* Elftes Kapitel

 

Hinter dem letzten Munitionsschuppen war ein freier Platz mit einem alten Hubschrauberlandezeichen. Weiden und Birken waren hochgewachsen, es war heiß und still. Ich stellte das Zelt im Schatten einer Birke auf, ich wollte nichts als schlafen, ausruhen, nachdenken. Aber der Schlaf wollte nicht kommen, und ich ertappte mich dabei, wie ich hektisch immer dieselben Gedankenkreise verfolgte. Ich dachte darüber nach, ob ich irgend etwas übersehen hatte. Etwas mußte ich übersehen haben, aber ich fand nicht heraus, was es sein konnte. Als ich um zehn Uhr noch immer nicht schlief, lief ich hinunter an einen kleinen Bach, rieb mich mit kaltem Wasser ab und schlief kurz danach ein. Kneipp hatte doch recht: Wasser ist wundertätig. Ich wollte nicht wach werden, ich wollte schöne Träume haben. Irgendwo war eine Glockenunke zu hören, weit weg rief ein Kuckuck, dann kam eine Nachtigall hoch. Sie sang jubilierend, und ich zählte fünfzehn Strophen, ohne daß sie sich wiederholte. Plötzlich war Krümel im Zelt und scharwenzelte um mich herum, als habe sie mich Monate nicht gesehen.

  »Schöne! Bist du verrückt?« Ich hatte eine Sekunde lang die Vorstellung, meine Katze habe sich allein auf den Weg gemacht, rund dreißig Kilometer, und mich natürlich gefunden. Dann meinte Germaine trocken: »Du könntest ruhig guten Tag sagen.«

  Ich rührte mich nicht. »Wie kommst du denn hierher? Hat Böhmert mich verraten?«

  »Natürlich nicht. Als ich dir das Zelt einpacken sollte, wußte ich, daß du hier sein würdest. Du hast übrigens neue Reifen auf deinem Auto.«

  Ich kroch hinaus in die Sonne, es war sechzehn Uhr. Sie hockte da auf einem Stein und sah hübsch und etwas kläglich aus.

  »Was ist dir über die Leber gelaufen?«

  »Seepferdchen ist über meine Leber gelaufen. Nicht gelaufen, gelatscht. Sie hat nicht den Mumm gehabt, dir zu sagen, daß der General vor ein paar Wochen zusammen mit Carlo bei ihr in Berlin war.«

  »Wie bitte? Was wollte er denn da?«

  »Er hat mit dem britischen Stadtkommandanten gesprochen, aber sie weiß nicht, über was. Sie war allein mit Carlo, und der hat ihr erzählt, er sei zusammen mit dem General durch ganz Schleswig-Holstein gereist. Der General wäre über Elbdeiche spaziert, hätte am Kanal Lauenburg-Ratzeburg gestanden, Kanaldeckel angeguckt.«

  Warum hat Moni mir nichts davon gesagt? dachte ich. »Hat der General denn dem Carlo gesagt, warum er diese Reise macht?«

  »O ja, und zwar sehr genau. Der General hat gesagt, daß nach der NATO-Planung ganz Schleswig-Holstein in die Luft gejagt wird, wenn der Osten angreift. Und die Einrichtungen, die dazu da sind, die hat sich der General angeschaut und dem Carlo gezeigt. Für Carlo war es so eine Art Nachhilfeunterricht, und der General hat gesagt, wenn man etwas gegen den Irrsinn der Rüstung unternehmen wolle, müsse man zuerst diese Dinge aus der Welt schaffen. Ahnst du etwas?«

  »Etwas in meinem Hirn beginnt sich zu lichten, aber ich weiß noch nicht genau, was ich sehe. Einige Dinge müssen wir ganz schnell hinter uns bringen. Ich möchte mir jenen Ulf Decker in Meckenheim ansehen, der unter dem Arbeitsnamen >Martin< die Generalshäuser in die Luft gejagt hat. Und dann brauchen wir diesen Gittmann von der SPD. Fahr bitte zur nächsten Telefonzelle in Adenau und mach einen Termin mit Gittmann. Egal wann, möglichst vorgestern.«

  Als sie zurückkam, hatte ich das Zelt abgebaut und hinter einem Gebüsch neu aufgestellt. Es war sehr unwahrscheinlich, daß jemand hier herumstrolchte, aber ich wollte es nicht herausfordern.

