Kapitel 9
»Danach fragt keiner, wie viel Blut es kostet.«
Michelangelo (1475-1564)
Heute war endlich wieder der Abend des Zufalls. Das Beil streifte voller Ungeduld durch die Baden-Badener Innenstadt. Es schien, als wäre niemand erschreckt, niemand ängstlich. Das Leben ging einfach weiter, trotz der gesendeten Botschaften. Aber das war gut so, denn das Beil brauchte einen neuen Gehilfen.
Das laute Gegröle der angetrunkenen Gäste war bis auf die Straße zu hören. Das Lokal platzte aus allen Nähten, ein großartiger Ort für die Jagd. Eine Verkleidung war heute nicht nötig. In dem düsteren Gewimmel blieb ein fremdes Gesicht kaum in Erinnerung. Das Beil drängte in die Menge und konnte es kaum erwarten, sich seiner Kunst zu widmen. Wie hilflose Schafe standen sie an der Bar, so als warteten sie nur auf den Augenblick, an dem sie zur Schlachtbank geführt wurden.
* * *
Völlig unbekleidet stand er da, grinste anzüglich und schwitzte wie ein Schwein. Seine Worte waren nichts anderes als geiles Gegrunze. Er lachte lüstern beim Anblick des durchsichtigen Plastikanzugs und glotzte gierig auf den nackten Körper, den er umhüllte. In seiner schmutzigen Fantasie malte er sich aus, wie er gleich auf seine Kosten käme. Durch die Schläge mit der Reitgerte auf seinen wabbeligen Hintern hatte er bereits eine Erektion. Der Schmerz törnte ihn an. Als er nun auf allen vieren geifernd vor Lust auf dem Boden kniete, hörten die Schläge auf. Seine weiße Haut glänzte fettig, die schmierigen Haare hingen ihm unappetitlich ins Gesicht.
»Mehr, mehr«, hechelte er mit starkem Akzent. Noch einmal hinterließ die Gerte rote Striemen auf dem bleichen, massigen Leib. Als er die Worte »Ich habe eine Überraschung für dich« vernahm, steigerte sich seine widerliche Geilheit ins Unermessliche.
Endlich war es so weit. Das Beil empfand eine seltsame Genugtuung, als seine Schneide durch die Schädeldecke drang. Es knirschte wunderschön. Genauso wie eine dicke weiße Schneedecke in der Wintersonne, über die man am Weihnachtsmorgen langsam mit den neuen Stiefeln stapfte. Das Beil holte erneut aus und genoss das Konzert der splitternden Knochen. Das Blut spritzte auf den Plastikanzug und hinterließ ein kunstvolles Muster. Zu schade, dass er nachher entsorgt werden musste. Obwohl der fette Koloss bereits in seinem eigenen Blut schwamm, konnte sich das Beil nicht zügeln. Noch ein paar Sekunden wollte es die schmatzenden Geräusche, die beim Zerhacken des fetten Gewebes entstanden, genießen, dann hieß es innehalten. Die Botschaft war auch so schon eindeutig, aber der Empfänger sollte nicht durch Fantasielosigkeit enttäuscht werden.
»So viel mehr hast du sicher nicht erwartet?«, äffte nun eine Stimme den ausländischen Akzent des Toten nach. Alles war perfekt, das Beil hatte seine Arbeit getan.
* * *
Rolf Heerse hatte einen langen Tag gehabt. Weitere Berichte waren eingegangen, vieles aus den medizinischen Laboren. Leider war auch dieses Mal keine heiße Spur dabei. Nun hatte der Hauptkommissar noch einen schweren Gang vor sich.
Als Heerse an der Wohnungstür von Lukas Bürg klingelte, öffnete ihm niemand.
Er versuchte es erneut und fing an, unruhig zu werden. Martin Grunder, der Lukas überwachte, hatte ihm bestätigt, dass der junge Kommissar das Haus nicht verlassen hatte. In der Wohnung brannte Licht – der Hauptkommissar war alarmiert. Warum schloss Lukas nicht auf? Sein Hämmern gegen die Tür blieb natürlich nicht unbemerkt. Schon blickte jemand neugierig aus der Nachbarwohnung.
