* Erstes Kapitel

 

Ich wußte nicht, wie er hieß, aber offensichtlich war er angetreten, nicht nur meine Katze Krümel zu erobern, sondern auch unser kleines Bauernhaus. Als er das erste Mal auftauchte, hockte er plötzlich mitten in der Küche und blinzelte, ein kräftiger, graugetigerter Kater. Trotzdem kam er mir eher vor wie ein Tier zum Knuddeln, also nannte ich ihn so: Knuddel. Arrogant war er auch, denn als ich ihm ein Stück Wurst hinhielt, kam er nicht zu mir, sondern wartete, bis ich ihm das Begrüßungsgeschenk vor die Füße legte. Erst dann geruhte er, es zu fressen; dabei blieb er lässig hocken.

  Krümel strich nervös um ihn herum und sah mich an, als wolle sie betonen: Ich kenne den Kerl wirklich nicht! Selbst als ich mit einem großen Blumenkasten zum Waschbecken mußte, wich er keinen Zentimeter. Als ich Krümel zu fressen gab, wartete er ungeduldig, bis sie den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, schubste sie dann zur Seite und fraß den Rest. Und sie ließ sich das gefallen:. Wenn ich die Tagesschau sehen wollte, setzte er sich vor den Bildschirm; nachts wachte ich auf, weil er direkt vor meinem Gesicht hockte und mich anstarrte, als sei es verdammt noch einmal Zeit, ihm etwas zu fressen zu geben. Er war ein widerlicher Macho, und ich benannte ihn in Knubbel um, weil er wie ein kleiner, unbezwingbarer Berg ständig im Weg war. Zwei- oder dreimal warf ich ihn wütend zur Haustür hinaus, was aber nur zur Folge hatte, daß Krümel beleidigt war und er eine halbe Minute später majestätisch durch die Katzenklappe in der Kellertür glitt und mich mit einem verächtlichen Blinzeln strafte. Natürlich hatte sich Krümel haltlos in ihn verliebt und war untröstlich, wenn er auch nur einmal für eine Stunde verschwunden war.

  So ging das nun schon einen ganzen Monat. Es war Mittwoch, der siebte Juni, das Wetter spielte Hochsommer, fast drei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Seit sechs Uhr morgens kämpfte ich schon mit mir, ob ich den Tag angehen sollte. Krümel lag wie eine tote Katze auf dem Laken auf meinen Füßen; offensichtlich war Knubbel nicht da. Um sieben schrillte das Telefon. Krümel ließ ein Knurren hören, das mehr nach großem Hund als nach kleiner Katze klang, als ich sie abschüttelte und unwillig zum Apparat ging..

  »Ja?« brummte ich mißmutig.

  »Baumeister? Schön, daß Sie schon wach sind. Sie klingen ja richtig munter. Hören Sie, wir haben da so einen Tip gekriegt, vielleicht ist nichts dran, vielleicht wird das auch eine heiße Sache. Sie können es doch ganz gut mit diesem Aussteiger-General, diesem Ravenstein, oder?«

  Sofort war'ich hellwach. Das war Kölzer am Apparat, Ressortleiter bei einem Hamburger Magazin, für das ich manchmal arbeitete, ein richtiger Terrier, und wenn der eine Sache für wichtig genug hielt, morgens um sieben anzurufen, dann war mit Sicherheit mehr dran, als sein Plauderton vermuten ließ.

  »Sie wissen, daß ich ihn kenne, aber Sie wissen auch, daß das eine rein private Sache ist. Ich werde ihm bestimmt nicht mit einer Recherche auf den Pelz rücken.«

  »Hören Sie sich doch erst mal an, worum es geht. Wir haben da was läuten hören, daß von der Seite eine verteidigungspolitische Großoffensive kommen soll, nicht irgend so ein netter Spinnervorschlag, sondern was ziemlich Ausgebufftes, das man nicht so einfach unter den Teppich kehren kann. Die Sache klingt interessant genug, daß wir gern als erste dran wären. Wenn Sie sich da mal ein bißchen umhören wollen, gibt's den normalen Recherchensatz. Wenn wirklich was dran ist, kriegen Sie dazu die Exklusiv-Reportage. Vielleicht ist sogar eine Titelgeschichte drin. Was halten Sie davon?«

  Ich hielt gar nichts davon, aber ich hatte mir schon zu lange Ferien gegönnt, und auch meine Freunde von der Volksbank hatten nicht unbegrenzt Geduld. Ich faßte einen schnellen Entschluß.

