Kapitel 13

 

»Rache und immer wieder Rache! Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden.«

Bertha von Suttner (1843-1914)

 

Karina saß weinend in ihrer Wohnung. Endlich, gegen Mitternacht, war sein Anruf gekommen und dann war es plötzlich vorbei mit der gemeinsamen Zukunft, vorbei mit dem großen Glück und der ewigen Liebe.

Die junge Frau hatte sich gründlich getäuscht und nun das Gefühl, ihre Seele würde auseinanderreißen. »Aber du hast mir deine Liebe doch bewiesen«, flehte sie.

Er schien beherrscht, sprach die Worte mit fester Stimme und ganz ruhig aus. Wenn er so war, das wusste Karina, dann ließ er sich nicht überreden, dann half kein Betteln oder Weinen.

»Ich habe reinen Tisch gemacht, damit jeder von uns neu anfangen kann. Du wirst dein Leben führen und ich meines.«

»Mit deiner Frau?«, schrie Karina schrill in den Hörer.

Auch dieses Mal ließ er sich nicht provozieren. »Ja, mit meiner Frau. Unsere gemeinsame Geschichte ist abgeschlossen. Du bist frei und kannst dein Leben leben. Dafür werde ich sorgen, das verspreche ich dir. Aber mehr kann ich nicht tun. Es endet hier und jetzt.«

»Ich liebe dich«, flüsterte sie, als wäre nichts von dem, was er gerade gesagt hatte, an ihr Ohr gedrungen. »Sag mir, dass du mich nicht liebst«, forderte Karina laut, »sag es mir!«

»Karina, es ist vorbei!« Damit endete das Gespräch und sie wusste, dass es vorerst unabänderlich war.

Ihre Hand griff zu der Flasche Rotwein auf dem Tisch. In großen Schlucken trank sie davon. Der Alkohol umnebelte ihre Sinne. Vielleicht sollte sie einfach Schluss machen, ein für alle Mal. Eine Handvoll Tabletten, eine weitere Flasche Wein, der Sturz aus dem Fenster. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ihr zierlicher Körper auf dem harten Teer aufschlagen würde. Sie dachte an das Geräusch von brechenden Knochen und Haut, die auf einen festen Untergrund klatscht. Überall wäre ihr Blut. Ihr warmes, verkommenes Blut, dessen Geruch sich ausbreiten und ihren Leichnam wie ein persönliches Parfüm einhüllen würde. Womöglich wäre nur eine Gesichtshälfte bei dem Sturz zertrümmert worden, sodass ein Teil ihrer Schönheit erhalten bliebe. Was für eine Ironie. Im Tod könnte dann jeder sehen, wie hässlich und wie schön zugleich sie war. Jedoch hatte sie sich diese Hässlichkeit nicht ausgesucht. Sie war ein Vermächtnis, sie war das, was ihr nun von seiner Liebe geblieben war.

Karina sank aufs Sofa zurück. Ihr Gesicht war verschmiert. Der schwarze Mascara, der dunkle Streifen auf ihrer weißen Haut hinterließ, gab ihr das Aussehen einer Porzellanpuppe, die irgendwer vor langer Zeit in einem dunklen Keller vergessen hatte.

Der nächste Schluck Rotwein ließ ihre Gedanken an den Anfang schweifen, als alles begann.

Sie waren fast noch Kinder gewesen. Karina hatte ihm damals schon immer verstohlene Blicke zugeworfen, die weit über freundschaftliche Gefühle hinausgingen. Niemals hätte sie gewagt, den ersten Schritt zu machen. Er war älter und erfahrener und schien sich wenig aus ihr, diesem dünnen Mädchen mit den kleinen Brüsten und den kindlichen Zügen, zu machen. Und dann eines Nachmittags veränderte sich plötzlich alles.

An der Hand führte er sie in den Wald. Sie lehnte an einem Baum, spielte mit einer Haarsträhne und lauschte dem Gurren der Tauben über sich. Plötzlich stand er vor ihr, sah ihr tief in die Augen und ihr Herz fing an zu rasen. Dann zog er sie an sich und küsste sie.

Erst stieß sie ihn weg und rief: »Nein, so was darf man nicht!«

Gott, wie naiv sie damals gewesen war.

»Wenn man liebt, darf man alles. Und ich liebe dich, Karina«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die für sie völlig neu war. Seine Hand fuhr unter ihren Rock. Sanft berührte er die Innenseiten ihrer Schenkel.