»Was wollen Sie denn von dem jungen Bürg?« Eine kleine alte Dame trat in den Hausgang und sah den Hauptkommissar herausfordernd an. Trotz ihres hohen Alters waren ihre Augen klar und funkelten nun ungehalten in Heerses Richtung.
Eigentümlicherweise fühlte sich der Hauptkommissar ertappt wie ein Schuljunge und stotterte, bis er die richtigen Worte fand. »Ich bin ein Kollege von Herrn Bürg. Er erwartet mich, macht aber nicht auf ...« Während er sprach, hatte er seinen Dienstausweis aus der Tasche gezogen und hielt ihn der Frau hin, die ihn studierte, als würde sie vor einem kniffeligen Kreuzworträtsel sitzen.
Endlich sagte sie: »Scheint wohl in Ordnung. Warten Sie, ich mache Ihnen auf.«
Heerse sah ihr verdutzt hinterher, wie sie kurz in ihrer Wohnung verschwand und dann mit einem klappernden Schlüsselbund zurückkehrte.
»Ich habe einen Zweitschlüssel von Lukas. So ein netter Junge. Er hört wahrscheinlich Musik.«
Sie bemerkte Heerses zweifelnden Gesichtsausdruck und fügte etwas schnippisch hinzu: »Natürlich mit Kopfhörern. Deshalb können wir ihn nicht hören, und er hat keine Ahnung von Ihrem hysterischen Geklopfe. Kapiert?«
Heerse hoffte, die Frau hätte recht, und war froh, als sie endlich den passenden Schlüssel gefunden hatte.
»Lukas?«, rief er beim Eintreten – die Nachbarin ließ er mit einem Dankeschön draußen stehen und zog hinter sich schnell die Tür zu.
»Lukas?«
Heerse nährte sich dem Wohnzimmer und sah den Hinterkopf seines Mitarbeiters, der unbeweglich in einem Sessel saß.
Er trat näher und starrte für einen Moment fassungslos auf den kleinen Tisch neben dem jungen Polizisten, dessen Augen fest geschlossen waren. Auf der Glasplatte stand eine halb leere Whiskyflasche mit Glas, daneben ein Röhrchen Tabletten und unter Lukas‘ Brieftasche lag ein beschriebenes Blatt Papier.
Dem Hauptkommissar wurde es heiß und kalt. Wie gelähmt, als wäre er nur ein Zuschauer in einem Theaterstück, versuchte er die Szene zu begreifen. Durch die Kopfhörer drang leise Musik an seine Ohren. Heerse blinzelte, als könnte er sich damit zurück ins Hier und Jetzt holen, und reagierte.
Grob griff er mit beiden Händen nach Lukas‘ Schultern und fing an, ihn heftig zu schütteln, während er gleichzeitig dessen Namen rief.
Keine Sekunde später fielen ihm die Kopfhörer ein, doch noch bevor er danach greifen konnte, schrak Lukas mit einem panischen Aufschrei hoch.
Gott sei Dank, er lebt, war alles, was Heerse durch den Kopf ging. Dann erst wurde ihm die Absurdität der Situation bewusst.
Lukas starrte seinen Chef wie ein verschrecktes Eichhörnchen an. »Verflucht noch mal, ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen!«, rief er atemlos, »wie bist du überhaupt hereingekommen?«
»Nachbarin«, antwortete Heerse einsilbig.
»Herrgott«, fluchte Lukas erneut und nahm einen Schluck von dem Whisky. »Auch einen?«, nuschelte er in die Richtung seines Vorgesetzten, der zustimmend nickte.
Als Lukas aufstand, um ein Glas zu holen, nutzte Heerse die Gelegenheit und griff nach dem Röhrchen. Erleichtert stellte er fest, dass es sich um einfachen Baldrian handelte.
Lukas, der nicht mehr ganz nüchtern war, hatte seinen Chef beobachtet.