  »Kölzer, hören Sie. Ich werde den General nicht einfach ansprechen, so von Eifelfreund zu Eifelfreund, und das dann als Exklusivbericht verwursten. Was ich machen kann, ist ein bißchen Recherche im Umfeld. Je nachdem, was dabei rauskommt, mache ich weiter oder nicht. Ist das okay?«

  »Ja«, meinte Kölzer gedehnt. »Das ist besser als gar nichts. Aber beeilen Sie sich, Mann, wir sind vielleicht nicht die einzigen, die an der Sache dran sind.« Dann legte er grußlos auf.

  Ich ging zum Bett zurück und teilte Krümel mit: »Ich muß nachher nach Bonn. Und du kommst mit, ist das klar?« Sie würdigte mich keines Blickes. Wahrscheinlich träumte sie von ihrem Knuddel-Kater. Mir war's egal. Ich legte mich wieder neben sie und schloß die Augen.

  Es war wunderbar still. Überhaupt ist die Stille beinahe das Schönste an der Eifel. Doch irgendwie hatte Kölzer mir den Tag verdorben. Kölzer war ein erstklassiger Journalist. Er hatte mehr Affären aufgedeckt als jeder andere in unserem Gewerbe. Die Sache konnte verdammt heiß sein. Doch ich würde das Ganze auf meine Art angehen.

  Ich würde nicht den General fragen, sondern genau auf der Gegenseite anfangen. Wenn so eine Sache in der Luft lag, müßte Schwärzel davon Wind bekommen haben, Schwärzel, der kleine Reserveleutnant aus Koblenz, der sich über Bundeswehr-Kameradschaftsverein, Vorsitz im örtlichen Fußballclub und bei den >Freunden Mittel-deutschlands< zum CDU-Bundestagsabgeordneten und schließlich zu einem der Verteidigungsexperten seiner Fraktion hochgeboxt hatte. Ich kannte ihn von einer Jäger-90-Reportage her; er war mir alles andere als sympathisch, aber da er geradezu pressegeil war, erfuhr man über ihn schon mal Dinge, die einem sonst verschlossen blieben.

  Um neun rief ich in seinem Büro an, und wie erwartet bekam ich sofort einen Termin für den Vormittag.

  Um halb zehn fuhren wir los, und ich war leicht sauer, als Krümel mit Weltschmerz auf das Dorf zurückblickte, als wollte sie seufzen: »Leb wohl, mein Geliebter!« Dann rollte sie sich auf der Rücksitzbank zusammen.

  Mißmutig schob ich ein Band von Phoebe Snow ein, die grundsätzlich brav onduliert wie eine biedere Hausfrau vor das Mikrofon tritt, um dann loszuröhren, als sei sie in ein Hornissennest getreten. Sie trompetete >Teach me tonight< und >Love makes a woman<, aber sie vermochte mich nicht auf den christlichen Abgeordneten einzustimmen. Da noch Zeit war, stopfte ich mir eine Pfeife, fuhr von der Straße hinunter an das Ufer der Ahr und hockte mich ins Gras.

  Hier oben bei Schuld und Insul ist der Huß noch klar, besitzt die liebenswerte Unordentlichkeit eines in vielen Mäandern laufenden Wasserweges und hält um diese Jahreszeit ein kleines Wunder parat: Auf vielen Kilometern schwimmt ein weißes Blütenmeer auf dem Wasser, der gemeine Froschbiß, hydrochorus morsus ranae. »Sieh dir das an«, sagte ich zu Krümel, die sich'im Gras lümmelte. Aber sie dachte nicht daran, sie pflegte sich. Also genoß ich den seltsam schönen Anblick alleine, rauchte gemächlich meine Pfeife zu Ende und grübelte darüber nach, was um alles in der Welt mich bewogen hatte, mir ausgerechnet an solch einem Tag diesen Job aufhalsen zu lassen. Aufseufzend scheuchte ich schließlich Krümel in den Wagen zurück und machte mich widerwillig auf die Weiterfahrt.

  Schwärzels Sekretärin ließ mich wie üblich erst ein paar Bundestagsdrucksachen durchlesen, damit mir klar wurde, wie beschäftigt und bedeutend ihr Herr und Meiler war. Dann führte sie mich ins Allerheiligste.