  »Morgen früh um acht Uhr zu Hause bei Gittmann in St. Augustin. Er hat einen mordsmäßigen Schreck gekriegt und kategorisch erklärt, man habe ihm verboten, über den General zu sprechen. Darauf sagte ich ihm, dann stünde er aber dumm in der Gegend herum, wenn wir in der einschlägigen Presse den Mund aufmachen. Da wurde er handzahm.«

  »Gut, sehr gut, jetzt nach Meckenheim. Unterwegs erzähle ich, was in Godesberg war, und du wirst die Geschichte in deinem Herzen wälzen und die Lösung finden.«

  Aber sie fand die Lösung nicht, sie fand nur ekelhaft, was man mit dem General vorgehabt hatte. Wir erreichten Meckenheim gegen 17.30 Uhr.

  »Wir trennen uns. Du fragst in den Geschäften, Kiosken, Tankstellen nach der Familie von Ulf Decker. Wir treffen uns hier am Wagen.«

  »Aber ich brauche doch irgendeine Begründung.«

  »Du kannst ja behaupten, du ziehst hier ein.«

  Es war eine Siedlung in Igelform, die Straßen meist schmal wie Gassen und nur als Fußgängerwege angelegt. Sie führten sternförmig auf die Siedlungsmitte zu und endeten in Wendehämmern. Überall waren Leute in den kleinen Gärten; ein Mann mit einem Eiskarren hinter einem Fahrrad machte blendende Geschäfte, die Kinder spielten hordenweise, aber ohne Lärm zu machen; Erwachsene standen in Gruppen zusammen und schwatzten über den Tag - eine offensichtlich ordentliche Siedlung. Jemand hatte eine Tonplatte geformt, den Namen Decker in Zöpfen geflochten auf die Platte gelegt und das Ganze feuerrot gebrannt. Um dieses Schild hing ein Kranz aus Strohblumen, es wirkte traut. In dem winzigen Vorgarten standen zwei ziemlich mickrige Wacholder.

  Ich sah die Einfahrt zu einer Tiefgarage und hatte den nötigen Anknüpfungspunkt. Ich ging auf eine dicke Frau los, die ein paar Häuser weiter in gebückter Haltung keuchend die harte Erde um einen Oleander lockerte. »Guten Tag!« sagte ich leutselig. »Ich ziehe hier zu und wüßte gern, ob man da unten in der Tiefgarage noch einen Stellplatz mieten kann.«

  »Aber sicher«, sagte sie forsch und sah mich mit einem feuerroten, fröhlichen Gesicht an. »Jedes Haus hat unten einen Stellplatz. Die meisten haben zwei Wagen und stellen den zweiten im Wendekreis ab. Welches Haus übernehmen Sie denn?«

  »Das ist noch nicht klar, ich habe mehrere Angebote. In der Reihe, wo die Familie Decker wohnt.«

  »Ach ja, die Deckers. Da kriegen Sie ruhige Nachbarn. Er ist ja die Woche über nie da und manchmal sogar am Wochenende weg. Nur die Frau mit den Kindern ist da. Ruhige Leute, will ich mal sagen.«

  »Wo arbeiten denn die Männer hier?«

  »Bundeswehr, diplomatischer Dienst, Ministerien. Wir sind sozusagen die dienstbaren Geister von Bonn. Und Sie? Auch Bonn?«

  »Auch Bonn. Danke für die Auskunft.«

  »Auf gute Nachbarschaft«, sagte sie fröhlich und bückte sich erneut zu ihrem Stückchen Erde.

  Ich beeilte mich weiterzukommen, ehe ihre beängstigend knappen Shorts platzten, und ein kleiner blonder Junge sauste mit seinem Skateboard in mich hinein. »Sag mal, du Rennfahrer, wo finde ich denn Deckers Kinder?«

  »Der Michael ist hinten am Spielplatz«, sagte er verlegen. »Die sind schon groß.«

  »Aha«, sagte ich, und er murmelte: »Ich bin irre schnell, wenn ich will.«

  »Na sicher bist du das!«

  Er zog ab, brüllte »Platz da!«, um gleich darauf umzufallen, weil er gegen einen Randstein gefahren war.