»Ich wünsche mir dich zum Geschenk«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Es war das erste Mal für Karina und sie hätte es mit niemand anderem erleben wollen.

»Ich gehöre nur dir«, hatte sie voller Leidenschaft geantwortet und kurz darauf lagen sie beide völlig nackt im Gras.

Sie hatte seine Erregung gespürt und die Macht, die sie plötzlich über ihn besaß. Der süße Schmerz, als er sie zur Frau machte, war ihr noch in Erinnerung. Ihre Körper hatten sich ab diesem Zeitpunkt noch viele Male nacheinander verzehrt. Immer auf der Suche nach dem Unbeschreiblichen, dem Einzigartigen.

Aber eigentlich hatte sie sich etwas anderes gewünscht. Er hatte ihr die ewige Liebe versprochen, aber das war eine Lüge gewesen. All die Jahre hatte er sich für ihre Beziehung geschämt. Niemand sollte davon wissen. Auf Abruf war sie ihm willig gewesen und teilte seine schmutzigen Begierden. Alles geschah heimlich, so als müssten sie ihre Liebe verleugnen. Sie hatte sich nie beklagt und ihm jeden Wunsch erfüllt. Und dann eines Tages fing er an, sich von ihr zu entfernen, bis er das erste Mal die Trennung forderte. Die letzten Jahre waren ein ständiges Auf und Ab gewesen.

Aber Karina liebte ihn weiterhin, selbst als er sich entschlossen hatte, zu heiraten. Von dem Schock, als er sie nicht mehr sehen wollte und zurückließ wie ein lästiges Gepäckstück, hatte sie sich nie richtig erholt. Sie gab trotzdem nicht auf, kämpfte um ihn, bis er wieder Teil ihres Lebens wurde, aber es war, als wollte man Wasser mit den Händen tragen. Für einen kurzen Moment konnte sie ihn festhalten, da war er ihr nahe, und dann, wenige Augenblicke später, hatte sie ihn wieder verloren. Sie brauchte zumindest diese wenigen Minuten des Glücks. Ihr Leben schien wieder einmal sinnlos geworden.

 

* * *

 

Am nächsten Tag hatte Heerse den Eindruck, alle um ihn herum würden durchatmen. Die Hektik und Anspannung der letzten Wochen waren auf einmal wie weggeblasen. Offensichtlich gaben sich seine Mitarbeiter der irrigen Meinung hin, der Fall wäre abgeschlossen. Natürlich sprach das niemand aus, aber anders ließ sich die veränderte Stimmung im Präsidium nicht erklären. Rolf Heerse sah sich deshalb genötigt, bei dem morgendlichen Meeting ein paar deutliche Worte zu sprechen.

»Wir sind immer noch mitten in einer Mordermittlung«, sagte er ohne Umschweife. »Der Fall ist keineswegs abgeschlossen. Selbst wenn unser Mörder keine weiteren Opfer geplant hat, will ich das Schwein haben. Es wäre gefährlich zu glauben, dass bereits alles vorbei ist.«

Über das Privatleben des letzten Opfers, Norma Wagner, fanden die Beamten wenig heraus. Dafür hatte sie ein recht umfangreiches Register bei der Polizei. Interessant war allerdings die Tatsache, dass die Prostituierte am Tag ihres Todes einen Anruf von der gleichen Telefonzelle aus der Baden-Badener Innenstadt bekam wie damals Sina Wieser.

Die Befragungen gingen unermüdlich weiter und auch aus der Bevölkerung gab es jede Menge Hinweise, denen die Beamten nachgingen.

Während Frank Dorthal die Zeugen im Fall des toten Russen verhörte, machte sich Heerse zusammen mit Müller auf den Weg zu Nellys Wohnung. Sie wollten dort mit deren Mitbewohnerin sprechen.

Heerse fand es angebracht, Müller für seine Mitarbeit zu danken. Der Kollege wurde ein bisschen verlegen und winkte ab, während er den Wagen geschickt durch die Innenstadt lenkte.

Müller war ungefähr so alt wie Frank Dorthal. Er war das, was man allgemein als Durchschnittstyp bezeichnen würde. Heerse schätzte dessen ruhige Art und seine Fähigkeit mitzudenken. Zudem war er ihm dankbar, dass er sich in der Angelegenheit Lukas Bürg so loyal verhalten hatte.