  Schwärzel stand von seinem Schreibtischstuhl auf und kam mir entgegen - klein, drahtig, mit einem Schnäuzer, der zu dünn war, um wirklich martialisch zu wirken, übertrieben herzlich schüttelte er mir die Hand. »Na, Baumeister, was führt die linke Kampfpresse so Schilde?« Dann lachte er jovial, damit ich merkte, daß es ein Scherz sein sollte, wippte auf den Zehenspitzen und sagte: »Spaß beiseite. Was führt Sie zu mir an so einem schönen Tag?«

  »Nun, Herr Abgeordneter«, sagte ich vorsichtig - er war der einzige Abgeordnete, den ich so anredete, und es ging ihm runter wie Honig - »ich habe da so etwas läuten hören über neue Verteidigungsinitiativen aus der Ecke Ravenstein, und ehe ich darüber etwas mache, hätte ich doch gerne Ihre Expertenmeinung gehört.«

  Sofort war er hellwach. War ich zu plump, zu direkt gewesen? Er sah mich fast lauernd an, ging dann wieder hinter seinen riesigen Schreibtisch zurück und setzte sich. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Sehen Sie, Baumeister, dieser Ravenstein mag ja seine Meriten haben, aber wenn der da mit angeblich völlig neuen Defensivkonzepten kommt, muß ich sagen, dann hinkt er uns weit hinterher. Es ist zum Beispiel viel zu wenig bekannt, daß wir mit unseren Freunden vom Initiativkreis Landesverteidigung lange vor den Friedensforschungsinstituten die Konzeption entwickelt haben, daß der Feind wissen muß, bei uns kommt er nicht durch.«

  »Was heißt das konkret?«

  »Das heißt, daß wir - ich nenne da besonders die Herren Dettmer vom Vorstand, General a. D. Paulsen, unseren Förderer Tutting und meine Wenigkeit natürlich - ein Konzept durchgesetzt haben, dessen Einzelheiten ich Ihnen natürlich nicht verraten kann, das aber garantiert, daß durch unser Deutschland kein Feind mit heiler Haut durchkommt.«

  »Welcher Feind? Doch wohl nicht aus dem heutigen Osteuropa, wo es endlich anfängt, demokratisch zuzugehen, Und wie soll das gehen? Das-kann dann doch nur auf verbrannte Erde rauslaufen, Deutschland als riesige Panzersperre. Wo bleibt da die Zivilbevölkerung?« Ich hatte Schwierigkeiten, mich zusammenzunehmen: Da stellte sich dieser Wichtigtuer mit seinem ominösen Initiativkreis doch tatsächlich hin und tat so, als sei er der erste große Pazifist!

  »Herr Baumeister, Sie irren sich, aber ich kann Ihnen wirklich keine Einzelheiten nennen. Aber wenn Sie mich zitieren wollen, können Sie gerne schreiben, daß wir den General Ravenstein als Soldaten durchaus schätzen, ihn politisch aber leider als Phantasten sehen müssen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe wirklich noch sehr viel zu tun.«

  Merklich kühler als bei der Begrüßung gab er mir die Hand, und ich ging hinaus. Scheißkrieger! Aber ich hatte tatsächlich etwas erfahren: es gab ein Verteidigungskonzept, von dem die Öffentlichkeit praktisch nichts wußte, und der General schien wirklich eine große Sache vorzuhaben, das hatte ich an Schwärzels Reaktion gemerkt.

  Nachdenklich reihte ich mich wieder in den Verkehr ein. Wen hatte Schwärzel erwähnt? Dettmer und Paulsen natürlich, die zwei Falken. Und war dieser Tutting? Was zum Teufel ist ein Förderer? »Krümel, soll ich zum General fahren oder nicht?« Sie war mir keine große Hilfe, sie döste einfach auf der Rückbank in der Sonne.

  Es gibt Tage,, an denen man nicht arbeiten soll, und dies war eigentlich so ein Tag. Gewiß, im Grunde mußte ich mein Brennholz aus dem Wald abfahren, die Akelei mußte umgepflanzt werden, um den alten Apfelbaum Sollte ich mich kümmern; Aber am liebsten hätte ich den Tag vertrödelt, der Mensch muß sich von Zeit zu Zeit belohnen.

  Ich fuhr so schnell es ging durch die Hektik des unteren Ahrtals und erreichte dann erneut die Pfade, die ich mag; ich hockte mich wieder an den Fluß und starrte in das golden zitternde Wasser. »Fang dir eine Forelle,« riet ich meiner Katze und legte mich auf den Rücken. Ich hatte mich immer noch nicht entschieden.

  Ich muß eingeschlafen sein; denn ich wurde abrupt wach, weil Krümel dicht neben mir im Gebüsch aufgeregt zischte. Irgendwo mußte eine streunende Katze sein. Die Sonne hing groß und tiefrot im Südwesten, es war acht Uhr abends. »Du lieber Himmel, warum hast du mich nicht geweckt?« Krümel war hinter einem Weidenbusch verschwunden, und als ich sie rief, kam sie nur widerstrebend und hatte vor lauter Aufregung einen Schwanz wie ein Fuchs.