  Die Häuser hatten nach hinten hinaus Gärten, exakt so breit wie die Häuser selbst und etwas länger als ein Badetuch. Hinter den Gärten verliefen schmale Wege. Ich schlenderte also hinter die Häuser am Meisenweg. Die meisten Hausbesitzer hatten sich hölzerne Fertigbuden auf die Enden ihrer Grundstücke gesetzt, einige von ihnen hatten sogar zwei Meter hohe Palisaden gezogen, als gelte es, die Fuchsien gegen eine feindliche Welt zu verteidigen. Ulf Decker hatte auch eine solche Palisade gebaut, aber die schmale Pforte darin war offen und gab den Blick frei auf eine Dreiergruppe Blautannen, zwei Jasminsträucher und eine von der Sonne arg mitgenommene Rasenfläche. Sie hatten große Tontöpfe mit lila-rot blühenden Tränenden Herzen aufgestellt und mitten hinein eine Sitzgruppe aus weißen Metallröhren drapiert. Rechts davon war eine hellblonde Frau mit sehr scharfen Gesichtszügen dabei, Unterwäsche auf einen Ständer zu hängen, die bestimmt nicht von >Bad Ladies< stammte. Ulf Decker, ein Mann mit silberblonden Haaren, schmal, energisch und sonnenverbrannt, kniete in Bermuda-Shorts vor einem kleinen Rosenstrauch und bemühte sich, winzige Blattschnipsel in eine große Schubkarre zu sammeln. Sie sprachen nicht miteinander, wirkten vertraut, gutbürgerlich. Ein Bild des Friedens.

  »Wann mußt du weg?« fragte sie gerade.

  »Gegen acht«, sagte er. »Ich esse noch mit den Kindern.« Dann herrschte wieder Schweigen.

  Ich drehte ab und ging den Weg weiter, bis ich zu dem Spielplatz kam, der von einer Horde etwa zehn Jahre alter Kinder besetzt war, die zwei Plastikeimer in den Sand gestellt hatten und sich bemühten, einen Fußball in diese Eimer zu schießen.

  »Ist der Michael Decker hier?« fragte ich.

  »Das bin ich«, sagte ein schmaler, lang aufgeschossener Junge und sah mich an. Er stand ordentlich da und rührte sich nicht.

  »Du gehst doch hier zur Schule«, sagte ich. »Ich ziehe bald hierher und suche eine Schule für meinen Sohn. Ich wollte fragen, ob deine Schule gut ist.« Mir war nicht recht wohl bei dieser Sache.

  Die anderen wandten sich ab, sie spielten weiter. Michael Decker kam zu mir. »Ich finde das Gymnasium gut. Ziehen Sie in das Haus von Möllers?«

  »Das weiß ich noch nicht. Ist das dein Vater, der da in dem Garten arbeitet? Arbeitet der auch in Bonn?«

  »Ja, ja, aber meist ist er nicht da. Aber das kommt davon, weil er einen gefährlichen Beruf hat. Er fährt einen Vierzig-Tonner«, sagte er stolz.

  »Dann kannst du sicher schon mal mitfahren.«

  »Nein, nein, das geht nicht. Weil - er fährt Dynamit.«

  »Aha. Vielen Dank.«

  Ich schlenderte zurück in den Gartenweg und fand das gleiche Bild vor wie eben: Sie wirkte noch immer an dem Wäscheständer, er sammelte Grünzeug.

  »Hallo, Martin«, sagte ich und blieb in der Pforte stehen.

  Sein Kopf fuhr herum. Er hatte ganz schmale Augen. Mißtrauisch sah er mich an, aber er stand nicht auf. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?«

  »Mich? Sicher, warum nicht?« Jetzt erhob er sich, kam heran und strich dabei winzige Grasteilchen von seiner Schere. »Ja? Was wünschen Sie?«

  »Sie sind Ulf Decker, nicht wahr?«

  »Ja.«

  »Arbeitsname Martin, nicht wahr?«

  »Arbeitsname? Was meinen Sie damit?« Er sah sich schnell um, aber seine Frau achtete gar nicht auf uns. »Da sind Sie aber falsch. Wieso Arbeitsname?«

  »Ich weiß Bescheid über Sie. Ihr Name ist Ulf Decker. Beim MAD führen Sie den Arbeitsnamen >Martin<. Und Sie hatten das Kommando bei der Durchsuchung der Häuser des Generals Ravenstein und deren anschließender Zerstörung. Und jetzt hat man den MAD aus der Sache gefeuert.«

  »Ich verstehe das alles nicht«, murmelte er und betrachtete seine Gartenschere. »Da muß eine Verwechslung vorliegen.«

  »Keineswegs. Ich habe Sie fotografiert. Ich bin der Journalist, der die Leiche des Generals entdeckt hat. Ich möchte Sie fragen, ob dieser Vandalismus notwendig war.«

  »Hören Sie«, sagte er mit deutlich wachsender Erregung, »ich verstehe das alles wirklich nicht. Ich bin LKW-Fahrer, und ich ...«

  »Sie fahren Dynamit. Ich weiß das. Sind Sie auf die Idee gekommen, die zwei Häuser ausgerechnet mit Phosphor und Magnesium hochzujagen, oder haben Sie da Ihre Vorschriften?«