»Ich bin zwar ein Vollidiot und habe meine Zukunft als Polizist in den Sand gesetzt, aber ein Selbstmörder bin ich noch nicht. Diese Genugtuung würde ich meiner Mutter niemals gönnen.«
Der Hauptkommissar beobachtete den jungen Mann mit scharfem Blick. Ihm entging nicht, dass er zitternde Hände und rot geäderte Augen hatte.
Als sie sich nun gegenübersaßen, griff Lukas umständlich nach dem Blatt Papier auf dem Tisch und reichte es Heerse.
»Sind zwar nicht meine letzten Worte, aber meine Alibis für die Morde.« Er räusperte sich und versuchte seine vom Alkohol schwere Zunge in den Griff zu bekommen. »Entweder hatte ich Dienst oder war bei Mandy. Bei dem Doppelmord war ich mit dir in Hamburg. Für den Mord an Sina Wieser habe ich kein Alibi, ich war zu Hause. Vielleicht hat mich meine Nachbarin gehört.« Lukas nippte an seinem Glas und schwieg.
Heerse stand auf und griff nach seinem Handy. Ohne sich die Mühe zu machen, das Gespräch vor Lukas geheim zu halten, ließ er sich mit einem Beamten verbinden und bat diesen, die angegebenen Daten von Lukas mit den gespeicherten Dienstplänen zu vergleichen. Erleichtert hörte er die Bestätigung des Kollegen.
Lukas sah nicht auf und verzog auch keine Miene.
»Ich wusste gar nicht, dass du eine Freundin hast«, sagte Heerse, bemüht, dem Gespräch so viel Normalität wie möglich zu geben.
»Nutte!«
»Wie bitte?«
»Sie ist eine Nutte, eine Prostituierte. Mehr Freundin bekomme ich nicht hin.«
Heerse war verblüfft, kommentierte das eben Gehörte aber nicht, sondern fragte nach der Adresse. Dann griff er erneut zum Hörer.
Martin Grunder war über die neue Bitte seines Freundes fast amüsiert.
»Du schickst mich zu einer Zeugenbefragung? Und das mitten in der Nacht?«
Als Heerse sich dafür entschuldigen wollte, unterbrach ihn Grunder und fragte lediglich: »Wo wohnt die Dame?«
Lukas starrte jetzt trotzig vor sich hin und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.
»O. k.«, begann Heerse das Gespräch, »gehen wir davon aus, dass du weder von Lohberg decken willst, noch irgendwas mit den Morden zu tun hast. Dann bitte«, seine Stimme war jetzt fast flehentlich, »erkläre mir, warum, in drei Teufels Namen, bist du nicht zu diesem Lebensgefährten und hast dessen Aussage aufgenommen?«
»Wenn dieser Oliver gesagt hätte, er wäre zu Hause gewesen, anstatt im Krankenhaus, dann hätten wir das mit der Klinik vielleicht auch erst aus der Presse erfahren. Was für einen Unterschied macht das also?«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Heerse wurde ungehalten. »Ich brauche dir kaum zu erklären, dass es einen himmelgroßen Unterschied macht, ob uns ein Zeuge anlügt, und wir das nicht merken, oder ob ein Kommissar die Vernehmung eines wichtigen Zeugen einfach nicht durchführt und behauptet, er hätte es getan. Und zu deiner Information, ich gehe davon aus, dass der Lebensgefährte die Wahrheit gesagt hätte. Uns, aber auch von Lohberg wäre dann vielleicht einiges erspart geblieben. Also, warum hast du das getan?«
Lukas sah Heerse immer noch nicht an, woraufhin der Hauptkommissar die Geduld verlor. »Noch habe ich die Angelegenheit unter Verschluss gehalten, aber wenn du mir nicht sofort sagst, was hier los ist, dann nehmen wir den Dienstweg. Nun, um was geht es? Geld, Drogen, Erpressung, Korruption?«
Heerse wollte noch mehr aufzählen, aber Lukas unterbrach ihn: »Mein Vater.«
»Sag mir jetzt nicht, Theo von Lohberg ist dein Vater ...«, rief Heerse ungläubig.