  Wir hockten noch eine Weile träge beieinander. Die sanften Hänge links und rechts waren ein Meer in Gelb, der Ginster blühte. Da, wo die Hänge schroffer wurden, wo Schiefernasen sich weit vorschoben, waren die Standorte der Steingewächse, deren Farben von leuchtend hellem Grün bis zu tiefem Violett reichten. Das Altrosa der blühenden Wiesengräser hob sich klar von den unendlich vielfältigen Grüntönen der Wälder ab. Das war die Eifel, die ich brauchte wie die Luft zum Atmen. »Laß uns zum General fahren«, beschied ich meine Katze spontan, und sie sprang in das Auto, als habe sie mich verstanden. Ich muß mich heute fragen, ob ich irgendeine Vorahnung der blutigen Katastrophe hatte. Aber es war nur ein wunderbarer Sommertag, und ich dachte nicht an den Tod, schon gar nicht an Mord.

  In Müsch bog ich links in die Bundesstraße 258 ein, die Aachen mit Koblenz verbindet. Bis zum Nürburgring mußten wir in Kauf nehmen, von wildgewordenen BMWs, Suzukis, Kawasakis, Hondas und Yamahas umzingelt zu sein, aber das gab sich, als wir an der Hohen Acht auf Adenau zu abbogen. In einer Linkskehre geht es in eine schmale Straße, die über Hochacht in Richtung Kaltenborn führt. An diese Straße, ein wenig zurückgesetzt, kaum sichtbar für den Unkundigen, hatte der General seine Jagdhütte in den Dom achtzig Jahre alter Buchen gesetzt. Ein kaum glaublicher Ort, einer, der selbst Atheisten in andächtige Stimmung versetzt.

  Das Haus war ein zwölf Meter langer und acht Meter breiter Bau, mit dem Giebel zur Straße hin gesetzt, vollkommen aus Holz und mit einem voll ausgebauten Dachgeschoß. Die Leute in der Gegend erzählten voll Hochachtung, der General habe unnachgiebig darauf bestanden, keinen einzigen Baum wegen des Baus zu fällen, was ihm bis auf zwei Ausnahmen gelungen war. Diese zwei Bäume hatten weichen müssen, damit ein kleiner Baukran zur Baustelle hatte Vordringen können. Auch sonst hatte der General eigensinnig seine Vorstellungen durchgesetzt. Das Ergebnis war ein unaufdringliches Haus mit ganz eigenem Charakter, das so wirkte, als sei es direkt aus der Erde gewachsen; Der Wald diente als Garten, und wenn ich je eine Idylle gesehen habe, dann war das eine.

  Die letzte Sonne tanzte auf dem Waldboden, bildete große, goldene Teiche. Die hohen Bäume rauschten sanft, es war unwirklich still. Zwischen den großen Moospolstern waren Frauenfarn und Adlerfarn hochgeschossen und bildeten hellgrüne Zungen gegen das dämmrige Licht. Hohe Halme des Nickenden Perlgrases waren in den Moospolstern gewachsen und wiegten sich sanft. Hinter der Haustür, die grundsätzlich offenstand, wenn der General im Haus war, kam man in eine Art Windfang, in der er auch die Garderobe untergebracht hatte.

  Das Haus bestand aus zwei sehr großen Räumen, einer im Erdgeschoß, einer im Dachgeschoß. Unten waren zwei kleine Gelasse abgetrennt, eine Küche, ein Bad. Erdgeschoß und Dachgeschoß waren mit einer Wendeltreppe aus edlem Holz verbunden.

  »Hallo!« rief ich.

  Keine Antwort. Ich stand im Windfang, ich wollte nicht so einfach hineinstolpern. Ich dachte an den kleinen Freiplatz auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, machte kehrt und ging vorn um das Haus herum. Die zwei großen Türfenster des Wohnraums standen offen, davor auf dem Freiplatz stand der schöne Holztisch, darauf eine Flasche Rotwein mit einem Glas.

  »Wo sind Sie?«

  Keine Antwort. Ich ging zur vordersten Fenstertür und sah als erstes seine Beine. Er trug dunkelblaue Trainingshosen und weiße Laufschuhe an den nackten Füßen.

  »Ist Ihnen schlecht?« fragte ich unnatürlich laut und machte zögernd einen nächsten Schritt in die Tür.

  Er lag neben dem großen Eßtisch auf dem Rücken, und seine Augen waren weit offen und tot. Seine Beine wiesen in Richtung auf die Fenstertüren. Seine Brust war ein großes, blutiges Feld; das leichte T-Shirt mußte vorher dunkelgrün gewesen sein. Unter seinem Rücken hervor war eine große Menge Blut auf die Tannenbretter des Fußbodens gelaufen. Sehr viel davon hatte der schwedische Wollteppich aufgesogen, der neben ihm unter den Möbeln der Eßecke lag.