  Endlich dämmerte ihm, daß ich viel zuviel wußte. Er hatte auch begriffen, daß er irgendwie reagieren mußte. Aber um seine Frau nicht aufmerksam zu machen, sagte er lahm: »Wenden Sie sich bitte an meine vorgesetzte Behörde.«

  »Und wer ist das? Axel? Der Oberst Werner Bröder?«

  »Hören Sie, ich bin hier privat, ich lebe hier. Meine Familie geht mir über alles. Ich kann Ihnen nichts sagen.«

  »Aber Sie fragen ja gar nicht, wer Axel ist.«

  Er sah mich an, er war verwirrt.

  Ich murmelte: »Schon gut, Sie geheimnisvoller Dynamitfahrer. Ich wollte eigentlich auch nur wissen, wie ein braver deutscher Beamter aussieht, der auf die Idee kommt, anderer Leute Hab und Gut zu zerstören. Sind Sie eigentlich stolz darauf?« Ich drehte mich um und ließ ihn stehen.

  Ich hockte mich in den Wagen und hörte zu, wie Udo Lindenberg >Ich lieb' dich überhaupt nicht mehr< sang.

  Germaine kam kurz darauf und setzte sich neben mich. »Was hast du herausgefunden?«

  Ich sagte es ihr.

  »Er fährt also Dynamit«, murmelte sie. »Das ist ja furchtbar komisch. Ob seine Frau weiß, was er wirklich tut?«

  »Glaube ich nicht. Und nun zu dir.«

  »Ich war beim Metzger, im Kiosk, in der Bäckerei, in der Apotheke. Diese Deckers sind eine Familie wie tausend andere auch. Da war im Kiosk eine dicke blonde Schlampe, die ziemlich viel weiß. Sie weiß zum Beispiel, daß Frau Decker alle zwei Tage eine Flasche Branntwein für neun Mark kauft. Und jeden Morgen, wenn sie die Kinder zur Schule gebracht hat, kauft sie einen Dreierpack Magenbitter. Sie raucht locker ihre sechzig Zigaretten am Tag. Die Schlampe wußte auch, daß Decker gut verdient und in Bonn ein Apartment hat, in dem er meistens lebt. Mit einer anderen Frau übrigens. Die Schlampe weiß es, weil die Decker von Zeit zu Zeit ausflippt, in eine Alkoholvergiftung rauscht und in diesem Zustand nicht gerade schweigsam ist. Eine Apothekerin vertraute mir an, das mit dem Familienleben sei hierzulande meistens eine Farce, so etwas wie schlechtes Ohnsorg-Theater. Blühende Verlogenheit, nannte sie das. Und so ist es denn auch kein Wunder, daß Herr und Frau Decker seit drei Jahren geschieden sind und nicht einmal die eigenen Kinder davon wissen.«

  »Ist das verbürgt?«

  »Verbürgt. Die Apothekerin sah richtig geil aus, als sie das preisgab.«

  Jemand kam schnell wie ein Schatten aus dem Decker-Haus im Meisenweg gelaufen.

  »Scheiße!« fluchte ich. »Rühr dich nicht von der Stelle!«

  Decker kam direkt zum Wagen und fragte etwas atemlos: »Kann ich Sie kurz sprechen?«

  »Selbstverständlich«, sagte ich.

  »Nicht hier. Können wir in die Tiefgarage gehen?«

  »Tu es nicht!« sagte Germaine scharf. Er ignorierte sie.

  »Können wir!« sagte ich und stieg aus.

  Er ging vor mir her die bogenförmige Einfahrt hinunter. Es war empfindlich kühl in diesem Betonkeller. Er steuerte eine weit entfernte Ecke an, drehte sich um und fragte: »Was wollen Sie eigentlich mit diesen Informationen?«

  »Ich bin Journalist«, sagte ich. »Ich habe Sie enttarnt, und ich will wissen, wie ein Mann aussieht, der ung-straft wie ein Vandale in anderer Leute Häuser herumsauen darf. Sie können mir und der Öffentlichkeit dieses Interesse nicht verübeln.«

  »Jemand muß mich verraten haben«, sagte er.

  »Niemand hat Sie verraten. Das war gar nicht nötig. Ihr Geheimdienstfritzen seid so sehr von der Rechtmäßigkeit eures Handelns überzeugt, daß Selbstkritik scheinbar unbekannt ist. Es war gar nicht schwer, Sie zu finden.«

  »Und jetzt schreiben Sie?«

  »Nicht sofort. Ich lasse mir Zeit. Sie sind eigentlich nur ein Rädchen in dieser Maschine.«

  »Kann ich dieses Foto von mir haben?«

  »Nein.«

  »Aber es gibt ein Recht auf das eigene Bild«, sagte er matt.