»Du glaubst nicht, dass es schon vorbei ist?«, fragte Müller nun, um nicht weiter Mittelpunkt des Gesprächs zu sein.

»Nein, ich befürchte, es geht weiter. Was denkst du eigentlich darüber?« Heerse kannte die Meinung von Frank und einigen anderen, aber wenn er es sich recht überlegte, hatte sich Müller bisher noch nicht geäußert.

Der Kollege schwieg einen Moment, dann antwortete er mit ruhiger Stimme: »Ich denke, da läuft eine große Scheiße ab.«

Diese Antwort hatte Heerse nicht erwartet.

Sie waren mittlerweile an dem Wohnhaus angekommen, in dem Norma Wagner gelebt hatte. Müller stellte den Wagen ab und blickte zu seinem Chef, der ganz offensichtlich eine ausführlichere Antwort erwartete.

Unwillig fuhr er fort: »Ich habe keine Erfahrung, was Mordermittlungen angeht.«

»Du bist Polizist und hast einen guten Instinkt. Also los, ich will deine Meinung hören!«

Müller stöhnte und gab sich einen Ruck. »Wir haben vierzehn Sagen, acht Tatorte und einen Täter, der seine Tatwaffe beim letzten Opfer zurücklässt. So als wollte er sagen, Freunde, das war es.«

Heerse stellte wieder einmal fest, dass Müller eine angenehm unkomplizierte Art hatte, die Dinge beim Namen zu nennen.

»Jeder Mord ist barbarisch und geschieht rücksichtslos. Aber bei Norma Wagner hält es der Täter für besser, sie vorher bewusstlos zu schlagen.«

»Und was schließt du daraus?«

Wieder zögerte der Kollege. »Vielleicht war es bei Norma ein anderer Täter?«

Noch bevor Heerse etwas sagen konnte, schob Müller eine Erklärung nach: »Ich weiß, alles weist auf denselben Täter hin, deshalb ist meine Theorie vermutlich Quatsch.«

Heerse hatte das Gefühl, dass er soeben einen Schlag mit einem überdimensionalen Holzhammer auf den Kopf bekommen hatte.

Ihm kam Clara Calliditas’ Frage nach einem Trittbrettfahrer in den Sinn.

»Mein Gott, manchmal sieht man den Wald wirklich nicht mehr«, murmelte der Hauptkommissar vor sich hin, was Müller zu einem »Wie bitte?« verleitete.

Heerse stöhnte laut: »Bisher sind wir aufgrund der Spuren einfach davon ausgegangen, dass es derselbe Täter war. Das Beil, mit dem auch die anderen Morde begangen wurden, die Botschaften, das Täterwissen. Das schließt einen Nachahmer zwar aus, spricht aber nicht gegen einen Komplizen. Vielleicht ist es jetzt so, wie wir es damals bei von Lohberg vermutet haben.«

Müller starrte zu seinem Chef. »Dann hätte sich der zweite Mann das Beil schnappen können, um Norma Wagner damit zu töten. Vielleicht ist er zartbesaitet, deshalb hat er sie zuerst niedergeschlagen.«

»Tja, und das Beil hat er vielleicht unabsichtlich zurückgelassen, oder weil er nicht mehr weitermachen will. Wenn wir ein Duo haben, dann ...«

Heerse sprach den Satz nicht zu Ende, denn die Vorstellung war so schon grauenvoll genug – er dachte erneut an seine Begegnung mit Karina Dorthal.

An Müller gewandt sagte er: »Das war gut, Mann!«

 

Die Mitbewohnerin von Norma Wagner war eine große, dürre Frau mit verkniffenem Gesicht. Die Kollegen der Spurensicherung hatten die Wohnung bereits durchsucht und Maya Bach machte keinen Hehl daraus, dass sie für diese Woche und den Rest ihres Lebens genug Polizei gesehen hatte. Sie bat Heerse und seinen Kollegen zwar herein, bot ihnen aber keinen Platz an. Stattdessen zog sie an ihrer Zigarette, als wäre es ein Atemgerät und sie selbst kurz vor dem Ersticken. Die braunen Nikotinflecken an ihren knochigen Fingern sprachen für sich.

Heerse wusste, dass die Frau ihn als Feind betrachtete.

»Frau Bach, es tut mir aufrichtig leid, was mit Ihrer Freundin passiert ist«, sagte er deshalb freundlich.

