dem Lenkrad kämpfte.

  Moni schien sich wieder etwas gefangen zu haben. Stockend sagte sie: »Irgendwer muß Tutting gewarnt haben. Er hat jedenfalls Jonny einen Deal angeboten - die Unterlagen vom General gegen die Garantie, daß man ihn in Ruhe läßt. Jonny ist drauf eingegangen, aber er wollte ihn sich dabei schnappen. Tutting hat gesagt, sie würden ganz allein sein...« Ihre Stimme überschlug sich, sie stand offensichtlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Sie jammerte: »O mein Gott, nicht daß Jonny jetzt auch noch ... Erst Carlo, jetzt Jonny. Er sagte, er würde mir einen Laden in Washington kaufen,' weil...«

  »Moni. Bitte halt die Schnauze jetzt!«

  »Ja, ja, mach nur schnell.«

  An der Abzweigung, die zu Tuttings Grundstück führte, schaltete ich die Scheinwerfer aus und gab noch einmal Gas. Ich ließ den Wagen vor dem Tor ausrollen, das jetzt merkwürdigerweise offenstand.

  Jonny lag etwa dreißig Meter hinter dem Tor auf der Zufahrt und rührte sich nicht. Auf der Kuppe der ersten Bodenwelle saß ein Mann auf einem Stuhl. Es war ein so grotesker Anblick, daß mir der Atem stockte. Er trug einen Trenchcoat und hatte einen Jägerhut auf. Und auf seinen Knien lag ein Gewehr.

  König Tutting verteidigte sein Reich.

  »Heh, Tutting«, schrie ich, »geben Sie doch auf. Es hat doch keinen Sinn mehr!«

  Er antwortete nicht. Er nahm einfach das Gewehr hoch und schoß. Die Kugel winselte irgendwo hinter uns vom Asphalt hoch.

  »Moni! Hinter den Wagen! Schnell! Tutting! Gleich kommt die Polizei. Lassen Sie mich an den Verwundeten ran!«

  Er antwortete nicht, er schoß wieder. Diesmal schlug die Kugel klatschend in den Kotflügel.

  »Tutting! Bitte!«

  Er schoß wieder, und jetzt stellte er sich sogar auf den Stuhl.

  »Ist das ein Schwein!« wimmerte Moni. »Der Jonny blutet doch, der verblutet doch!«

  »Gleich kommen die Bullen, nur die Ruhe.«

  »Oh, Jonny!« schrie Moni und rannte los.

  »Bleib hier, um Gottes willen!«

  Aber sie hörte nicht, sie rannte. Ich sprang hinter das Steuer, gab Gas und brachte den Wagen zwischen Jonny und Tuttings Haus.

  Moni weinte. »Der atmet gar nicht mehr, Baumeister. Guck doch mal, faß doch mal an. Der atmet nicht mehr.«

  »Er ist bloß bewußtlos«, sagte ich beruhigend. »Gleich kriegen wir einen Krankenwagen.«

  Jonny war nicht bewußtlos, Jonny war tot.

  »Da kommt der Irre!« kreischte Moni.

  »Von der Straße runter!« schrie ich und schleuderte sie auf den Rasen, hinter einen jämmerlich dünnen Oleanderbusch.

  Immer noch waren keine Polizeisirenen zu hören. Verzweifelt drückten wir uns gegen den Rasen, doch Tutting mußte uns gesehen haben. Es sah fast aus wie ein Spaziergang, als er dort mitten auf der breiten Zufahrt auf uns zukam, nur daß er in der Hand eine todbringende Waffe trug. Wo blieb die Polizei? Hatten sie Germaine nicht geglaubt? Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich mir wünschte, eine Waffe zu haben, aber ich hätte nicht einmal damit umgehen können.

  Kein sekundenschneller Film, der das Leben noch einmal Revue passieren ließ, kein Gedanke an meine Mutter, nur nackte, derart erbärmliche Angst, daß ich mich am liebsten in den Rasen gegraben hätte und wie ein Kind die Augen zukneifen wollte, damit er mich nicht mehr sähe. Gleich würde es vorbei sein - würde ich den Schuß noch hören?

  In diesem Augenblick kam mit kreischenden Reifen ein Wagen in die Einfahrt geschleudert. Ich nahm den Kopf hoch; geblendet erkannte ich nicht gleich, wer es war. Im grellen Lichtkegel stand Tutting, riß das Gewehr hoch, mußte dann aber zur Seite springen, um nicht von dem kleinen schwarzen Auto erfaßt zu werden, das auf ihn zuschoß und dann quer zur Fahrbahn stehenblieb.

  Ein Peugeot - mein Wagen, nicht die Polizei! Ich schrie entsetzt: »Nicht, Germaine, nicht stehenbleiben! Fahr weg, weg doch, er schießt!«

  Tutting fuhr herum, hob das Gewehr in Hüfthöhe und gab drei schnelle Schüsse in die Richtung meiner Stimme ab. Die Geschosse zerfetzten den Oleander, und Moni wimmerte leise auf. Doch wieder hatte er uns verfehlt.