Lukas schüttelte traurig den Kopf.
»Nein, aber so ähnlich.«
Heerse stöhnte: »Los, fang endlich an zu erzählen!«
* * *
Man musste einen Blick für den richtigen Gehilfen und ein gutes Timing haben. Schon stand das Beil wieder im Freien, abseits der Laternen und des Trubels. Dieser »Spielplatz« war perfekt gewesen und, welch ein Zufall, nicht einmal verschlossen.
Oh, diese Typen waren alle so naiv. Ein paar Versprechungen und schon konnten sie nicht widerstehen. Und der fette Kerl mit seinen besonderen Vorlieben war genau der Richtige gewesen. Ein vergnügtes Lachen erklang in der Dunkelheit. Das Beil hatte die Hälfte der Arbeit erledigt. Eigentlich wäre das ein Grund zum Feiern, wenn es da nicht diese Blindheit gäbe, mit der alle geschlagen waren. Wann würde der Empfänger die Botschaften erkennen? Wann käme das Begreifen? Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, das Risiko zu erhöhen, damit der Verrat endlich aufgedeckt werden konnte.
* * *
»Lukas!«, die Stimme des Hauptkommissars war bestimmt.
Der junge Mann kämpfte mit sich. Die Scham, die er empfand, fraß ihn beinahe auf. Es auszusprechen, würde die Sache nur noch schlimmer werden lassen. Heerse würde über ihn lachen, ihn sogar verachten und als Versager beschimpfen, so wie es seine Mutter getan hatte.
»Ich habe verkommenes Blut«, flüsterte Lukas leise.
Heerse rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Mit so einer Aussage hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Abgesehen davon konnte er sich keinen Reim auf diese Worte machen, deshalb schwieg er und wartete auf weitere Erklärungen.
»Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte verkommenes Blut. Mein Vater ...« Lukas räusperte sich. Es war offensichtlich, dass er mit den Tränen kämpfte. »Mein Vater hat es verdorben.«
Rolf Heerse schnaubte laut und fragte sich, was ihm Lukas damit sagen wollte. Vielleicht ging es um eine Erbkrankheit? Aber damit hätte er wahrscheinlich nicht die Einstellungstests der Polizei geschafft. Der Hauptkommissar war ratlos und blickte mit einer Mischung aus Sorge und Mitleid zu seinem Mitarbeiter.
»Ich habe versucht, alles richtig zu machen«, brach es jetzt aus Lukas Bürg heraus. »Ich habe es doch versucht!«, schrie er noch einmal laut, dann sackte er in sich zusammen und weinte wie ein kleines Kind.
Rolf Heerse wünschte sich, er wäre nicht alleine hier. Die Verzweiflung des jungen Mannes berührte ihn schmerzlich; etwas linkisch legte er Lukas seine Hand auf die Schulter und drückte sie fest.
Jedoch dachte er auch daran, dass er die Wahrheit erfahren musste, und versuchte in einem ruhigen Ton, das Gespräch fortzuführen. »Ich bin mir sicher, dass du dein Bestes gegeben hast«, begann Heerse freundlich. »Wie genau hat denn dein Vater das Blut verdorben?«
Lukas blickte seinen Vorgesetzten unsicher an, dann wandte er den Blick ab und begann endlich zu erzählen: »Ich war noch sehr klein, als mein Vater uns verließ. Den Abend, als er meiner Mutter sagte, er würde für immer gehen, werde ich nie vergessen. Es war, als hätte man ihr die Nachricht seines Todes überbracht. Sie hat geschrien, geweint und gebettelt.«
»Trennungen sind für den, der zurückbleibt, immer schmerzhaft«, warf Heerse verständnisvoll ein.
Aber Lukas schüttelte langsam den Kopf. »Das war es nicht allein. Mein Vater ist nicht einfach nur gegangen.« Der junge Kommissar atmete tief durch, dann sagte er mit so viel Ruhe, wie er aufbringen konnte: »Er hatte auch einen neuen Partner.«
»Das macht die Sache natürlich noch schwerer«, warf Heerse ein, der offensichtlich nicht zu verstehen schien.