Der schmale Mund wurde noch dünner, als Maya ihre Lippen zusammenpresste. Statt einer Antwort nickte sie nur.

»Können wir uns vielleicht irgendwo setzen?«

»Wie wäre es mit Ihrem Dienstwagen?«, sagte sie nun gereizt, »setzen Sie sich da rein und fahren Sie nach Hause.«

Heerse stöhnte, blieb aber freundlich. »Also schön, dann stehen wir eben. Bitte erzählen Sie uns alles, was Sie von Norma wissen.«

»Nelly!«, sagte sie trotzig, »sie hat den Namen Norma gehasst. Keiner hat sie so genannt.« Maya Bachs Stimme zitterte. Sie kämpfte dagegen an, ihre Gefühle vor diesen Fremden zu zeigen, trotzdem entging Heerse nicht, dass die Frau um ihre Freundin trauerte.

Asche fiel von der Zigarette auf den Boden. Maya Bach kümmerte sich nicht darum. Schließlich sagte sie: »Gehen wir ins Wohnzimmer.«

Heerse stellte die Fragen. Erst zu Nellys Vergangenheit, ihrer Familie und ihren aktuellen Freunden.

Als er nach einem Lebensgefährten fragte, lachte Maya spöttisch. »Du lieber Himmel, wissen Sie, wie schwer es so schon ist, einen einigermaßen erträglichen Partner zu finden? Was glauben Sie, welche Chancen Nelly mit diesem Job hatte?«

»Also gab es niemanden, mit dem sie sich auch privat traf?«

Maya Bach schüttelte den Kopf. Sie musste während des Gesprächs bestimmt eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht haben und Heerse, der in solchen Sachen eigentlich nicht empfindlich war, sehnte sich nach frischer Luft.

»Was wissen Sie von ihrem Beruf?«

»Sie meinen diese Nutten-Kiste?«

Heerse nickte und Maya räusperte sich. »Man muss von etwas leben. Nelly mochte das, was sie tat.«

»Hat sie manchmal darüber gesprochen?«

»Freilich, wir haben uns gelegentlich prächtig darüber amüsiert, wer so alles ihre Dienste in Anspruch nimmt.«

Jetzt blickte sie herausfordernd in Heerses Richtung.

»Und wer war das so?«, hakte er nach, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

»Alle möglichen Leute. Welche mit Kohle zum Beispiel.«

»Kennen Sie Namen?«

»Nee«, blökte Maya jetzt belustigt, »die haben doch nicht ihre echten Namen gesagt.«

»Wie lief das ab? Wie kam Nelly an ihre Kunden?«

»Sie hatte einige Stammfreier, die haben angerufen und sich mit ihr verabredet. Dann hat man sich irgendwo getroffen. Nelly kam mit ihrem Bus angefahren und ..., na ja, das können Sie sich ja denken.«

»Warum der Bus?«

»Für die Typen war das angenehm. Die konnten sich so zum Vögeln treffen, ohne gesehen zu werden.«

»Und die Verkleidungen?«

»Das war Nellys Spezialität. Rollenspiele.«

»Und das Geschäft lief?«

»Oh ja, letzten Monat hat sie sogar noch eine Frau als Kunde bekommen. Irre, nicht wahr?«

»Eine Frau?«, fragte Heerse erstaunt nach, »wissen Sie etwas über die?«

Wieder folgte ein breites »Nee«. »Nelly hat nur gesagt, dass es mit der richtig Spaß machen würde, obwohl sie ein ganz schön versautes Miststück sei.«

»Was gab es noch Außergewöhnliches? Sie sollten uns sagen, was Sie wissen. Ich denke, Ihre Freundin verdient Gerechtigkeit, also helfen Sie uns, ihren Mörder zu fassen.«

Heerse spürte, dass Maya Bach noch eine Information zurückhielt.

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Gut, es spielt ja jetzt sowieso keine Rolle mehr. Nelly hat mir einmal anvertraut, dass einer ihrer besten Kunden die Folge von ihren Aufenthalten auf dem Polizeirevier war.«

»Sie meinen einen Polizisten?«, hakte Heerse nach.