  Es war still in diesem schönen Haus unter den hohen Buchen. Ich rief unsinnigerweise ein paarmal »Hallo!« Ich glaube nicht, daß ich laut rief, ich glaube, ich krächzte nur gegen diese entsetzliche Stille an.

  Er lag da wie ein Gekreuzigter. Ein Teil seines Blutes war in zwei großen Lachen unter seine Achseln gelaufen. Unter seiner rechten Achselhöhle glänzte es wie ein Spiegel und sah ganz frisch aus. Ich mußte viel Kraft aufbringen, um ihn anzufassen, und ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, eine Stelle seines Körpers zu finden, an der kein Blut war. Offensichtlich hatte er im Fallen die Hände vor das Gesicht geschlagen, es war einfach überall Blut.

  Ich machte einen Schritt nach hinten und hörte dabei den harten Absatz meines Slippers auf den Dielen. Erschreckt stellte ich fest, daß ich viel zu laut war. Wie eine Explosion überkam mich die Vorstellung, in diesem HaUs mit dem Toten nicht allein zu sein. Vielleicht wartete irgendwo der Mörder? Auf einmal bekam ich keine Luft mehr.

  Ich schlüpfte aus den Slippers und trat so leise auf wie möglich. Ich sah in den Windfang, ich sah in das Bad, ich sah in die Küche. Dann wagte ich mich die Wendeltreppe hinauf; das Herz schlug mir bis zum Hals. Sicherheitshalber sah ich sogar unter das große Messingbett. Ich war allein mit dem Toten.

  Ich ging Wieder hinunter und spürte das Zittern meiner Hände. Auch die Oberschenkel zitterten, und ich hatte plötzlich panische Angst; meine Beine versagten den Dienst. Mit einer großen Anstrengung kniete ich mich neben ihn und zog ihm vorsichtig die mit Blut durchtränkte Hose über dem Bauch ein wenig herunter. Das Blut war noch nicht ganz trocken, der weiße Bauch fühlte sich zwar kühl an, aber totenkalt war er nicht. Dann riskierte ich, mit dem Zeigefinger in eine der Blutlachen neben dem Körper zu tippen. Als ich den Finger aus der Lache zog, blutete er.

  Ich hatte keine Ahnung, was das genau bedeutete, aber lange konnte er noch nicht tot sein. Ich wischte das Blut mit einem Papiertaschentuch ab, setzte mich dann neben ihn auf den Fußboden und stopfte mir mechanisch eine Pfeife.

  »So eine verdammte Scheiße!« sagte ich laut.

  Dann wurde mir bewußt, daß das Haus dämmrig dunkel war und daß mich immer stärker eine geradezu lähmende Angst beschlich. Ich schaltete ziemlich hektisch alle Lampen ein, ging dann vor das Haus und holte aus meinem Wagen das Diktiergerät.

  »Die Szenerie ist wie immer. Hinter dem Haus stehen sein schwarzer Porsche Carrera und der kleine Suzuki Jeep. In beiden Fahrzeugen stecken die Schlüssel. Er hat wohl Holz gehackt, denn die Scheite sind frisch, und auf dem Hackklotz steckt eine Axt. Die Haustür steht wie immer offen, die Fenstertüren auf der gegenüberliegenden Seite auch. Die Türe nach hinten hinaus genauso. Ich finde ihn auf dem Rücken liegend neben dem Eßtisch. Auf seinem Körper ist überall Blut, auf seinen Armen und Händen auch, auf seinem Gesicht auch. Es ist so viel Blut, daß man schon genau hinsehen muß, um festzustellen, daß er von mindestens sieben Kugeln getroffen wurde. Alles Einschüsse vom Unterbauch bis zum Hals. Stopp, Korrektur: Ich bin gar nicht sicher, ob das Einshußlöcher sind. Kann sein, daß alle Kugeln in den Rücken einschlugen. Aber dann müßte er ja wohl auf dem Bauch liegen.