Lukas Züge veränderten sich und ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich meine das ganz wörtlich, er hatte einen neuen Partner«, und als er sah, dass sein Gegenüber die Situation immer noch nicht erfasste, fügte er hinzu, »Partner, nicht Partnerin.«
Heerse begriff endlich, was Lukas ihm die ganze Zeit sagen wollte, und ärgerte sich über die eigene Schwerfälligkeit. Jetzt fing das Ganze an, einen Sinn zu ergeben.
»Dein Vater ist also homosexuell?«
»Ja, er war schwul. Er lebt nicht mehr.«
»Das tut mir leid.«
»Was genau? Dass er schwul war oder nicht mehr lebt?«, rief Lukas nun zornig.
»Herrgott, Lukas«, entgegnete Heerse schroff, »natürlich das Letztere. Homosexuell zu sein, ist doch kein Verbrechen.«
»Das hat meine Mutter aber anders gesehen!«, kam es giftig aus dem Mund des jungen Kommissars.
»Über was reden wir hier? Hast du einen Hass auf Schwule, konntest du deshalb nicht mit dem Partner von Theo von Lohberg sprechen? Meine Güte, wir leben im 21. Jahrhundert.«
»Ich habe keinen Hass«, antwortete Lukas heftig, »ich habe Angst.«
»Angst?«
»Ich habe Angst, eines Tages so wie mein Vater zu sein. Ich habe eine Heidenangst davor.«
»Aber, Lukas, das ist doch Unsinn. Homosexualität ist doch nichts, wovor man Angst haben muss. Jeder ist, wie er ist. Und vererben lässt sich die geschlechtliche Ausrichtung schon drei Mal nicht.«
Lukas schluchzte wieder. »Ich weiß das alles, ich sage mir das jeden Tag. Ich habe Dutzende von Büchern zu dem Thema gelesen und kenne alle Internetseiten auswendig und trotzdem ... Ich werde das nicht los.«
Er dachte an seine Mutter und ihre Warnungen. An den Drang, den er seit seines Erwachsenenlebens verspürte, sich ständig zu beweisen, dass er nicht wie sein Vater war. An seine Besuche bei Mandy, die ihn beschämten, ohne die er aber nie zur Ruhe kommen würde.
»Bist du denn homosexuell?«, fragte Heerse nun ganz direkt.
»Nein!«, stieß Lukas hervor und flüsterte dann leise: »Jedenfalls noch nicht.«
Heerse atmete zweimal tief ein und aus. Gerne hätte er seiner Meinung über Lukas Bürgs Mutter Luft gemacht. Ihm fiel Marion Dorthal und deren Vater ein. Was taten manche Menschen ihren Kindern nur an.
»Hast du schon einmal daran gedacht, mit jemandem darüber zu sprechen? Ich meine einen Profi?«
Lukas lachte verächtlich. »Damit ich als psychisch Kranker in den Datenbanken lande? Du solltest mal mit Leuten sprechen, die sich psychiatrisch haben behandeln lassen. Die bekommen nicht einmal mehr eine Hausratversicherung.«
Heerse hielt das für eine maßlose Übertreibung, wollte aber keinesfalls eine Diskussion darüber anfangen. Er wusste aus seinem beruflichen Alltag, dass die meisten Menschen immer noch Hemmungen und Vorurteile hatten, wenn es darum ging, einen »Seelendoktor« aufzusuchen. Das galt auch heute noch als Schwäche, daher litt man lieber still vor sich hin.
Heerse wurde durch das Klingeln des Handys aus seinen Gedanken gerissen. Martin Grunder meldete sich zurück. Er war bei Mandy gewesen, die Lukas‘ Alibis bestätigt hatte. Heerse fühlte die Erleichterung. Wie es schien, hatte die Pflichtverletzung des jungen Kommissars nichts mit dem Fall selbst zu tun. Trotzdem konnte er das natürlich nicht einfach übergehen.
»Du hast es also nicht fertiggebracht, mit einem homosexuellen Zeugen zu sprechen?«, fuhr er deshalb ernst fort.