Maya Bach streckte sich und sah dem Hauptkommissar direkt ins Gesicht, als sie mit einem provozierenden Lächeln sagte: »Ja, ich meine einen Polizisten.«

Mehr konnte ihnen die Zeugin nicht sagen. Maya Bach wusste weder, ob der Polizist aus der Gegend stammte, noch ob er zurzeit überhaupt ein Kunde von Nelly gewesen war. Unter anderen Umständen hätte Heerse diese Aussage vielleicht nicht so ernst genommen, aber nun konnte er nicht umhin, mit gemischten Gefühlen an Lukas Bürg zu denken, auch wenn der laut der Überwachung durch Martin Grunder nicht der Täter sein konnte.

 

* * *

 

Der Weg führte zu einer Quelle. Wie friedlich alles schien. Leises Gezwitscher, ein vorsichtiges Rascheln im Gebüsch, und als wüssten die Menschen von dem geplanten Ereignis, gab es weit und breit keinen einzigen Besucher.

Es war ungewohnt ohne das vertraute Beil, aber die Botschaft sollte übermittelt werden. So dringlich war das Verlangen, sich mitzuteilen. Was geschehen musste, konnte nicht aufgehalten werden. Die Gegend war nicht fremd, das erleichterte das Umherstreifen auf der Suche nach einem neuen Gehilfen. Die Oberfläche des Sees war unbeweglich. Die sich steil nach oben richtenden Felsen, die ihn umschlossen, wirkten abweisend, als wollten sie sagen: »Verschwinde von hier, sonst gibt es keine Rettung für dich.«

Vom tiefen Wasser stieg Kälte auf. Es gab Geschichten über diesen Ort, wahre und erfundene, und die meisten handelten vom Tod. Wie die der armen Mutter, die, ihre beiden Kinder an sich gebunden, von den Felsen gesprungen war. Das dunkle Gewässer hatte sie alle drei verschlungen. Ja, Verzweiflung war eine starke Antriebsfeder. Der Freitod blieb stets ein Weg, den man gehen konnte.

Aber war es nicht auch wichtig, die Lebenden zu mahnen, ihnen eine Botschaft zu hinterlassen? Und sollte man nicht dabei sein, wenn die anderen endlich verstanden? Wenn auch sie begriffen, welches Unrecht begangen wurde? Die Gedanken schienen sich unaufhörlich im Kreis zu drehen und den Geist zu drangsalieren.

Es musste getan werden, jetzt erst recht. Die Botschaft war angekommen, das stand fest, aber das hatte nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Ignoranz musste bestraft werden, also würde das Werk vervollständigt werden.

Aus Richtung der Quelle war ein Geräusch zu vernehmen. Kalte Augen beobachteten aus dem Versteck im Gebüsch den Mann, der nun eifrig anfing, einen großen weißen Plastikkanister mit dem begehrten Quellwasser zu befüllen. Seine Gedanken waren vielleicht zu Hause bei Frau und Kindern oder bei der Geliebten. Wer konnte schon sagen, was Menschen insgeheim ersehnten?

Als er nun spürte, dass er nicht mehr alleine war, blickte der Mann unvermittelt auf. Niemand hätte sagen können, ob er verblüfft oder erschrocken auf sein Gegenüber starrte, dafür war der Augenblick zu kurz. Die Klinge wurde ohne Erbarmen in sein linkes Auge gestoßen. Der jähe Schrei, der daraufhin folgte, erstickte dem Mann in der Kehle, als sich das Messer in seinen Hals bohrte. Der nächste Stich traf die Brust, es folgten weitere, mehr als nur einer waren tödlich.

Die Stille danach zeugte davon, dass die schreckliche Tat der Natur nicht verborgen geblieben war. Fast hatte man das Gefühl, sie müsste die Szene erst noch begreifen – solange schien sie den Atem anzuhalten.

Der Körper des Mannes war in den kleinen Brunnen gefallen und blockierte den Ablauf. Langsam schwappte das Wasser über den Rand. Was einst klar und kühl, wie ein Symbol des Lebens dahinplätscherte, verfärbte sich nun langsam rot und zeugte vom Ende alles Irdischen.

Nun galt es, die Botschaft zu senden. Es würde keine Spielereien mehr geben. Das führte zu nichts. Deshalb musste Klarheit herrschen. Die Handgriffe waren nicht leicht auszuführen, aber sie waren notwendig für das Verstehen.

Ein letzter Blick fiel auf die roten Rinnsale, die sich jetzt ihren Weg über den abschüssigen Waldboden bahnten, um dann den Fels hinabzugleiten wie Regentropfen an einer Fensterscheibe.

