Doch meine gute Laune war mit einem Schlag verflogen, als ich im Rückspiegel sah, wie sie in ein Handmikrophon sprach. Sicher, sie mochte CB-Amateurin sein, aber ich hatte keine auffällige Antenne gesehen. Entweder litt ich an Verfolgungswahn, oder sie beschatteten mich auf Schritt und Tritt. Ich würde auf jeden Fall von letzterem ausgehen.

  Bad Godesberg beherbergt Tausende von Diplomaten und hat eine Fußgängerzone, in der ich immer unwillkürlich schneller gehe, weil ein paar Geschäfte so teuer sind, daß ich mich ständig nach ALDI und Woolworth sehne. Genau dort hatte sich zwischen einem Juwelier und einem Geschäft für Haute Couture in Übergrößen der Vater des toten Carlo in harter Handwerksarbeit ein kleines, feines Fleischimperium aufgebaut, das vor allem durch Chrom, Glas und Edelhölzer aus der dritten Welt auffiel. Es gab die obligate Werbung, daß nur das Fleisch >hiesiger Schweine< verarbeitet würde, wobei der Zusatz fehlte, daß hiesige Schweine ganz arme Säue sind. Jemand hatte auf die Fensterscheibe, genau vor einem Kalbskopf aus Plastik, einen Zettel geklebt: >Unser Geschäft bleibt Montag, Dienstag und Mittwoch wegen eines Trauerfalls geschlossen. Unsere Filialen bleiben geöffnet.< Der Bau war fünf Stockwerke hoch mit scheußlichen, aber teuren Fliesen belegt. Es gab außer den Mechernichs sechzehn Mietparteien.

  Ich sah mir gegenüber vom Fleischpalast die Auslage eines Trikotageladens an, der sich >Bad Ladies< nannte. Scharf an einem duftigen Damenhöschen vorbei beobachtete ich das Metzgerhaus in der Spiegelung der Schaufensterscheibe. Ich suchte nach den Figuren im Fußgängerstrom, die sich wiederholten. Ich mußte so lange suchen, daß eine der >bad ladies< im Laden mir schon ganz irritierte Blicke zuwarf. Dann entdeckte ich sie. Es waren zwei junge Männer, ausgestattet mit jener Kleidung, die aussieht wie ein zu großer Müllsack, die aber als >salopp< gilt. Offensichtlich hatten sie nichts miteinander gemein; sie gingen nur rein zufällig vor des Metzgers Haus hin und her, wobei sich ihre Wege dauernd kreuzten. Sie wirkten wie Azubis der Geheimniskrämer-Branche, denn fast jedesmal, wenn sie aneinander vorbeistrichen, sagte einer von ihnen irgend etwas, wobei sich die Lippen kaum bewegten und beide scheu zu Boden blickten. Der eine war sehr klein und wirkte nervös, der zweite war eine lange Bohnenstange und ungefähr so unauffällig wie ein kleiner rosa Elefant.

  Nachdem ich sie viermal erlebt hatte, drehte ich ab und ging um den Block herum. Ich entdeckte eine Passage, die in den Block hineinführte und die von einem Goldschmied beherrscht wurde, der mit schreienden Schildern nach Zahngold verlangte. Links von seinem Laden gab es eine Tür, an der nichts stand, nicht einmal das schreckliche deutsche Wort privat. Sie war nur angelehnt, ich kam in einen Hinterhof. Hier gab es keine jungen Männer, die sich etwas zuflüsterten, statt dessen aber eine weitere Tür mit einer Klingel, auf der nur Mechernich stand. Ich läutete, und jemand drückte auf den Summer. Es ging eine schmale Treppe hoch, die abrupt vor einer Palisandertür endete.

  Die Tür schwang nach innen auf, und vor mir stand ein Mann, rötlich blond, ein Berg mit einem tiefroten, kummervollen Gesicht. Er hatte die Ärmel seines Hemdes aufgerollt und die Hose vor dem mächtigen Bauch mit einem Lederriemen und Hosenträgern gesichert. Seine Füße steckten in Lederpantoffeln. Er fragte: »Ja, bitte?« mit einer Stimme, als sei es ihm vollkommen gleichgültig, wer ich sei und was ich wolle.

  »Ich heiße Baumeister, ich war befreundet mit Carlo. Ich habe ihn gefunden«, sagte ich.

  Er sah über meine Schulter hinweg, er murmelte kaum hörbar: »Ja«, dann noch einmal »jaaa«. Dann plötzlich: »Oh, Verzeihung. Kommen Sie doch rein!« Dann machte er die Tür auf und bat mich hinein. Das Wohnzimmer war eine Orgie in massiver Eiche und aus Eichenholz geschnitzten Schnörkeln. »Nehmen Sie Platz«, sagte er.

  Ich hockte mich in einen Sessel, und er stand da sehr verloren in der Tür und fragte: »Kognak, Bier, irgendwas sonst?«

  Ich mußte Zeit schinden. »Vielleicht ein Wasser«, bat ich.