»Ich wollte hingehen, ich war sogar einmal bei Nacht dort. Schließlich habe ich es immer weiter herausgeschoben und dann ...«
Heerse war ein wenig ratlos, als er den jungen Kollegen betrachtete.
»Ich habe mich da reingesteigert. Es tut mir entsetzlich leid. Ich wollte dich nicht enttäuschen. Aus dem gleichen Grund habe ich auch die Stelle in Hamburg nicht annehmen können. Mein Vater hat dort bis zu seinem Tod gelebt, das war mir einfach zu ...« Der junge Mann brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern.
Heerse hätte gute Lust gehabt, sich einfach neben Lukas zu setzen und ebenfalls den Kopf in den Sand zu stecken. Der Fall machte ihn fertig, seit Wochen hatte er kein Privatleben mehr, sein Oberkommissar Dorthal vermutlich Eheprobleme und sein jüngster Mitarbeiter litt an einer Homosexuellen-Paranoia. Es konnte kaum schlimmer werden.
Er riss sich zusammen und fällte eine Entscheidung. »Du wirst vorläufig zu Hause bleiben. Das heißt, du wirst deine Wohnung nicht verlassen, bis auf eine Ausnahme.« Rolf Heerse durchsuchte umständlich seine Taschen und zog eine verknitterte Visitenkarte heraus. »Dort wirst du hingehen. Ich werde das in die Wege leiten.«
Lukas blickte seinen Vorgesetzten mit großen Augen an. Aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr dieser in strengem Ton fort: »Du wirst dich behandeln lassen, regelmäßig, und alle ärztlichen Anweisungen befolgen. Ich werde das überprüfen. Das ist deine letzte Chance. Davon wird es keine Wiederholung geben. Ein Fehler, und du bist raus.« Seine Augen fixierten den jungen Mann, der nun schwer schluckte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich mache alles, versprochen, ich ...« Lukas Bürg weinte, dieses Mal vor Erleichterung. »Vielen Dank, das werde ich dir nie vergessen!«
Rolf Heerse entgegnete etwas Undefinierbares und verließ kurz darauf die Wohnung.
Als er wieder auf der Straße war und zu Martin Grunder ins Fahrzeug stieg, stöhnte er vernehmlich.
»Was macht die drohende Arbeitslosigkeit?«, fragte ihn sein alter Kollege mit einem belustigten Unterton.
»Wächst und gedeiht«, gab Heerse müde zurück.
»Du bist viel zu weich für den Job.«
»Ja, das habe ich von dir gelernt.«
Daraufhin folgte ein herzhaftes Lachen von Martin.
»Ich kann dem Jungen doch nicht wegen einer Dummheit das Leben versauen!«, stieß Heerse voller Überzeugung hervor.
»Ist er denn ein guter Polizist?«
»Ja, das ist er. Und ein noch besserer Mensch.«
Eine Zeit lang schwiegen die Freunde, dann sagte Grunder: »Geh nach Hause und schlaf dich aus. Ich bleibe hier, solange du mich brauchst.«
Heerse machte sich mit gemischten Gefühlen auf den Heimweg. Hoffentlich hatte er die richtige Entscheidung getroffen.
Wohnung Marion und Frank Dorthal, am nächsten Morgen
Frank war am Vorabend spät nach Hause gekommen. Das war seit einigen Wochen fast täglich so – eigentlich, seit diese Morde begonnen hatten. Manchmal kam er erst weit nach Mitternacht, und wenn er früher Dienstschluss hatte, dann war er oft unruhig und machte noch einen »Nachtspaziergang mit Zigarre«, wie er es gerne ausdrückte. Er hatte sich offensichtlich noch niemals gefragt, was Marion in dieser Zeit tat. Er nahm es einfach als selbstverständlich hin, dass sie zu Hause im Bett lag.
Marion hatte sich gestern Nacht schlafend gestellt und nicht reagiert, als er ihr zärtlich über die Wange gestreichelt hatte.