 

* * *

 

Am späten Abend fanden sich nur selten Besucher an der Mariengrotte. Gerda Kalmer und ihr Mann Dieter kamen öfter hierher. Dann setzten sie sich auf die harten Holzbänke für einen Moment der Andacht, sprachen im Stillen ein Gebet oder genossen einfach nur den Frieden, der von diesem Ort ausging. Die Marienstatue blickte sie wohlwollend an und vor allem Gerda versank dann in einen stummen Dialog mit der Gottesmutter, während sie in deren gütige Augen blickte.

Der Abend war warm, aber Spaziergänger blieben aus, vermutlich, weil es unter der Woche war.

Aber heute war die Marienfigur verändert.

Gerda stupste ihren Mann leicht mit dem Ellenbogen und sagte: »Sieh dir das an, was ist denn das für eine Schweinerei?«

Noch während sie sprach, stand sie auf und sah sich die Statue genauer an. Tatsächlich, da lief etwas über das helle Antlitz.

Die Frau bekreuzigte sich und schrie nun fast hysterisch nach ihrem Ehemann. »Sie weint Blut!«, rief sie laut und im Glauben an ein Wunder voller Euphorie.

Aufgeregt trat sie näher und blickte andächtig auf die dunkelroten Tränen. Aber da war noch etwas anderes, das nun über die rechte Wange der Gottesmutter glitt. Gerda registrierte wohl das Vorhandensein dieses eigenartigen rosa Klumpens, aber nur langsam wie in Zeitlupe begriff auch ihr Verstand, was sie sah.

Gerda Kalmer hob beide Hände zum Mund und schrie entsetzt auf, dann taumelte sie nach hinten. Ihr Mann konnte sie gerade noch stützen und führte sie schnell zu einer Bank, bevor er mit bleichem Gesicht ein »Herr im Himmel!« rief.

Völlig aufgelöst starrte er auf die menschlichen Lippen, die nun mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden klatschten.

 

* * *

 

Rolf Heerse wollte eigentlich früher Feierabend machen, als die Meldung kam.

Der Kollege, der ihn verständigte, stammelte etwas von: »Es hat einen Mord gegeben, vielleicht unser Mann?«

Erst war Heerse einfach nur ungläubig, dann wurde er gereizt. »Woher willst du das wissen?«, stellte er ungehalten seine Frage.

»Weil«, der Mann kam ins Stottern, riss sich dann aber zusammen, »weil die Streife, die uns angefordert hat, meinte, dass das Opfer übel zugerichtet wurde und ...«

Der Hauptkommissar fluchte laut und ungehalten. Er wusste nicht, was schlimmer wäre – ein weiterer Mord ihres Serienkillers oder ein weiterer Mörder. Flankiert von Frank Dorthal und dem Beamten Müller verließ er das Präsidium. Mit Blaulicht fuhren sie von Baden-Baden nach Vormberg, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Die kleine Nachbargemeinde war ein beliebtes Ausflugsziel, nicht zuletzt wegen des märchenhaften Bergsees, der auch die Beschreibung »verwunschen« verdient hätte.

 

Das Opfer lag noch in dem Brunnen. Das ihn umgebende Nass war dunkelrot gefärbt und immer mehr Wasser lief aus der Einfassung. Mittlerweile hatte sich ein kleiner roter Bach gebildet, der unermüdlich seinem Weg über den Rand der Felsen folgte.

»Hier ist das blutige Wasser heruntergelaufen, direkt unter uns ist die Mariengrotte, da wurden dann die ...«, der Beamte, der Heerse auf den neusten Stand brachte, rang um Fassung, »die Lippen gefunden.«

Müller neben ihm wirkte schockiert. Frank Dorthal dagegen schien wie versteinert.

Heerse sah weiter in das Gesicht des Beamten, der sich tapfer schlug. Noch war ihm kein Blick auf die Leiche gewährt worden. Die Kollegen von der Spurensicherung brauchten noch etwas Zeit.

»Das Opfer wurde mit einem Messer angegriffen«, sprach der Mann, sichtlich um Professionalität bemüht, weiter.

»Ist das sicher?«

»Ziemlich, außerdem wurde das Messer am Tatort zurückgelassen.«

Heerse war überrascht, unterbrach den Kollegen aber nicht.