  »Ich sehe mal nach«, sagte er und verschwand.

  Über dem Sofa, das mit beigefarbenem Samt bezogen war, hing ein großes Porträt von Carlo. Jemand hatte ein schwarzes Samtband über die rechte untere Ecke gezogen. Vater Mechernich kam wieder, stellte ein gefülltes Glas vor mich hin. •

  »Wie, bitte, war noch Ihr Name?«

  »Baumeister, Siggi Baumeister. Ich kannte Carlo aus der Eifel.«

  »Ja, ja, der Karl«, murmelte er.

  »Wir nannten ihn nur Carlo«, sagte ich schnell.

  »Ja, das war wohl so eine Art Spitzname. Er hieß eigentlich Karl Maria, nach Carl Maria von Weber. Das ist ein Musiker. Meine Frau mag den.« Er hockte sich auf das Sofa und faltete die Hände auf den Knien. »Nun hat der Herrgott ihn mir genommen, er war mein einziges Kind, und er sollte alles haben, die Häuser und den ganzen Betrieb.«

  Ich nickte verständnisvoll. Er nahm mich gar nicht wahr, redete nur so vor sich hin. »War ja immer ein zartes Kind, also sehr empfindlich, würde ich mal sagen. Solche Kinder muß man ja laufen lassen, bis sie von selbst draufkommen.«

  Ich hätte fast gefragt, auf was denn Carlo hätte kommen sollen, aber ich sagte statt dessen: »Er malte ja wirklich toll.«

  »Ja. Ich verstehe ja nichts davon, aber meine Frau meinte das auch. Das da ist von ihm.«

  Es war ein Ölbild in einem sehr alten, sehr kostbaren Rahmen. Es zeigte eine Gruppe von Waldweidenröschen vor einer alten Rotsandsteinmauer, sehr naturalistisch gehalten, zugleich versponnen, für mein Empfinden sehr gut. Er atmete scharf aus. »Wir hatten mal Krach, er setzte sich hin, malte es und schenkte es mir. Es ist sehr nett, daß Sie gekommen sind.« Er wollte mich loswerden, um mit seinem Kummer allein zu sein. Schnell sagte ich: »Sie wollen ja sicher wissen, wie ich ihn gefunden habe. Das war am Donnerstag...«

  Er unterbrach mich hastig: »Moment, ich hole Martha. Martha ist meine Frau, und sie will es sicherlich auch hören.«

  Irgend jemand unten auf der Straße lachte laut und schrill, um einen altrosa Lampenschirm surrte eine Fliege, irgendwo in der Wohnung schlug eine Tür zu, und dann stand sie vor mir. Sie war eine schlanke, blonde Frau mit einem nicht uninteressanten Gesicht. Sie trug eine schwarze Spitzenbluse über schwarzen Jeans, und das erste, was ich mich fragte, war: Wie kommt dieser Berg von Mann, dieser Bilderbuchmetzger, an diese Frau?

  Sie gab mir die Hand und sagte mit einer überraschend tiefen Stimme: »Martha Mechernich. Sie sind ein Freund von Karl? Hat er ... hat er ... wie war das?«

  »Er hat nicht gelitten«, sagte ich. »Er kann nicht gelitten haben.«

  »Nehmen Sie doch wieder Platz.« Sie setzte sich neben ihren Mann und sah mich aufmerksam an. »Wir kannten seine Welt in der Eifel kaum, und er erzählte so wenig.« Sie lächelte scheu und gehetzt ihrem Mann zu, als bitte sie um Vergebung für diese Bemerkung. »Er war immer ein zartes Kind. Voller Träume, will ich mal sagen.«

  »Wir brauchen alle Träume«, sagte ich vage.

  »Na sicher«, polterte Mechernich. »Jeder braucht seinen Traum, ich hatte meinen auch: Das Haus hier, der Betrieb, der Party-Service.«

  Sie versuchte zu lächeln. »Wie ist es denn... wie ist das gekommen?«

  »Ich traf ihn immer im alten Munitionslager der Bundeswehr«, erklärte ich. »Ich war mit ihm verabredet, wir wollten...«

  »Ach, Sie sind Bundeswehr«, sagte Vater Mechernich erfreut. »Tja, da hat er ja lernen können, wie dieses Land ist. Ich hab' ihm immer gesagt...«

  »Herr Baumeister ist sicher nicht bei der Bundeswehr«, sagte Martha Mechernich verblüffend hart.

  »Nein, nein, ich bin Biologe, ich mache biologische Untersuchungen in der Eifel. Wir sahen uns oft: er mit seinen Malereien, ich mit meinen Untersuchungen. Wir wollten uns beim General treffen, um mit ihm zu Abend zu essen ...«

  »Ein General?« fragte Mechernich unsicher.

  »Ja, ja, der General!« meinte Martha Mechernich ungeduldig. »Karl hat mir davon erzählt.«

  »Mir aber nicht!« sagte Mechernich grob und schnell.