  Plötzlich hörte ich einen viel schärferen, helleren Knall, dann noch einen; insgesamt fünfmal zerriß das bösartige Bellen die Nacht. Dann war es auf einmal ganz still.

  Vorsichtig sah ich hoch. Eine Gestalt trat langsam in das Licht der Scheinwerfer, beide Arme nach vorne ausgestreckt, die Hände hielten fest eine häßliche Pistole umklammert. Germaine!

  Ich rief: »Paß auf, Germaine!«, doch sie ging weiter wie in Trance, auf die Gestalt zu, die vor ihr am Boden lag, die Pistole starr auf den Körper gerichtet, der sich nicht mehr bewegte. Dann sah ich zwei scharfe Blitze, den Knall der Schüsse nahm ich kaum wahr, der Körper zuckte, und alles war wieder totenstill.

  Entsetzt sprang ich auf und rannte zu Germaine hin. Sie zitterte, ihr Gesicht war tränenüberströmt, und ich mußte ihr die Pistole aus den Händen winden, so verkrampft waren sie.

  Die Parabellum des Generals! Ich hatte sie völlig vergessen, aber Germaine mußte sie die ganze Zeit mitgeschleppt haben.

  Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, und ich nahm sie behutsam in den Arm. »Ist ja alles gut, Mädchen. Ist ja gut.«

  Moni kam atemlos angerannt, zog mich am Arm und sagte unter Schluchzen: »Die Bullen kommen, ihr müßt abhauen. Los, Baumeister, ihr müßt weg! Das war Mord, für die Bullen war das Mord, wenn dieses Schwein eben noch gelebt hat. Nun haut doch endlich ab! Ich bleibe hier, ich bleibe bei Jonny. Und ich habe euch nie gesehen, im Leben niemals. Nun macht schon!«

  Ich zögerte.

  Dann hörte ich in der Ferne das bedrohliche Heulen eines Martinshorns. Ich sah Germaine kurz an, dann gab ich Moni einen Kuß auf die nasse, schmutzstarrende Wange, schob die willenlose Germaine zum Peugeot, setzte sie auf den Beifahrersitz und fuhr los. Das letzte, was ich von Moni sah, war eine kleine, hilflose Gestalt, die im schwachen Lichtschein, der vom Tor herüberdrang, vor Jonnys Leiche kauerte, seinen Kopf im Schoß hielt und ihn wiegte wie ein kleines Kind.

  Ohne Licht fuhr ich auf Umwegen zum Hotel. Die Polizeisirenen waren sehr nahe, und zweimal sah ich ein zuckendes Blaulicht quer über die Nebenstraße jagen, auf der wir fuhren, aber niemand entdeckte uns.

  Ich weiß nicht, wie wir ins Zimmer kamen. Ich zog die völlig apathische Germaine aus, stellte sie unter die heiße Dusche und ließ sie zögernd alleine. Beim Hinausgehen sah ich noch, wie sie sich wieder und wieder einseifte.

  Nach zehn Minuten kam sie nackt ins Zimmer, blieb einfach stehen und sagte kein Wort. Ich legte sie sanft ins Bett, setzte mich auf die Kante und streichelte ihr behutsam über das Haar. Allmählich ging ihr Atem nicht mehr so stoßweise, sie sah fast gelöst aus, aber sie sprach noch immer kein Wort.

  War es richtig gewesen, einfach wegzulaufen? Aber hätte Germaine die Untersuchung überstanden, den Sensationshunger meiner sogenannten Kollegen? Und wäre sie angeklagt worden? Was war in ihr vorgegangen, als sie die beiden letzten Schüsse abfeuerte? Und was könnte es schaden, wenn ich die Wahrheit erzählte, nichts als die Wahrheit? Ich wälzte trübe Gedanken, bis die Sonne den Horizont grün färbte.

  Irgendwann muß ich eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, lag ich angezogen auf dem Bett, die Decke über mich gebreitet, es war heller Tag, und ich war allein. Ich hatte Mühe, mich zurechtzufinden. Der Wecker war stehengeblieben, aber es mußte nach zwölf sein. Ich versuchte, mich zu rasieren, und schnitt mich dabei. Dann entdeckte ich Germaines Zettel.

 

Liebster Baumeister,

  ich nehme einen Bus nach Hamburg, und dann fliege ich nach Berlin. Ich weiß jetzt, daß ich mich um Mami kümmern muß, und vielleicht werde ich es schaffen. Letzte Nacht war wie ein böser Traum, und vieles verstehe ich nicht, aber ich glaube, das alles war am Ende nicht nur schlecht. Wenn ich durch die Eifel komme, schaue ich bei dir rein. Ich hab' dich sehr lieb

Germaine

 

Ich zerknüllte den Zettel, las ihn noch einmal durch und verbrannte ihn dann im Aschenbecher. Es kam mir so vor, als würde da viel mehr verbrennen, und die Reportage, die ich nun nie schreiben würde, war nur der kleinste Teil davon.

  Dann rief ich Isolde an.

  »Ich komme jetzt heim. Kannst du Königsberger Klopse?«

  »Aber ja, mein Junge.«

  »Wie gut«, sagte ich.

 

ENDE