»Der Mediziner sagt, es waren mehrere Stiche. Sein linkes Auge wurde getroffen, der Hals, Brust ...«

»Wissen wir, wer das Opfer war?«

»Ja, ein Josef Bauer, achtundfünfzig, Witwer. Ein Kollege hat ihn erkannt. Der Mann war im gleichen Sportverein. Seine Papiere sind auch noch da.«

»Was wollte er hier? Wasser holen?« Heerse sah den Kanister am Boden liegen. Es gab in Baden-Baden und Umgebung mehrere Plätze, an denen man sich frisches Quellwasser abfüllen konnte.

Der andere nickte. »Ja, sieht so aus.«

Hinter dem Hauptkommissar ertönte ein Ruf. Er konnte sich die Leiche nun ansehen.

Ihr Serienkiller hatte also erneut zugeschlagen. Sein »Ich bin noch lange nicht fertig« schien überdeutlich.

Die Verletzungen des Opfers waren schrecklich. Man hatte ihn bestialisch zugerichtet. Dieses Mal wollte der Mörder mit der Botschaft auf Nummer sicher gehen. Keine Zwerge, Reitgerten, eingewickelte Tiere, Uhren oder sonstige Utensilien. Nur die fehlenden Lippen und das Papier, das dem Toten mit dem Messer auf die Brust geheftet war – wie eine Notiz auf einer Pinnwand.

Heerse drehte ein wenig seinen Kopf, aber er erkannte das Bild auch so schon. Trotz der Wellen, die das feuchte Papier mittlerweile schlug, und den blutigen Sprenkeln, mit denen es übersät war.

Der Mörder hatte es vermutlich aus einer Broschüre oder einem Reiseführer über die Baden-Badener Trinkhallen-Sagen ausgeschnitten. Es zeigte eines der vierzehn Wandgemälde. Dieses stellte die Geschichte von Burkhart dar, der sich im Wald von einer geheimnisvollen Frau verführen ließ, die ihm dann mit einem Kuss das Leben aussaugte. Das Ganze geschah an einer Stelle, an der in früheren Zeiten den Göttern Opfer dargebracht wurden.

Es fühlte sich an, als hätte sie der Täter geohrfeigt und mit den Worten »Was bildet ihr euch ein? Dass ich einfach so verschwinde?« verspottet.

Selbst das Opfer schien sie zu verhöhnen. Seine Lippen waren herausgeschnitten worden und das zerfranste Fleisch gab den Blick auf die Zähne des Mannes frei. Diese waren vom Blut verfärbt und ließen das geschändete Gesicht erscheinen, als wäre es zu einem boshaften Grinsen verzogen.

»Kann man ihn nicht endlich da rausholen?«, riss ihn Frank Dorthal aus seinen Gedanken.

»Ich denke, ich habe genug gesehen, ich warte die Berichte ab und …« Heerse sah ernst in die Gesichter der Polizisten vor Ort. »… kein Wort über die Einzelheiten nach draußen, zu niemandem!«

Auf dem Weg zurück zum Präsidium sprachen die Männer nicht. Es gab nichts zu sagen. Die Morde würden weitergehen, bis alle vierzehn Trinkhallen-Sagen ein Opfer gefunden hatten. Und dann? Neun Mal hatte Heerse versagt, an etwas anderes konnte er im Augenblick nicht denken.

 

* * *

 

An diesem Abend schickte er Müller und Dorthal gegen zweiundzwanzig Uhr nach Hause und setzte sich selbst mit einem Becher Kaffee an seinen Schreibtisch. Um ihn herum türmten sich die Akten und Berichte der Morde und die Protokolle der diversen Zeugenaussagen. An der Wand hingen die Bilder der Opfer. Der Hauptkommissar hatte das Gefühl, er säße vor ihnen auf der Anklagebank.

Der letzte Tote, Josef Bauer, war mit dem Messer ermordet worden, das ihm der Täter in die Brust gerammt hatte. Die schmale, scharfe Klinge war vom Mörder wie ein chirurgisches Gerät zum Abtrennen der Lippen benutzt worden. Für ihren Täter waren die Lippen des Opfers das Symbol für den tödlichen Kuss aus der Sage. Das Messer selbst wies keine weiteren Besonderheiten auf.

Heerse las noch einmal die Zeugenaussagen des Ehepaars Kalmer. Die beiden hatten nichts bemerkt und auch niemanden gesehen. Als gegen Mitternacht Heerses Frau Petra anrief, wimmelte er sie kurz angebunden ab. Verbissen suchte er nach Antworten.