  »So etwas gibt es, das stimmt. Aber wenn Sie eine Figur des öffentlichen Interesses sind, erlischt dieses Recht. Und jemand, der so brutal vorgeht, kann sich des Interesses der Öffentlichkeit sicher sein.«

  »Ich könnte Sie verhaften lassen.«

  »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte ich verächtlich und wollte mich abwenden.

  Da drehte er durch. Er riß einen Feuerlöscher von der Betonwand und brüllte: »Sie sind ein mieses Schwein!« Er hatte offensichtlich Erfahrung mit diesen Geräten. Er hielt den lächerlich kurzen Schlauch gegen mich gerichtet, schlug den Kopf des Gerätes blitzschnell auf den Boden, und der weiße Schaum kam wie ein Vorhang auf mich zu. Ich sprang zur Seite. Sein brutales Gesicht jagte mir Angst ein. Die Oberlippe gab die Zähne frei, die Wirkung war die einer erschreckenden Fratze. Ich drehte mich herum, um wegzulaufen, aber er warf sich auf mich und riß mich zu Boden. Das Feuerlöschgerät schepperte irgendwo rechts von mir über den Beton.

  »Sie Schwein!« sagte er zischend. Dann schlug er mir gegen den Kopf und drückte mich auf den Garagenboden. Er hatte irgendeine Stelle in meinem Nacken erwischt, die furchtbar schmerzte. Ich schrie auf und wälzte mich herum, kam frei und sah seitwärts von mir sein vollkommen verzerrtes Gesicht. Ich war auf eine eiskalte Art wütend. Ich zog beide Beine an, trat zu, und zu meiner Überraschung traf ich ihn voll - er sackte zusammen und blieb liegen. Offensichtlich war das neuerdings meine Spezialität - Baumeisters Pazifistentritt.

  Ich rannte die Auffahrt hinauf. Germaine saß am Steuer und startete sofort.

  »Hast du dir was gebrochen?«

  »Nein. Ich habe nur die Nase davon voll, von neurotischen Staats-Sadisten als Punchingball benutzt zu werden.«

  »Du hast Blut an der Nase.«

  »Man kriegt eben nichts umsonst.«

  Eine Stunde später erreichten wir das Munitionsdepot, und ich parkte den Wagen einen Kilometer entfernt in einem Rudel anderer Autos.

  »Geht es wieder? Ich muß dringend Seepferdchen anrufen. Wir haben auch nichts zu essen.«

  »Gut. Fahr nach Adenau, erledige das und komm dann zum Zelt. Und parke weit genug entfernt.«

  »Adieu, mein Robin Hood, und grüß mir den Wald von Sherwood!«

  Ich wanderte bergauf, mied die Wege, ging quer durch den Wald, hockte mich schließlich an einen Weißtannenstamm und dachte über diesen Ulf Decker nach, der ausgerastet war, weil jemand entdeckt hatte, was er tatsächlich trieb. Ich beobachtete Heuschrecken im Gras, bis Germaine kam.

  »Es gibt Kartoffelsalat mit Hähnchen. Das Geschirr ist aus Plastik, aber ich habe eine Thermoskanne voll heißem Kaffee.«

  Wir hockten uns in den Schatten einer Pfeifenweide, die glatt und kompromißlos durch den Beton des alten Hubschrauberlandeplatzes gebrochen war, aßen und schauten über das Land.

  »Siehst du ein Ende?« fragte sie.

  »Gute Frage. Nein, ich sehe es noch nicht, aber ich rieche es. Die Geschichte wird immer schneller und hektischer, und aus der Erfahrung weiß ich, daß wir vielleicht schon sehr bald zusammenzucken, weil wir einen Mörder entdecken.«

  »Ist das immer so?«

  »Ja, irgendwie- ist es immer so. Und irgendwie hat man immer Angst davor.«

  »Warum lebst du eigentlich so abgelegen?«

  »Weil ich es mag. Städte und die Menschen, die darin verkümmern, mag ich nicht.«

  »Aber sie verkümmern doch gar nicht. Sie sind fröhlich und arbeiten. Und sie haben keine Chance, hier zu leben.«

  »Aber sie machen Karriere und vergessen darüber die wichtigen Dinge.«

  »Bist du verbittert?«

  »Nein. Überhaupt nicht. Ich will nur die Jahreszeiten spüren. Jetzt iß dein Hähnchen, sonst wird es kalt.«

  »Wir kriegen Besuch«, sagte sie. »Sollen wir abhauen?«

  Da kam der schöne John Lennon um die Ecke eines Munitionsschuppens, hatte Moni an der Hand und grinste uns an.