Jetzt, am Morgen, hielt sie die Augen geschlossen und lauschte den vertrauten Geräuschen. Frank war bereits in der Küche und schaltete gerade die Cappuccino-Maschine ein. Marion würde erst aufstehen, wenn er zur Arbeit gegangen wäre. Noch konnte sie ihm nicht gegenübertreten, dafür hatte er sie zu sehr verletzt.
Endlich bewegte sich ihr Ehemann durch den Gang, griff nach seinem Schlüsselbund und verließ die Wohnung. Die junge Frau war darüber erleichtert.
Was war nur mit ihnen geschehen? Zu Anfang hatte sie ihn gar nicht gehen lassen wollen. Jede Minute ohne Frank schien ihr verlorene Zeit. Und heute? Vielleicht war sie doch zu empfindlich gewesen und hätte ihm verzeihen müssen. War es gerecht, Frank die Schuld zu geben? Er hatte dafür gesorgt, dass all diese schlimmen Gefühle wieder in ihr hochgekommen waren. Diese Gefühle, die das Blut heiß werden ließen, die es verdarben. Oder war sie einfach doch nur unfähig, dankbar für das zu sein, was sie hatte? Das war ein Vorwurf ihres Vaters gewesen. Sollte das stimmen?
Lustlos und in düsterer Stimmung schwang sie sich aus dem Bett. In der Küche stand ein wunderschöner Strauß roter Rosen mit einer Karte. In gerader Handschrift hatte Frank ein »Verzeih mir« darauf geschrieben. Es war ihr kein Trost, deshalb schob sie die Vase beiseite und ging ins Bad.
Keine Stunde später klingelte es an der Haustür. Als Karina hereingestürmt kam und ihr sofort mit einem lauten Schluchzen um den Hals fiel, rechnete Marion mit dem Schlimmsten.
»Um Gottes willen, Karina! Was ist denn passiert?«
»Er!«, antwortete die Schwägerin hitzig und löste sich aus der Umarmung.
»Er, er, er!«, stieß sie wütend hervor, »er ist vor ein paar Tagen wieder aufgetaucht, hat mich angerufen, kam zu mir in die Wohnung und wir hatten Sex.«
Marion war eigentlich nicht in der Stimmung für ein solches Gespräch, sie hatte momentan selbst genug Probleme. Andererseits konnte sie die arme Karina, die immerhin die einstündige Fahrt von Pforzheim nach Baden-Baden auf sich genommen hatte, schlecht abweisen, deshalb sagte sie: »Komm, ich mache uns erst einmal einen Kaffee.«
Karina, die heute ein luftiges Sommerkleid trug und mit einem passenden Haarband ihre dunkle Mähne gebändigt hatte, sah aus wie ein junges, verletzliches Mädchen. Neugierig betrachtete sie die Vase mit den roten Rosen; als Marion nicht hinsah, griff sie heimlich nach der Karte.
Mit einer gewissen Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, dass in Franks Ehe nicht nur eitler Sonnenschein herrschte.
»Also, wer ist bei dir aufgetaucht? Der Mann, wegen dem du dich mit Frank überworfen hast?«, griff Marion das Thema wieder auf, nachdem sie sich und ihrem Gast ein dampfendes Glas Latte macchiato vor die Nase gestellt hatte.
»Frank hat sich mit mir überworfen«, antwortete Karina scharf.
»Schon gut«, lenkte Marion ein, »also wie heißt er überhaupt?«
»Ich nenne ihn nicht beim Namen, denn wenn ich das tue, dann wird alles real.«
Marion sah verblüfft zu ihrer Schwägerin. »Wie meinst du das?«
»Ich bilde mir ein, dass es leichter für mich ist, wenn ich niemanden seinen Namen sage. Dann fühlt sich mein Unglück manchmal nur wie ein böser Traum an.«
Marion war zu müde, um zu widersprechen. Sie wusste aus ureigener Erfahrung, dass solche kleinen Tricks kein Unglück abwenden konnten.
Karina sprang nun auf und lief in der Küche hin und her. Die Tränen waren versiegt und ihre Worte wurden von Wut beherrscht.