  Der Wohnraum sieht nicht nach einem Kampf aus. Ich entdeckte keine Kugeln und keine Geschoßhülsen, weder im Wohnraum noch draußen vor den Fenstertüren. Nicht einmal die Stühle am Eßtisch unmittelbar neben der Leiche sind bewegt worden, sie stehen in Reih und Glied, zwei auf jeder Tischseite. So, wie ich die Situation jetzt begreife, kann jemand das Haus durch eine der offenen Türen betreten haben. Dann kam der General auf ihn zu und wurde dabei erschossen. Es scheint, daß der General aus dem Bad kam, denn er muß sich gerade die Hände gewaschen haben. Die linke Hand ist jedenfalls frisch gewaschen. Am Schnürband seines rechten Turnschuhs ist ein Buchenholzspan. Soweit ich weiß, habe ich nur die Klinken der Türen zum Bad und zur Küche berührt, ferner das Geländer der Wendeltreppe. Jetzt berühre ich das Telefon, es ist 21.03 Uhr.«

  Das Telefon stand auf einem kleinen, runden Tisch neben dem Kamin, darum herum eine Gruppe von drei tiefen, schwarzen Ledersesseln. Ich ging nicht über den Notruf 110, sondern wählte die normale Nummer des Polizeireviers in Adenau.

  Ich sagte: »Hier ist Siggi Baumeister im Haus des Generals Otmar Ravenstein, zwischen Hochacht und Kaltenborn. Sind Sie hier zuständig?«

  Seine Stimme war jung. »Sind wir. Was ist los?«

  »Der General ist erschossen worden.«

  Eine Weile war es still. »Unfall?«

  »Kein Unfall. Erschossen!«

  »Wer sind Sie?«

  »Siggi Baumeister, Journalist.«

  »Was machen Sie da?« Seine Stimme kam sehr zögerlich, wahrscheinlich ruderte er verzweifelt mit beiden Armen, um seine Kollegen auf sich aufmerksam zu machen.

  »Ich bin hierhergekommen, um mit ihm zu klönen, guten Tag zu sagen. Nur so.«

  »Sie sind also in seinem Haus?« Er versuchte Zeit zu schinden.

  Ich explodierte. »Hören Sie zu: Sind Sie begriffsstutzig? Ich bin hier in seinem Haus, und ich bleibe auch hier. Der General liegt hier vor mir, erschossen, und zwar nicht von mir. Haben Sie das endlich?«

  »Jaahhh. Und bitte, bleiben Sie...«

  »Großer Gott!« sagte ich wütend und hängte ein.

  Was tut man eigentlich, wenn man einen Menschen findet, der erschossen wurde? Ich erinnerte mich an unzählige Krimis: Gewöhnlich war bei der Auffindung eines Ermordeten das Chaos ausgebrochen. Hier gab es kein Chaos, nur Stille, eine in den Ohren dröhnende Stille.

  Auf was mußte ich achten?

  Ich hockte mich erneut neben den General auf die Kiefernbretter und dachte verwirrt: Wer war er eigentlich?

  Wann und wie haben wir uns kennengelernt? Wie oft habe ich ihn gesehen? Was habe ich über ihn gelesen? Was sagte er selbst über sich? Und dann die einfache Frage: wer waren seine Feinde? Er mußte Feinde haben, denn er war ein General. Oder war er ein General ohne Feinde und mußte deshalb sterben?

  Kann ein Mörder in ein Haus gehen, jemanden töten und ohne jede Spur verschwinden? Ich war mir sicher, daß diese Möglichkeit bestand.

  »General, Du machst mir Kummer.«

  Nichts an seinem Gesicht war verzerrt, es wirkte fast gelöst.

  Das Telefon klingelte, aber nicht normal. Es war nur der Bruchteil eines normalen Klingelzeichens, keine Sekunde lang. Irgend jemand hatte sich jetzt in die Leitung eingeklinkt, und niemand würde von jetzt an von diesem Apparat sprechen können, ohne daß automatisch Tonbänder mitliefen. Ein General ist allemal ein Geheimnisträger, aber welche Geheimnisse dieser tote Otmar Ravenstein gehütet hatte, wußte ich nicht.

  Das Blut wurde immer dunkler, zusehends fester - ein Kuchen, ein Panzer für seine tote Haut.

  »Himmel, wer hat dich so gehaßt, daß er dich tötete?«

  Ich versuchte, das Wort zu finden, mit dem ich diesen Mann beschreiben konnte, wenn mich jemand nach ihm fragte. Dann fiel mir ein Wort ein: sanft. Wie kann ein General denn sanft sein? Dann fiel mir ein zweites Wort ein, sanft und hart. Knallhart? Dummes Wort, unklar.

  Woher kam er, als er seinen Mörder sah?