  »Wie haben Sie uns gefunden?« fragte ich.

  »Sie werden gesucht, also verkrümeln Sie sich hier hin. Wo sonst?« sagte er achselzuckend.

  Er hockte sich auf den Boden, und dabei sah ich, daß er zwei Waffen im Gürtel trug. Beide rechts.

  »Jagen Sie mich?«

  Er lachte und schüttelte den Kopf. »Keine Amtshilfe für Neurotiker. Moni und ich wollen nur mit Ihnen schwätzen.«

  »Worüber denn?« fragte Germaine angriffslustig. Sie mochte Moni sichtlich nicht.

  »Na ja, über den General und so«, sagte Moni. »Wer ihn umgelegt hat. Das muß ja ein Irrer gewesen sein.«

  »Warum hast du mir verschwiegen, daß Carlo mit dem General in Schleswig-Holstein und Berlin war?« fragte 'ich.

  »Ich habe es vergessen«, sagte Moni. »Es war einfach zuviel los.«

  »Was wollte er da?«

  Lennon räusperte sich. »Der General war eine höchst praktische Taube. Er entdeckte, daß ganz Schleswig-Holstein bei einem Kriegsbeginn in die Luft gejagt wird. Er hat sich die entsprechenden Anlagen angesehen.«

  »Zu Recht«, murmelte ich.

  »Was haben Sie denn jetzt vor?« Lennon wechselte das Thema.

  »Wir wissen es nicht. Wir warten hier, bis sich die Aufregung gelegt hat.«

  »Ich mache meinen Vorschlag noch einmal.« Er zündete sich eine Senior Service an. »Kooperation.«

  »Komm schon, Siggi! Macht es doch zusammen!« drängte Moni.

  »Kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Dann bin ich am Ende der Gelackmeierte.«

  »Jonny bescheißt nie!« sagte sie.

  »Na sicher«, meinte ich. »Und CIA heißt eigentlich Christliche Initiative Amerikas.«

  »Was macht ihr, wenn am Ende ein Mann mit einer Maschinenpistole steht?« fragte Lennon hinterhältig.

  »Augen zu und durch«, sagte ich, weil mir nichts Intelligentes einfiel.

  »Jonny fürchtet wirklich, daß es schlimm wird«, steuerte Moni bei.

  »Ich mache es allein«, beharrte ich. »Ich kann sowieso nicht im Team arbeiten.«

  »Heilige Scheiße, seid ihr vielleicht abgefuckt!« sagte Moni böse. Sie spuckte verächtlich auf den Boden. Dann stand sie auf, weil auch Lennon aufgestanden war, und sie gingen wortlos davon.

  Ich hatte ein dummes Gefühl, als ich hinter ihnen hersah, aber es ist nun einmal so: Wenn du dich in meinem Beruf auf andere verläßt, bist du verlassen.

  Wir stellten das Zelt einige Meter zu einem steilen Abhang hin und drehten es so, daß der Zelteingang in das Depot hineinwies. Dann hockten wir uns davor und sprachen Belangloses, ehe wir um elf Uhr in unsere Behausung krochen und den Reißverschluß zuzogen. Mir war ganz stark Germaines Nähe bewußt, ihre Attraktivität, aber ich wollte nicht mit ihr schlafen - sie war so wenig mit sich im Reinen, das alles völlig falsch gewesen wäre.

  Irgendwann hörte ich Germaine sehr ruhig und gleichmäßig atmen. Ich hielt Ausschau nach unseren Bewachern und entdeckte Moni, wie sie uns aus einhundertfünfzig Metern schamlos mit einem Fernglas beobachtete. Ich winkte ihr zu, sie winkte zurück. Ich wurde pünktlich um kurz vor fünf wach. Wir zogen uns schweigend an, und dann schnitt ich mit dem Taschenmesser die Rückwand meines Zeltes auf. Wir glitten zu dem steilen Abhang und rutschten ihn hinunter.

  »Das ist aber ekelhaft, so ungewaschen und ohne Zähneputzen«, beschwerte sie sich.

  »Sei still und leide.«

  Wir liefen zum Wagen und fuhren los. Niemand zeigte Interesse. Wir fuhren das Ahrtal flußab, bogen nach Liers und Obliers ab und stellten uns in einen Waldweg. Germaine kaufte ein paar Brötchen und ein Stück Käse. Dazu gab es Sprudel. Dann machten wir uns auf den Weg zu dem Politiker namens Gittmann in St. Augustin.