  »Du hattest ja auch Inventur damals im Februar.« Sie wandte sich zu mir. »Ja, ja, ich weiß. Das ist doch dieser abgesprungene General, dieser... na ja, den der Minister geschaßt hat. Karl sagte, der Mann träumt immer vom Frieden, ein Spinner muß das sein, ein richtiger Spinner. Du weißt doch noch, wie der Amerikaner hier war, der so heißt wie einer von diesen Beatles. Na ja, der hat doch damals mit Karl gesprochen, daß er dem General mal auf den Zahn fühlt. Ein Spinner ist der doch...«

  »Ja, ja, ich weiß«, sagte ich. Mir verschlug es den Atem. Jetzt bloß nicht ablenken! Die Frau nicht aus dem Thema lassen! »Also, ich meine den Spinner-General, um den Karl sich kümmern sollte. Ach ja, ich habe hier übrigens noch ein Foto von dem Amerikaner.« Ich zog es aus der Tasche und legte es vor Martha Mechernich auf den Tisch.

  »Ja, ja«, sagte sie und reichte es ihrem Mann weiter. »Der wollte, daß Karl den General beobachtet.«

  »Davon weiß ich aber nix«, grollte Mechernich wieder und betrachtete das Foto des amerikanischen Schönlings.

  »Mein Lieber«, sagte Martha Mechernich mild, »ich habe dir immer wieder gesagt, daß deine Saat eines Tages aufgehen wird. Unser Karl war eine Zeitlang auch so ein bißchen auf Abwegen, und mein Mann sagte ihm immer: Du wirst eines Tages begreifen, daß Frieden nun weiß Gott nicht alles ist.« Sie wandte sich wieder freundlich aufklärend an ihren Mann. »Karl hat das begriffen, er hat dich wirklich verstanden, er war nämlich so eine Art Aufpasser für den General.«

  »Ja?« fragte Mechernich zögerlich.

  »Aber ja!« sagte ich laut. »Auf den General mußte ... auf den mußte man wirklich aufpassen. Karl paßte auf, für die Amerikaner und für die Bundeswehr.«

  »So habe ich es auch verstanden«, sagte Mutter Mechernich zufrieden. »Er hat sich doch sogar überreden lassen, mit dem General in den Urlaub ins Tessin zu fahren.«

  »So war es!« bestätigte ich. »Er war verantwortungsbewußt für einen so jungen Menschen.«

  »Davon wußte ich nix«, sagte Mechernich leise und erstaunt.

  »Sie wollten sagen, wie es war«, bat sie.

  Mach es kurz, Baumeister. Du weißt jetzt genug, also mach es kurz. »Er ist ausgerutscht und mit der Maschine gegen einen Felsen geprallt.«

  »Ja, also, ein sauberer Tod war das dann ja wenigstens. Ich sage ja auch immer bei den Tieren, wichtig ist, daß...«

  »Bleiben Sie noch auf einen Kaffee?« unterbrach ihn seine Frau brüsk.

  »Auf keinen Fall. Ich will noch zu dem Amerikaner hier. Haben Sie seine Adresse?«

  Martha Mechernich überlegte. »Er war wohl von der amerikanischen Botschaft. Die haben sich über die Moni kennengelernt.«

  »Moni?« fragte ich.

  »Na ja, eine kleine Kellnerin aus dem Tanzschuppen. Karl hat mal für sie geschwärmt.« Sie sah hastig auf ihren Mann. »Es war nichts Ernstes, ein Schwarm eben. Sie war Kellnerin. Blue Grass heißt das Lokal, wir verkehren da ja nicht.«

  Ich stand auf und vermied es, ihnen die Hand zu geben. Auch sie standen auf und sagten Dankeschön. Sie ließen mich allein zur Wohnungstür gehen und standen jeder für sich versunken in ihrer teuren Wohnlandschaft.

  Vollkommen verspannt vor Aufregung stand ich auf der Straße. Alles roch plötzlich nach Verschwörung, und ich bereute es schon halb, erneut in die Geschichte eingestiegen zu sein.

  Um das Blue Grass zu finden, brauchte ich keinen journalistischen Spürsinn. Die Adresse stand im Telefonbuch.

  Draußen vor dem Lokal stand eine Holztafel auf dem Gehsteig, die besagte, man bekäme ein Jägerschnitzel (garantiert 200 Gramm) mit Pommes frites und Salat für nur 12,60 DM. Außerdem sei >jeden Tag Tanz< mit aktuellen Bands<.

  Glücklicherweise heulte nur eine Musikbox, immerhin mit AI Jarreau. Der Laden war brechend voll, wenngleich der Grund nicht erkennbar war.

  Wenn Lokale überfüllt sind, bemühe ich mich, die Theke zu erreichen, weil da immer Leute herumhängen, die Bescheid wissen. Außerdem versuche ich den Platz zu ergattern, an dem die Theke einen Winkel mit der Wand