»Er rief mich an und kam in meine Wohnung. Ich wusste genau, was er von mir wollte. Und er bekam alles.« Sie lachte bitter auf und entblößte ihre linke Brust.
»Oh Gott, er hat dich verletzt?«, rief Marion entsetzt.
Karina wurde ruhiger und lächelte jetzt sogar. »Nein, du Dummchen, er hat mich gebissen, vor Lust, vor Gier. Er war so scharf auf mich, dass wir es immer und immer wieder miteinander getrieben haben. Er konnte gar nicht genug von mir bekommen. Er hat mich wund geritten, dieses Schwein.«
»Dieser Mistkerl hat dich missbraucht?«, stotterte Marion schockiert.
»Na ja …« Karina schien über die Formulierung nachzudenken. »Wahrscheinlich schon, aber eben auf diese bestimmte Weise. Die, die mir besonders gut gefällt.«
Sie sah Marions entsetztes Gesicht und sagte beinahe grausam: »Schon klar, du stehst nur auf diese Blümchensex-Nummer, aber für mich muss es bei der Liebe eben um alles gehen.«
»Mir geht es bei der Liebe auch um alles«, antwortete Marion ein wenig verletzt.
»Ja, aber dazu gehört auch die körperliche Liebe, die Lust, der Schmerz, eben alles.«
Marion dachte an Franks Vorlieben und fühlte sich bei Karinas freizügigen Worten wieder einmal klein und verklemmt.
»Jedenfalls haben wir uns geliebt wie wilde Tiere und dann ...« Jetzt änderte sich Karinas gesamtes Verhalten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie setzte sich wie ein Häufchen Elend auf den Stuhl. Schluchzend folgten die Worte: »Er hat gesagt, es sei ein Fehler gewesen, und ist einfach gegangen. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Marion empfand tiefes Mitleid. Wie hatte sich Karina auch so ausnutzen lassen können?
»Warum hast du ihn überhaupt in deine Wohnung gelassen?«
»Weil ich ihn liebe!«, stieß Karina mit einem irren Blick hervor. »Ich liebe ihn mehr als mein Leben. Vielleicht sollte ich mit seiner Frau reden?« Den letzten Satz sagte sie mit einer Gehässigkeit, die Marion erschreckte.
»Du hältst mich für unmoralisch, für verkommen, nicht wahr?«, reagierte sie auf den vorwurfsvollen Blick ihrer Schwägerin. »Frank denkt genauso über mich!«
»Das ist nicht wahr«, wies Marion den Vorwurf zurück, »und auch Frank hat sicher keine schlechte Meinung von dir. Aber wenn dieser Mann die Beziehung eigentlich gar nicht will, was macht das dann überhaupt für einen Sinn?«
»Blödsinn! Er will die Beziehung, er hat nur Angst davor.«
»Aber warum sollte er Angst haben?«
»Weil unsere Liebe so intensiv ist, dass es manchmal zur Qual wird.«
»Karina, das ist doch nicht gesund!«
»Ach, ist es das nicht?«, rief Franks Schwester nun aufgebracht. »Ich finde es immer noch gesünder, als eine Lüge zu leben.« Dann fügte sie noch ein bösartiges »Frag dich das doch einmal selber« an.
Marion wurde knallrot und Karina bemerkte, dass sie zu weit gegangen war. »So habe ich das nicht gemeint, tut mir leid«, stammelte sie kleinlaut. »Ich habe die Rosen und die ›Verzeih mir‹-Karte gesehen und da dachte ich ...«
Marions Augen brannten, doch sie hielt die Tränen zurück. »Jede Liebe hat auch Momente der Qual. So ist das eben.«
Karina blickte stumm zu ihrer Schwägerin, dann sagte sie unvermittelt und gut gelaunt: »Lass uns einen Einkaufbummel machen, das ist die beste Medizin gegen Liebeskummer.«
Marion willigte ein, obwohl sie die Stimmungsschwankungen von Franks Schwester verunsicherten. Allerdings war es auch schon lange her, dass sie mit einer Freundin einen unbeschwerten Tag genossen hatte.