  Offensichtlich hatte er den Rest seiner Familie entfernt, denn er sagte hektisch-freundlich: »Immer hinein mit Ihnen, wir sind allein.« Er war ein kleiner, stabiler Mann mit einem freundlichen Gesicht unter Wuschelhaaren. Er mochte vierzig Jahre alt sein, und er wirkte wie jemand, der die Einsteinsche Formel in zwanzig Minuten erklären kann, aber nicht in der Lage ist, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Vielleicht konnte er auch beides nicht.

  »Ich heiße Baumeister«, sagte ich. »Ich bin Journalist.«

  »Immer hinein in die gute Stube. Ist es recht? Ich habe uns einen Kaffee gekocht.«

  »Und wie uns das recht ist«, meinte Germaine seufzend.

  Während er Tassen, Milch, Zucker und eine Kanne besorgte, erklärte er: »Ich habe meine Frau mit den Kindern zum Einkaufen geschickt. Es ist ja wohl ein etwas heißes Eisen, was wir zu besprechen haben.«

  »Was hat man Ihnen gesagt? Hat der General sich versehentlich mit seinem Gewehr getötet?«

  »Das wollte man mir nahelegen«, gab er zu. »Aber da ich weiß, daß er gar kein Gewehr besaß, hat man mir die Wahrheit sagen müssen. In etwa jedenfalls, vermute ich.«

  »Wer ist man?« fragte Germaine.

  »Die Herren mit der geheimen Tätigkeit«, sagte er verwirrt. »Die wollten wissen, was ich mit dem General zu tun hatte.«

  »Und? Haben Sie es gesagt?« fragte ich.

  Er sah mich an und lächelte so, daß ein Studienrat das als schelmisch bezeichnet hätte. »Ein bißchen, nur ein bißchen.«

  »Wir wollen jetzt alles wissen«, sagte ich.

  Er setzte sich und goß uns Kaffee ein. »Ich will nicht unhöflich sein, aber das geht nicht. Es ist eine Projektarbeit in einem höchst sicherheitsempfindlichen Bereich.«

  »Ich glaube, Sie werden Ihre Meinung ändern müssen!« sagte ich wütend. Ich legte ihm das Foto des vollkommen zerschossenen Generals auf den Tisch und dazu die Fotos vom alten Mattes und von Carlo.

  »Ist das... Haben Sie das retuschiert?« fragte er kläglich.

  »Keine Retusche. Sehr viel richtiges Blut. Sie sind, ohne es zu wissen, eine Schlüsselfigur. Das heißt, die letzte Figur, die noch am Leben ist. Und das wird sich ändern, wenn der Mörder das begreift.«

  »Dann möchte ich unter allen Umständen erst meinen Vorsitzenden fragen«, flüsterte er.

  »Dazu haben wir aber keine Zeit«, sagte ich. »Was haben Sie dem MAD berichtet?«

  »Davon wissen Sie?«

  Ich legte Axels Fotos zu den anderen. »Dieser Mann war das.«

  »Ja, ja. Er hat mir gesagt, der General sei vermutlich irrtümlich von einem Irren erschossen worden. Aber ich kann doch nicht preisgeben...«

  »Was haben Sie den Geheimdienstfritzen erklärt? Beeilung, Herr Gittmann, wir haben wirklich keine Zeit, und möglicherweise gibt es neue Leichen.«

  »Glauben Sie das.. . Du lieber Himmel, in was bin ich da bloß reingerasselt?« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Also, ich habe den Herren erklärt, daß ich zusammen mit General Ravenstein eine neue Verteidigungspolitik entwickelt habe. Im Zeichen von Perestroika und Glasnost, mehr nicht.«

  »Keine Einzelheiten?«

  »O nein. Das geht diese Herren nun wirklich nichts an.«

  »Sie haben also die Knüller verschwiegen, nicht wahr?«

  »Wieso, Herr. .. Verzeihung, ich habe den Namen nicht verstanden, Verzeihung . ..«

  »Siggi Baumeister.«

  »Sind Sie der .. .?«

  »Der bin ich. Die Knüller haben Sie verschwiegen, nicht wahr?«

  »Das verstehe ich jetzt nicht«, sagte Germaine laut. »Wieso redest du von Knüllern?«