  Ich stand auf und ging erneut in das Bad. In der Wanne stand Wasser, leicht blaues Wasser, immer noch lauwarm. Er hatte also baden wollen. Natürlich, er hatte Holz gespalten, er wollte baden. Hatte er sich rasiert? Ja, der Rasierpinsel war naß, und um den Fuß des Pinsels stand eine kleine Wasserlache. Er war also wirklich im Bad, als Jemand ihn rief oder als er jemanden hörte. Er kam durch die Badezimmertür in den Wohnraum und ging die vier, fünf Schritte in Richtung auf die Fenstertüren. Dann trafen ihn die Schüsse und warfen ihn um einen, zwei Meter zurück. So konnte es gewesen sein, aber es mußte nicht unbedingt so gewesen sein.

  Ich ging in die Küche. Sie war das, was man blitzsauber nennt, und ich erinnerte mich daran, daß er irgendwann erwähnt hatte, er habe eine Hausfrau aus Kaltenborn engagiert, die zweimal in der Woche gründlich bei ihm putzte.

  Noch einmal in den oberen Raum, in sein Allerheiligstes, die Wendeltreppe hoch. Er hatte die Fichtendielen hier mit Schiffslack streichen lassen, an den Wänden Tausende von Büchern. Über den Fenstertüren im Erdgeschoß war ein sehr großes, halbrundes Fenster eingelassen, zur Hälfte von dem breiten Messingbett verstellt, zur anderen Hälfte von einem Schreibtisch mit einem Lederstuhl davor. Kleine Wollteppiche aus Schweden, in allen Farben des Regenbogens gewebt, fröhlich, lustig, ein wenig atemlos. Über dem Bett lag eine große, grellrote Tagesdecke, die auch nach IKEA aussah. Irgendwie komisch für einen General. Aber nicht für ihn. Am Schreibtisch nichts, was auf irgendeine Tätigkeit hinwies.

  »Verdammt noch mal, Tote können doch nicht so schweigsam sein!« sagte ich laut. Ich wünschte plötzlich intensiv, Krümel bei mir zu haben, weil Katzen Unheimlichkeiten verscheuchen. Aber sie durfte nicht in dieses Haus.

  Dann sah ich den Stuhl. Es war ein hoher Babystuhl aus hellem Holz, offensichtlich liebevoll selbstgefertigt. Hatte der General ein Kind gezeugt? Wartete er auf ein Kind? Ich ging hinunter auf den Ascheplatz vor den Fenstertüren und dann um das Haus zu seinen Wagen. Er hatte gesagt: »Ich lebe zwar in der Wildnis, zweitausend Meter von allen anderen entfernt, aber ich fühle mich so sicher, daß ich weder die Autos noch das Haus abschließe.«

  Es dunkelte schnell. Ich dachte an dieses Messingbett und den Babystuhl. Hatte er eigentlich Familie, eine Familie gehabt? Kinder? Er hatte nie davon geredet. Wo kam er überhaupt her? Warum hatte er sein Jagdhaus ausgerechnet in diesen abgelegenen Teil der Eifel gestellt Und wieso eigentlich Jagdhaus? War er Jäger? Nichts in diesem Haus wies darauf hin. Es gab weder Geweihe an der Wand noch einen Waffenschrank. Ich hatte auch kein Buch gesehen, das in irgendeiner Beziehung zum Waidwerk stand. Der General war mir sowieso unvorstellbar als ein Mann, der in der Morgendämmerung ein Reh abschießt.

  Dann kamen sie. Alles lief generalstabsmäßig ab.

%%  »Haben Sie ihn angefaßt?«

  »Ja, aber ich weiß genau, wo.«

  »Ein Fachmann.«

  »Wie mans nimmt. Ich bin Journalist.«

  »Aha. Was haben Sie sonst noch angefaßt?«

  »Die Klinke von der Küchentür, die vom Bad, das Geländer von der Wendeltreppe, das Telefon.«

  »Sonst nichts?«

  »Absolut nichts.«

  Der zweite war rotblond, klein und auffällig hager. Er machte einen Schritt zur Seite. »Sie waren der Anrufer? Ich meine ...«

  »Ich habe mit Ihnen gesprochen?«

  »Richtig, das war ich. Mein Name ist Böhmert.«

  »Ich bin Siggi Baumeister.«

  »Sie wohnen auch in der Eifel.«

  Das war keine Frage, nur eine Feststellung. Sie hatten also ihren Computer befragt, oder wen auch immer. »Sie können Ihre Ballermänner aber wirklich einstecken. Ich bin nicht der, nach dem Sie suchen. Ich bin völlig harmlos.«

  »Na, so harmlos nun auch wieder nicht«, sagte der mit dem dunklen Schnäuzer schnell.

  »Strikt gegen jede Form von Gewalt!« betonte ich. Langsam wurde ich sauer.

  Der mit dem dunklen Schnäuzer steckte jetzt seine sichtlich neuwertige Dienstwaffe in die Ledertasche zurück und kam in den Raum herein. Er starrte auf den toten General. »Das ist ja irre.«

  »Sind das in der Brust Ein- oder Ausschüsse?« fragte ich.

  »Einschüsse«, meinte er. »Nach den Fotos in der Ausbildung müssen das Einschüsse sein. Was meinst du, Horst?«

  Der rotblonde Kleine, mit dem ich telefoniert hatte, nickte: »Einschüsse. Einwandfrei.«

  »Dann dürfte sein Rücken eine einzige Wunde sein«, murmelte ich.

  »Das kannste annehmen.« Der Kleine steckte seine Waffe jetzt auch weg. »Wann genau sind Sie gekommen?«

  »Ziemlich genau Punkt 21 Uhr.« Ich reichte ihm mein Diktiergerät. »Hier ist alles, was mir auf- oder einfiel. Sie können es haben.«

  »Danke. Hören Sie, wegen der Fragen am Telefon... Sie müssen verstehen, da rufen oft genug Spinner bei uns an...«

  »Ich nehme meine Grobheit auch gerne zurück. Sie brauchen sicher meine Papiere, die sind im Wagen.«

  »Brauchen wir noch nicht«, sagte er. »Ihr Tonbandgerät können Sie auch wiederhaben. Kommen Sie lieber aus dem Raum hier raus. Wir stellen uns vor das Haus.«

  »Was soll denn das?« fragte ich verwirrt.

  Der Kleine lächelte seinen Kumpel mit dem Schnäuzer freudlos an. »Wir haben Anweisung, den eigentlichen Tatort nicht zu betreten, nichts anzurühren, bloß abzusichern, zu warten, nichts zu tun«, sagte er sanft und sehr wütend.

  »Und normalerweise müßten wir Sie vorsorglich verhaften«, sagte der mit dem Schnäuzer verbittert.

  »Wieso das?«

  »Ganz einfach, wir sollen eben jeden verhaften, der hier herumstrolcht«, erwiderte er dumpf.

  Wir gingen hinaus unter die Bäume. Die anderen Beamten neben ihren Streifenwagen sahen wie die übliche Kulisse in einem Fernsehkrimi aus, höchst unbeteiligt.

  »Wie lange kann das hier dauern?«

  »Das wissen wir nicht«, sagte der Kleine, »das sagt man uns nicht.« Dann zündete er sich eine Zigarette an, und ich stopfte mir die Amber von Georg Jensen.

  »Ich möchte wissen, wer ein Interesse daran haben kann, diesen General so zu zerschießen.«

  »Wenn Sie das nicht wissen, wer dann?« fragte er, als könne er mir den Vorwurf kindlicher Naivität nicht ersparen.

  »Ich kenne ihn nur privat, und auch das kaum sehr nahe; ich habe beruflich nie mit ihm zu tun gehabt. Wir haben uns überhaupt nur vier- oder fünfmal in unserem Leben gesehen. Er war ein Eifelfreak wie ich, aber sonst weiß ich eigentlich nichts.«

  »Ja, stimmt. Sie trafen ihn im August letztes Jahr zum ersten Mal«, murmelte der Kleine. »Das wissen wir. Aber wir dachten, Sie wüßten...«

  »Woher wissen Sie das mit August?«

  »Na, von den Leuten vom Personenschutz«, erwiderte er leichthin.

  »Die kommen schon mal in der Wache vorbei, wir klönen, und sie sagen uns, was ihr Schützling so treibt...«

  »Ob Sie es glauben oder nicht: Das erste, was mir an seiner Leiche auffiel, war die Tatsache, daß ich nichts von ihm weiß. Was sollte ich denn eigentlich wissen?«

  Sie sahen sich an, und der mit dem dunklen Schnäuzer schüttelte fast unmerklich den Kopf.

  »Ich kriege es sowieso raus«, meinte ich leichthin.

  »Ja, ja.« Der Kleine, der Böhmert hieß, dehnte die Vokale. »Also der General war einer der Handvoll Leute, die die gesamte atomare Zielplanung der NATO im Kopf haben...«

  »Er wußte also, wo die NATO ihre Atombomben hinschmeißen will, wenn es Krieg gibt?«

  »Richtig. Er war einer der genau sechs Leute, die die Geheimhaltungsstufe ATOMAL haben, oder NATO-COSMIC.«

  Ich fühlte tausend wütende Wespen im Bauch. »Wenn das so ist, dann nutzt er irgendwelchen Leuten doch nur lebend.«

  »Das ist ja das Komische«, bestätigte Böhmert nachsichtig. »Es sei denn, er hat vorher geredet und ist anschließend erschossen worden.«