  »Es gibt so eine Art Bonner Rezept«, sagte ich. »Jemand wie der General kriegt Krach mit seinem Dienstherrn und scheidet aus dem Amt. Die Opposition tritt an ihn heran und ermuntert ihn, seine Studien fortzusetzen. Gittmann hier ist der Verbindungsmann zur Parteispitze. Sie entwickeln einen echten Knüller: Das heißt, der General sollte mit einer vollkommen neuen Verteidigungspolitik kommen. Geben Sie das wenigstens zu, Gittmann?«

  »Ich gebe es zu!« sagte er theatralisch. »Aber Sie dürfen mich nicht verraten und nicht zitieren. Das wäre mein politisches Ende.«

  »Wann sollte der Plan veröffentlicht werden?«

  »Nach den Sommerferien. Ganz groß.«

  »Anschließend wollte er mit Carlo ins Tessin«, murmelte Germaine.

  »Wie bitte?« fragte Gittmann.

  »Das war privat«, sagte ich. »Nach den Sommerferien und vor den Kommunalwahlen?«

  »Das auch. Wir haben die Antwort auf Gorbatschow gefunden.« Er schien trotz aller Aufregung sehr stolz.

  »Mein Gott, Gittmann, ich habe keine Zeit. Ich kenne zwei Eckpunkte, die dieser Plan umfassen sollte, und Sie brauchen nur zu nicken. Der eine Eckpunkt ist Berlin, der andere Schleswig-Holstein. O. K. so?«

  »Woher wissen Sie das eigentlich? Das weiß nicht mal mein Vorsitzender.«

  »Was soll in Berlin und Schleswig-Holstein stattfinden?«

  Er begriff meine Hilflosigkeit und schloß selig lächelnd die Augen. »Das wissen Sie natürlich nicht, Herr Baumeister. Woher denn auch? Sie sind doch ein schlauer Fuchs, dann überlegen Sie mal!«

  Ich wollte zu brüllen beginnen, aber Germaine sagte schnell: »Gittmann, Sie begreifen immer noch nicht. Es geht nicht um Sensationen. Da rennt einer mit einem Gewehr rum und erschießt Leute. Sehen Sie sich die Fotos an, verdammt noch mal!«

  Er tat es, er tat es lange und schweigsam. »Wieso wird ein Mann erschossen, der an die Notwendigkeit des Friedens glaubt?«

  »Es ist pervers«, sagte ich. »Was war als nächstes vorgesehen?«

  »Wir wollten den Plan dem Vorstand vortragen. Dann wollten wir eine interne Diskussion machen...«

  »Wen haben Sie dazu eingeladen? Und für wann?«

  »Wir wollten die Diskussion am Vorabend der Veröffentlichung machen. Ganz groß mit Presse und so. Einige Herren der NATO, einige aus dem Verteidigungsministerium, unsere Bundestagsfraktion, einige Politiker aus Berlin und Schleswig-Holstein.«

  »Wissen Sie, um was es gehen sollte?«

  »Nur andeutungsweise.«

  »Die Liste. Ich brauche die Liste der Eingeladenen.«

  »Die habe ich im Büro, nicht hier.«

  »Waren auch die Gegner eines solchen Plans eingeladen?«

  »Sicherlich. Der Plan zu der Diskussion stammt doch von einem Gegner.« Er grinste. »Vor sechs Monaten rief mich Tutting an und sagte, er würde unheimlich gern mit Ravenstein über diese neue Politik reden. Öffentlich. Sie müssen wissen: Tutting ist ein Bauunternehmer aus Schleswig-Holstein, ein unheimlich scharfer, konservativer Hund, aber irgendwo auch ganz interessant.«

  Tutting - den Namen hatte ich doch schon einmal gehört? Ach ja, der ominöse Förderer von Schwärzel und Konsorten. Was hatte der denn auf einmal so direkt mit dieser schmutzigen Geschichte zu tun? Das mußte ich unbedingt feststellen. Ich bohrte sofort nach:

  »Dieser Tutting ist aber doch gar kein Abgeordneter. Wie gehört der in diese Sache rein?«

  »Nein, nein, er...« Gittmann hatte zuviel gesagt, er wurde rot und zischte wütend: »Verdammt noch mal! Nun lassen Sie mich doch endlich in Ruhe!«

  »Gittmann! Lassen Sie es raus! Oder soll ich Tutting direkt anrufen?«

  Er schwieg eine Weile. Dann resignierte er. »Der Plan hat zwei Hauptstufen. Erstens: Berlin wird internationale Stadt ohne Militär. Zweitens: Sämtliche Selbstzerstörungsanlagen in ganz Schleswig-Holstein werden sofort und einseitig abgebaut.«